Mit dem Verhältnis von Diakonie und Spiritualität setzt sich der Schweizer Theologe Christoph Sigrist vor dem Hintergrund von Bonhoeffers Diktum auseinander.
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Dietrich Bonhoeffer – eine politische Messe
„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“[1] So sagte es Dietrich Bonhoeffer. Und so schrieb es sein Freund Bethge auf. Waren es die Nürnberger Gesetze von 1935, die Bonhoeffer zu diesem zentralen Satz im Predigerseminar in Finkenwalde drängten? Oder waren es die Judenpogrome mit der Reichskristallnacht im November 1938? Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, dass Bonhoeffer aufgeschreckt durch den offensichtlichen Genozid am europäischen Judentum aus dem hinterpommerischen Gross Schlönwitz kurz nach dem 9. November nach Berlin fuhr, um sich selbst ein Bild des Schreckens zu machen. Er reflektierte theologisch die Ereignisse anhand von Psalm 74: „Sie sprachen in ihrem Herzen: Wir zwingen sie nieder allesamt; und sie verbrannten alle Gottesstätten im Land. (…) Wie lange, Gott, soll der Gegner schmähen, soll der Feind ewig deinen Namen lästern? Warum ziehst Du deine Hand zurück und hältst deine Rechte im Busen verborgen?“[2] Bonhoeffer notierte am Rand dieser Verse 9.11.38. Er schrieb an seine ehemaligen Kursteilnehmer am 20. November mit explizitem Bezug auf diese Bibelstelle: „Das führt sehr ins Gebet.“[3]
„Politisch als Wirkung
ritueller und spiritueller Handlungen
in den gesellschaftlichen Raum.
„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“ Wolfgang Huber ist zuzustimmen: „Die politische Bedeutung dieses Satzes ist ebenso deutlich wie sein theologischer Gehalt. Nicht zuletzt hat er auch liturgische Konsequenzen. Denn aus dem geschilderten Zusammenhang ergab sich Bonhoeffers Abwehr, ja sein Misstrauen gegen allen Rückzug ins Kultische, ins Symbol und nicht zuletzt in eine dadurch bestimmte Musik.“[4] Bonhoeffers Satz wurde für mich und Hans-Jürgen Hufeisen zum Schlüssel, in meiner reformierten Tradition eine lutherische Messe als politische Messe zu komponieren.[5] Unter „Politisch“ verstehe ich die Wirkung ritueller und spiritueller Handlungen in den gesellschaftlichen Raum mit ihrer Parteinahme zugunsten der Schwachen. Mit dem Begriff „Messe“ halte ich auch, verwurzelt und geprägt durch meine reformierte Tradition in Zürich, die verwandelnde, rituelle Kraft von aussen, die für die seelische Kraft pure Inspiration und „Mutanfall“ (Dorothee Sölle) darstellt. Im Begriff „politische Messe“ eingelagert ist jene existentielle Grunderfahrung, dass beim Zusammentreffen von Spiritualität und Diakonie Resonanzräume geselliger Kreativität entstehen. Was ist damit gemeint?
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Diakonie und Spiritualität in Resonanz
Unter Spiritualität meine ich mit Simon Peng-Keller eine „emergierende Spiritualität“, das heisst, „ein plötzliches Auftauchen von spirituellen Fragen und Wünschen, das mitunter dazu führt, dass Menschen ohne explizit spirituelle Praxis verschüttete Erfahrungen wiederentdecken oder mit neuen Formen zu experimentieren.“[6] Wenn Diakoniewissenschaft als Kunstlehre des Helfens das allgemein menschliche Helfen als spezifisch diakonische Praxis verstehen will[7], nimmt sie die Resonanz zwischen den spirituellen Fragen, die auftauchen und aus der jüdisch-christlichen Tradition begründet werden, und den schöpferischen Taten in den Blick.
In einem vibrierenden Zustand,
zu schreien,
zu protestieren,
zu handeln.
