Was geschieht, wenn in einem Dorf nach 60 Jahren erstmals öffentlich über den Missbrauch durch den Pfarrer gesprochen wird? Barbara Haslbeck berichtet davon.
Es ist später Nachmittag an einem grauen Tag im Spätherbst. Die Straße führt durch kleine Dörfer immer weiter in die Chiengauer Berge hinein. Deren Bauernhäuser mit prächtigen Balkonen und einladenden Gastwirtschaften wirken wie in einer Vorabendserie. Es ist schön hier, sogar im November. Das Navi im Auto gibt Bescheid: „Ziel erreicht“: die Kirche von Unterwössen.
Sie ist hell erleuchtet und am Parkplatz stehen Autos mit Kennzeichen von weiter her. Überregional bedeutsam ist das, was an diesem Abend im November 2022 in der Kirche stattfindet. In einem Wortgottesdienst steht das Erinnern an das Leid von Menschen mit Missbrauchserfahrung im Mittelpunkt, verantwortlich durchgeführt von einer Gruppe aus dem Betroffenenbeirat des Erzbistums München und Freising und engagierten Christ*innen aus der Pfarrgemeinde vor Ort.
Über den Missbrauch wurde bisher nie in einer öffentlichen Veranstaltung und schon gar nicht in einem Gottesdienst gesprochen.
Unterwössen ist ein geradezu prädestinierter Ort für diesen Gottesdienst. Anfang der 60er Jahren wurden mindestens acht Jugendliche vom Pfarrer schwer sexuell missbraucht. Es geht um den Fall 22 im „Münchener Gutachten“ der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (S.490ff). Bis zum heutigen Tag, an die 60 Jahre später, ist im Ort nie in einer öffentlichen Veranstaltung und schon gar nicht in einem Gottesdienst in der Kirche über den Missbrauch gesprochen worden.
Auch wenn das Thema natürlich immer da war. Da gab es das Gerede über die Buben, die vom Pfarrer doch immerhin Geld bekommen hätten. Man schob ihnen die Schuld dafür zu, dass der beliebte und in mehreren Vereinen engagierte Pfarrer gehen musste. Die Familien der Betroffenen wurden im Ort geschnitten. Die acht im Gutachten erfassten Betroffenen leben nicht mehr, doch die Folgen der Spaltung der Gemeinde in Verleugner und Engagierte sind bis heute spürbar.
Gerede über die Buben, die vom Pfarrer doch immerhin Geld bekommen hätten
An diesem Abend in der Unterwössener Kirche sind sie da: die, die das Leid der Betroffenen nie kalt gelassen hat. Allen voran der Holzbildhauer Andreas Kuhnlein. Er ist in Unterwössen aufgewachsen und hier seit Jahrzehnten verwurzelt, eng verbunden mit der Natur und den Bäumen, aus denen seine Skulpturen entstehen. Die Lebens- und Leidensgeschichten der Menschen prägen sein international renommiertes Werk, in dem die Vulnerabilität menschlichen Lebens stark zum Ausdruck kommt.
Andreas Kuhnlein steht an diesem Novemberabend in der Kirche von Unterwössen und spricht über eine von ihm gestaltete Seitenkapelle der Kirche, in der jüngst ein Ort des Gedenkens an und für Menschen mit Missbrauchserfahrung eingeweiht wurde. Über seine Jugendfreunde, deren Leben so schwer vom Missbrauch überschattet war, will er nicht öffentlich sprechen, das geht ihm zu nah. Seine Worte sind klar und parteilich bei den Betroffenen, wenn er sagt:
„An Jesus glauben und sich auf ihn berufen reicht nicht. Es ist die Aufgabe und die Pflicht der Kirche, aber auch der Gesellschaft, sich wie Jesus an die Seite derer zu stellen, die dem Verbrechen des Missbrauchs ausgeliefert waren und sind, auch wenn das eigene Weltbild ins Wanken gerät, vielleicht sogar zum Einsturz kommt.“
Aufgabe und die Pflicht der Kirche, sich wie Jesus an die Seite derer zu stellen, die dem Verbrechen des Missbrauchs ausgeliefert waren und sind
Es hat ihn und andere Engagierte viel Kraft gekostet, in der Gemeinde gegen viele Widerstände nicht locker zu lassen, bis mit dem Raum in der Kirche ein sichtbares Zeichen des Gedenkens gesetzt werden konnte. Sieben Jahre dauerte dieser Weg, den die Leitung des Erzbistums und der Betroffenenbeirat förderten. Entstanden ist in einer Seitenkapelle ein kleiner Raum mit zwei Bildnissen der Verurteilung und Kreuzigung Jesu und mit einer Skulptur der Befreiung. In den beiden Kirchenfenstern sind Worte zu lesen, die deutlich den Bezug zum Missbrauch in der Kirche herstellen.
