Wie, von wem und auf welcher Ebene werden Entscheidungen getroffen? Diese Fragen sind zentral für die Lösung vieler Blockaden in der Kirche. Die Katholische Kirche Schweiz hat dies in ihrer Synode 72 erkannt und bearbeitet. Daniel Kosch, über lange Jahre ein prägendes Gesicht dieser Kirche, erinnert daran – an Missverständnisse und falsche Erwartungen (Teil I), und er macht auf dieser Basis konkrete Vorschläge (Teil II, folgt in Kürze).
Inspiriert vom Kirchenverständnis des 2. Vatikanischen Konzils und von gesellschaftlichen Aufbrüchen zur Überwindung autoritärer Strukturen hat sich die Synode 72 der Schweizer Katholischen Kirche zur Mitverantwortung aller in der Kirche bekannt. Die entsprechenden Texte sind heute noch lesenswert. Sie betonen sowohl die individuellen Mitwirkungsrechte als auch die Notwendigkeit entsprechender struktureller Rahmenbedingungen. Zugleich anerkennen sie die besondere Rolle der Amtsträger.
Zentrale Forderungen der Synode 72
Besonders prägnant formuliert der Synodentext «Kirchlicher Dienst/Planung der Seelsorge in der Schweiz» des Bistums St. Gallen die Anliegen [1]: «Gläubige haben […] das Recht und die Pflicht zur Mitsprache, zur Initiative, an Entscheidungen teilzunehmen und ihre Verwirklichung mitzutragen. Mitsprache ist als Mitwirkung an Entscheidungsprozessen zu verstehen.» (5.3) «Um die Mitverantwortung aller und jedes einzelnen wie auch den Sinn für Solidarität für alle zu ermöglichen und zu fördern, benötigt die Kirche auf allen Ebenen entsprechende Organe und Institutionen.» (5.5) «Mitverantwortung ruft nach Mitentscheidung. Dies schliesst nicht aus, dass die letzte Entscheidung bei denen bleibt, denen Christus die Leitung der Kirche aufgetragen hat.» (5.6)
Bis heute herrschen ein pyramidales Kirchenbild und eine klerikale Kultur
Das Amts- und Leitungsverständnis, das Kirchenrecht und das Selbstverständnis vieler geweihter Amtsträger sind jedoch bis heute von einem pyramidalen und hierarchischen Kirchenbild sowie von einer klerikalen Kultur geprägt. Gleichzeitig sind wir heute viel stärker als vor 50 Jahren für die universale Geltung der Menschenrechte, für Geschlechtergerechtigkeit und Nichtdiskriminierung sensibilisiert. Entsprechend erleben viele kirchlich Engagierte, vor allem Frauen, es als widersprüchlich, sich für das Evangelium von der universalen Menschenliebe Gottes und für Gerechtigkeit einzusetzen, und gleichzeitig ein kirchliches System mitzutragen, das diese Botschaft zwar verkündet, aber in ihren Leitungsstrukturen systematisch verrät.
Zudem ist uns heute bewusst, dass der Machtmissbrauch in Form sexualisierter und spiritualisierter Gewalt und seine Vertuschung in der katholischen Kirche systemische Ursachen haben und auf fehlender Teilung, Beschränkung und Kontrolle von Macht beruhen. Die Kirche wird diese Missstände nur überwinden können, wenn sie die strukturellen Ursachen des Unrechts beseitigt. Denn die fehlende Partizipation ist «ein Hindernis, das Evangelium überhaupt zu entdecken». Deshalb erleben wir eine Krise der Glaubensvermittlung, eine Krise, die durch die Vorherrschaft eines klerikal-institutionellen Kirchenmodells verursacht wird»[2].
Evangelium, Zeichen der Zeit und Krise der Kirche erfordern eine tiefgreifende Umkehr
Darum bin ich mit vielen anderen überzeugt, dass das Evangelium, die Zeichen der Zeit und die tiefe Krise der Kirche, die ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Zukunftsfähigkeit bedroht, eine tiefgreifende Umkehr erfordern. Mitverantwortung und Mitentscheidung, Geschlechtergerechtigkeit, Kontrolle und Begrenzung von Macht sowie die Überwindung des Klerikalismus und der Zwei-Stände-Kirche sind nicht Forderungen zeitgeistiger Reformer, sondern entsprechen dem Willen Gottes. Die Kirche würde nicht ihr Wesen verraten, sondern könnte ihrem Auftrag besser entsprechen, wenn sie sich ein Kirchenrecht sowie Leitungsstrukturen gäbe, welche sich an der Botschaft des Evangeliums und ihren synodalen Traditionen orientieren, und zugleich an den Errungenschaften von Demokratie, Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahren Mass nehmen.