Mit anderen Worten: Der Schrei der Juden in ihrer Not rüttelt spirituelle und existentielle Fragen in mir wach. Diese Fragen versetzen mich in den vibrierenden Zustand, zu schreien, zu protestieren, zu handeln. Es war der Soziologie Hartmut Rosa, der den Resonanzbegriff als Weltbeziehung des Menschen fruchtbar machte, in die er unverfügbar gerät und durch sie berührt und verwandelt wird.[8] Zwischen Diakonie und Spiritualität entstehen vibrierende Drähte. Zwischen der politischen Arbeit mit stigmatisierten und ausgegrenzten Menschen draussen in Gefängnissen, Flüchtlingslagern, zerbombten Häusern, beschämenden Prangern und dem spirituellen Gebet drinnen in Kirchen, Tempeln, Synagogen und Moscheen entstehen Resonanzräume mit unterschiedlichen Interferenzen zwischen den vibrierenden Drähten.
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Zwei vibrierende Drähte zwischen Diakonie und Spiritualität
Zuerst möchte ich auf den praktischen Draht hinweisen. Spiritualität ist praktisches Beten, Stille werden, andächtig sein, innehalten, meditieren. Diakonie ist praktisches Arbeiten, unterstützen, anwaltschaftlich kämpfen, vermitteln. Natürlich gibt es Zeiten, wo aus Distanz über spirituelle Fragen und diakonische Taten wissenschaftlich und existentiell zugleich reflektiert werden kann. Doch beides, das Beten und das Arbeiten, drängen darauf, getan zu werden. Es gilt, nicht über den Witz berührender Beziehung mit der Welt des in Not geratenen Menschen zu reden, sondern ihn zu erzählen. Wer den Witz erklären muss, hat verloren. Wer den Witz schlecht erzählt, muss üben. Wer den Witz gut bringt, zaubert ein Lachen auf das Gesicht des andern, auch wenn er*sie weint vor Trauer oder schreit vor Schmerz. Dieses Lachen ist unverfügbar, und doch menschenmöglich. Und es ist in der Tat so: Beten hilft. Und beim Helfen wird oft gelacht.
Gebet drinnen und Appell draußen
als zwei vibrierende Drähte
im selben Resonanzraum.
Dieser praktische Draht gerät mit dem politischen Draht in Interferenz. Dies erlebte ich mit tausenden von Menschen kurz nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine unmittelbar und nah. Im Grossmünster traf sich die Stadtöffentlichkeit zum interreligiösen Gebet für den Frieden, um nachher über die Münsterbrücke gleich einer Prozession auf dem Münsterplatz zur politischen Kundgebung für den Frieden zu versammeln, an dem Ort, wo 1946 der englische Premierminister Winston Churchill zum geeinten Europa aufrief. Die Farben der Ukraine illuminierten das Stadthaus wie auch die Stadtkirche im gleichen Ton. Das Gebet für den Frieden drinnen im Kirchenraum und der Appell für den Frieden draussen auf dem Stadtplatz erwiesen sich als zwei vibrierende Drähte im selben Resonanzraum von Menschen, die alle keinen Boden unter den Füssen haben und deshalb zueinander in Beziehung versetzt werden. In einem Brief von Franz Rosenzweig an seine Schwester erscheint dieses Bild. Rosenzweig schreibt: „Boden unter den Füssen hat keiner, jeder wird nur gehalten von anderen ‚nächsten‘ Händen, die ihn beim Schopf packen, und so hält einer den andern und oft, ja meist ganz natürlich (denn sie sind ja gegenseitig sich ‚Nächste‘) beide sich gegenseitig. Diese ganze mechanische unmögliche gegenseitige Halterei ist dann freilich erst möglich dadurch, dass die grosse Hand von oben alle diese haltenden Menschenhände selber bei den Handgelenken hält. Von ihr her und nicht von irgendeinem gar nicht vorhandenen ‚Boden unter den Füssen‘ kommt allen diesen Menschen die Kraft, zu halten und zu helfen. Es gibt kein Stehen, nur ein Getragenwerden.“[9]
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Gesellige Gottheit (Kurt Marti)
Was Franz Rosenzweig seiner Schwester in einem berührenden Brief schrieb, reflektiert Harmut Rosa in 800 Seiten auf alle Richtungen hin, und bringt Dietrich Bonhoeffer in seiner Vorlesung auf den Punkt: Zu den vier kleinen Händen, die versuchen, einander zu helfen, gesellt sich die grosse Hand von oben. Treten deshalb Diakonie und Spiritualität in Resonanz zueinander, weil Geselligkeit mit ihren vibrierenden Drähten ein surrendes Netz zwischen mir und dem*r anderen knüpft? Spannt Geselligkeit sein Netz zwischen Hilfeempfangendem*r und Hilfesuchendem*r dazu noch mit jenem geheimnisvollen Dritten, das die Religionen mit „Gott“ vorsichtig genug beschreiben? Ich glaube das in der Tat. Gesellt sich Gott jedoch dazu, wo geholfen wird, geraten Wort und Tat noch einmal anders in Schwingung zueinander. Spirituelles Fragen und diakonisches Wagen fliessen zu einer unglaublichen Kraft ineinander. Diese Kraft schreit mit den Juden und singt gregorianisch, gleichzeitig und zusammen mit der geselligen Gottheit.
«Am Anfang also: Beziehung.
Am Anfang: Rhythmus.
Am Anfang: Geselligkeit.
Und weil Geselligkeit: Wort.
Und im Werk, das sie schuf,
suchte die gesellige Gottheit sich
neue Geselligkeiten.
Weder Berührungsängste
Noch hierarchische Attitüden.
Eine Gottheit, die vibriert
Vor Lust, vor Leben.
Die überspringen will
auf alles,
auf alle.»
(Kurt Marti)
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Christoph Sigrist (*1963), Prof. Dr., lehrt und forscht als Titularprofessor für Diakoniewissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Bern und arbeitet seit 2003 als Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Daneben engagiert er sich in verschiedenen Stiftungen und Vereinen im diakonischen Bereich, in Zürich und schweizweit.
Titelfoto: Mohamed Nohassi / unsplash.com
Porträtfoto: Samuel Schalch
[1] Bethge, Eberhard (2005), Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie (1967), 9. Auflage, Gütersloh, 506).
[2] Psalm 74,8.10-11, in der Übersetzung der neuen Zürcher Bibel 2007.
[3] Bonhoeffer, Dietrich, Werke, hg. Von Eberhard Bethge, Ernst Feil, Christian Gremmels, Wolfgang Huber, Hans Pfeifer, Albrecht Schönherr, Heinz Eduard Tödt, Ilse Tödt, München/Gütersloh 1986-1999, Neuausgabe 2015, Bd. 15, 84.
[4] Huber, Wolfgang (2019), Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit, Ein Portrait, München, 271.
[5] Vgl. https://www.dietrichbonhoeffereinepolitischemesse.ch/Das-Oratorium/, Zugriff 25.11.2022.
[6] Peng-Keller, Simon (2014), Zur Herkunft des Spiritualitätsbegriffs. Begriffs- und spiritualitätsgeschichtliche Erkundungen mit Blick auf das Selbstverständnis von Spiritual Care, in: spiritual care 3, Heft 1, 36-47, 46.
[7] Vgl. zum Begriff der Diakonie und diakonischen Praxis: Sigrist, Christoph (2020), Diakoniewissenschaft, Stuttgart, 11-20.
[8] Vgl. Rosa, Hartmut, Resonanz (2018), Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, bes. Kapitel 3. Resonanz, 281-298.
[9] Dieses eindrückliche Bild von Franz Rosenzweig dient Ulrich Bach als Referenzrahmen für die Diakonie. Bach, Ulrich (1986), Boden unter den Füssen hat keiner. Plädoyer für eine solidarische Diakonie, Göttingen, 219.
[10] Marti, Kurt (1989), Die gesellige Gottheit, ein Diskurs, Stuttgart, 8-9.