in der Seitenkapelle ein sichtbares Zeichen des Gedenkens
In einem der Fenster steht ein Vers aus dem Johannesevangelium, der geradezu programmatisch für die Veranstaltung steht: „Die Wahrheit wird euch befreien.“ (Joh 8,32) An diesem Abend sprechen Mitglieder des Betroffenenbeirates darüber, was Missbrauch für sie bedeutet, was es ihnen schwer macht und was sie brauchen, um freier zu werden. Engagierte aus der Gemeinde wirken mit.
Am Schluss des Gottesdienstes wird als Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen ein Licht vom Altar in den Gedenkraum übertragen. Da könnte man eine Stecknadel fallen hören, so intensiv stellt sich die anwesende Gemeinde der Geschichte. Die Wahrheit wird euch befreien, das ist spürbar. Die Wahrheit tut weh, aber es ist leichter, sie nicht verdrängen zu müssen. Das gilt für Betroffene und das gilt auch für die Gemeinschaften und Gemeinden, in denen der Missbrauch stattfand und weiter stattfindet.
Die Wahrheit wird euch befreien, das ist spürbar.
Der Wortgottesdienst findet bewusst im November statt, rund um den von Papst Franziskus angeregten Gebetstag für Opfer sexuellen Missbrauchs, der in den deutschen Diözesen für den 18. November, am „Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“, terminiert ist. An immer mehr Orten trauen sich Menschen, Missbrauch auch im Rahmen von Gottesdienst und Liturgie zu thematisieren.
Dass das auch in Unterwössen möglich ist, ist alles andere als selbstverständlich. Eng verbunden ist der Ort mit Papst Benedikt XVI., der im benachbarten Traunstein zur Schule ging und in Unterwössen ab den 60ern immer wieder Urlaub machte. Mit dem Pfarrer, der auf den Missbrauchstäter folgte, war der Theologieprofessor Ratzinger freundschaftlich verbunden. Heute bestreitet Benedikt XVI., jemals in Unterwössen Urlaub gemacht zu haben. Viele Menschen im Dorf irritiert und empört das sehr. Jahrelang war man stolz auf den prominenten Gast, um dessen Urlaube sich Erinnerungen ranken.
Heute bestreitet Benedikt XVI., jemals in Unterwössen Urlaub gemacht zu haben.
Auch wenn davon auszugehen ist, dass in den 60ern und 70ern generell ein großes Tabu über dem Thema Missbrauch lag, ist doch schwer vorstellbar, dass der auf den priesterlichen Sexualstraftäter folgende Pfarrer seinem Freund Ratzinger nicht wenigstens eine Andeutung über diese Geschichte machte. Wurde der Elefant im Zimmer tatsächlich übersehen? Diese Fragen stellen sich Menschen in der Gemeinde Unterwössen. Sie haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Das Ringen um die Wahrheit öffnet die Wahrnehmung neu für die Betroffenen, an die mit dem Gedenkraum in der Kirche erinnert wird.
Auf den Wortgottesdienst in der Kirche folgt eine Begegnung im Pfarrheim. Der Generalvikar des Erzbistums München und Freising dankt dort allen Beteiligten für ihren Einsatz. Die Bistumsleitung befürwortet die aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der Generalvikar sieht sich an diesem Abend als Hörender. Und viele wollen reden, rege Gespräche füllen den Saal.
Ein Lehrer an der örtlichen Schule berichtet von seiner Recherche im Archiv der Schule. Ob dort Spuren des Missbrauchs zu finden sind? Schließlich war der missbrauchende Pfarrer ja auch im Religionsunterricht tätig und hat dort sicher seine Opfer kennen gelernt.
An Plätzen, die nach Papst Benedikt XVI. benannt wurden, soll es Informationen geben, die sensibel auf das Missbrauchsthema hinweisen.
Die Kulturreferentin der benachbarten Kreisstadt steht vor der Herausforderung, einen Beschluss des Stadtrates umzusetzen. Dieser sieht vor, die Plätze, Straßen und Kindergärten der Region, die nach Papst Benedikt XVI. benannt wurden, zu „kontextualisieren“. Verärgerte Bürger*innen forderten nach der Veröffentlichung des Münchener Gutachtens Konsequenzen für den Umgang mit dem als Vertuscher wahrgenommenen Papst. An Plätzen, die nach Papst Benedikt XVI. benannt wurden, soll es Informationen geben, die sensibel auf das Missbrauchsthema hinweisen. Die Referentin stellt eine wichtige Frage: „Wie fühlt sich eine Person, die Missbrauch in dieser Kirche erlebt hat, wenn sie am Kindergarten ‚Papst Benedikt‘ vorbei geht?“
Mit dem Blick auf Missbrauchsbetroffene spricht sie öffentlich aus, was früher so schwer war: Wie ging es diesen Jugendlichen, deren Leben vom Missbrauch so belastet war? Wie fühlt sich ein Alltag mit Missbrauchserfahrung an? Welchen Rahmen brauchen Betroffene, um es leichter zu haben? Welchen Beitrag können Gemeinden leisten, um sensibel dafür zu sein, dass immer und überall Menschen mit Missbrauchserfahrung dabei sind?
sensibel dafür zu sein, dass immer und überall Menschen mit Missbrauchserfahrung dabei sind
Was an diesem Abend in Unterwössen geschieht, ist genau das, was in der jüngsten Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs beschrieben ist: Um Betroffenen Gerechtigkeit zu ermöglichen, sind Orte und Räume wichtig, die dem Gedenken Betroffener gewidmet sind. In einigen wenigen Institutionen gibt es bereits Gedenktafeln, die an das Leid der Opfer erinnern (etwa dem Benediktinerstift in Kremsmünster oder dem Johanneum in Homburg/Saar; in Ettal wurde ein DenkMal installiert). An der Errichtung solcher Erinnerungsorte sind Betroffene federführend zu beteiligen. Mit Konflikten ist dabei zu rechnen, weil unterschiedliche Anliegen in Konkurrenz treten können.
Mit Blick auf die Anhörungen der Unabhängigen Aufarbeitungskommission der Bundesregierung formulieren Forscher*innen: „Erinnerungskultur soll zu einer Anerkennung in der Vergangenheit erlebten Unrechts und Leids führen, soll auf die Gegenwart und aktuelle Formen sexualisierter Gewalt ausgerichtet sein und soll die Bedingungen für die Weiterentwicklung von Schutz und Prävention aufzeigen“. Das ist der Motor, der Gedenkarbeit bewegt: Sie mahnt mit Blick auf die Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft: „Tut alles dafür, dass so etwas nicht mehr geschieht“.
Der Motor, der Gedenkarbeit bewegt: Sie mahnt mit Blick auf die Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft.
Erinnerungskultur ist nicht einfach, das zeigen die sieben langen Jahre, die es in Unterwössen brauchte, bis der Gedenkort in der Kirche eingeweiht wurde. Der Bürgermeister Ludwig Entfellner sprach davon, dass der Gedenkraum für den Ort „wie eine Befreiung“ wirke. Endlich ist sichtbar und ansprechbar, dass es diesen Missbrauch gab.
Mitwisser*innen haben die Möglichkeit, sich mit der jahrzehntelangen Verdrängung und damit verbundenen Schuldgefühlen auseinander zu setzen. Die Rolle der sog. Bystander, die auch die Münsteraner Missbrauchsstudie thematisiert und zu der weitere Forschung läuft, wird das kleine Gebirgsdorf weiter beschäftigen. Angemerkt sei auch, dass die in Unterwössen durchgeführte Veranstaltung eine von vielen Aktionsformen ist, die Erinnerungsarbeit ausmachen. Jede Form hat ihre Grenzen und immer entsteht auch Kritik daran.
Mitwisser*innen haben die Möglichkeit, sich mit der jahrzehntelangen Verdrängung und damit verbundenen Schuldgefühlen auseinander zu setzen.
Gedenkkultur erschöpft sich nicht in der Errichtung eines Denkmals. Es sind die Gespräche um den Ort und seine Geschichte herum, die das Erinnern vital und wirksam machen. Erinnerungsarbeit in der Kirche hat ihren tiefen Sinn darin, die Würde der Betroffenen zu rehabilitieren. Ihr Erzählen, ihre Geschichten, ihr Leid, ihre Ressourcen sind der Rede wert. Auch und gerade im Angesicht Gottes. So geschieht, was im Gedenkraum von Unterwössen zu lesen ist: „Die Wahrheit wird euch befreien.“ (Joh 8,32).
Dr. Barbara Haslbeck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg und arbeitet an einer Studie zu „Missbrauch an Ordensfrauen“. Sie gehört zum Leitungsteam der Initiative GottesSuche. Glaube nach Gewalterfahrung (www.gottes-suche.de).
Bild: Gedenkraum Unterwössen, Gestaltung und Bildrechte: Andreas Kuhnlein