Drei Missverständnisse, die mit Reformforderungen oft einhergehen
Trotz dieser Überzeugung möchte ich auf drei Missverständnisse hinweisen, die oft mit solchen Reformforderungen einher gehen.
Ein erstes Missverständnis besteht in der oft unausgesprochenen Erwartung, Strukturreformen könnten eine Trendumkehr bewirken und die wachsende Kirchendistanzierung aufhalten. Das wäre selbstverständlich schön, aber meines Erachtens ist der Weg der grossen Kirchen in eine Minderheitssituation in unseren Breitengraden primär gesellschaftlichen Megatrends geschuldet und kann von den Kirchen selbst nur wenig beeinflusst werden. Das spricht allerdings nicht gegen Reformen – denn sie würden uns zu einer fröhlicheren Minderheit machen und es der Kirche ersparen, sich permanent an inneren Widersprüchen und selbstverschuldeten Glaubwürdigkeitskrisen abzuarbeiten.
Ein zweites Missverständnis besteht in der Vorstellung, ein klar geführter Reformprozess könnte innert nützlicher Frist zu einer «Lösung» der Strukturprobleme und Partizipationsdefizite führen. Die Probleme liegen tief und sind komplex, Dogmatik, Kirchenrecht, kulturelle Prägungen, Machtinteressen und tief verwurzelte Verhaltensmuster bilden ein Amalgam, die Widerstände und Widersprüchlichkeiten sind viel zu gross, um mit organisatorischen Massnahmen oder strukturellen Reformen rasch gelöst zu werden. Rafael Luciani hält fest, es sei «notwendig, den eigentlichen Kern der Ekklesiologie zu berühren und nicht nur oberflächlich die Strukturen zu reorganisieren»[3]. Auch das ist allerdings kein Argument gegen Reformbemühungen, denn Durchbrüche sind nötig und möglich, aber mit Rückschlägen und Konflikten ist zu rechnen. Kleine Schritte sind wahrscheinlicher als Sprünge.
Ein drittes mit Reformforderungen einhergehendes Missverständnis betrifft die Überbewertung des Institutionellen und der Strukturen in der Kirche. Zu wenig sprechen wir in unseren Reformdiskussionen darüber, dass Kirche in erster Linie eine Gemeinschaft aus Gemeinschaften und Individuen ist, die dem Messias Jesus nachfolgen:
- Wer auf seiner Spur geht, vertraut auf Gottes Gegenwart mitten im konkreten Alltag, hält die Hoffnung auf das Reich Gottes wach, und weiss um Gottes besondere Liebe zu den Verletzten und Vergessenen.
- In der Nachfolge Jesu ist die Kirche zugleich Exodus-Gemeinschaft: Auf dem Weg der Befreiung, aber immer in Versuchung, den Fleischtöpfen Ägyptens gegenüber dem Weg durch die Wüste den Vorrang zu geben.
- Auf den Spuren des Mose, der dem geheimnisvollen Ich-bin-da im brennenden Dornbusch begegnete, in der Nachfolge Jesu, der den Himmel offen sah, und verbunden mit der samaritanischen Frau am Brunnen mit ihrem unstillbaren Durst ist die Kirche auch gerufen, Gemeinschaft der Mystikerinnen und Mystiker zu sein, also von Menschen, die daraus leben, dass sie etwas von Gott erfahren haben (Karl Rahner).
Ohne das gegen Strukturreformen auszuspielen, und im Bewusstsein, dass die verweigerte Anerkennung der Würde und Freiheit der Kinder Gottes all dem im Weg steht, vermisse ich in Kirchenreformdiskussionen vielfach die ausdrückliche Rückbindung an Jesus, an den Exodus und an die mystische Tradition. Denn je stärker unsere Vision von einer geschwisterlichen Kirche im Evangelium verwurzelt ist, desto stärker und lebendiger, desto rebellischer und gleichzeitig gelassener, desto kämpferischer und gleichzeitig versöhnlicher wird sie sein. [Teil 2 folgt]
[1] Zugänglich unter https://www.bistum-stgallen.ch/dokumente/synode-72/.
[2] Rafael Luciani, Unterwegs zu einer synodalen Kirche. Impulse aus Lateinamerika, Luzern 2022, 29.
[3] Luciani, a.a.O., 161.
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Bild: Stefanie Hofschlaeger – pixelio.de
Teil 2: