Wenn es um verletzliche Menschen geht, stehen die Grund- und Menschenrechte auf dem Prüfstein. Gülcan Akkaya erläutert, worauf deshalb besonders zu achten ist.
Flüchtlinge und Migrantinnen sind sehr oft verletzlich. Sie leben in rechtlich prekären Verhältnissen. Ob es um die Unterbringung und Betreuung geht, die schulische und berufliche Integration oder die Existenzsicherung – ihre Rechte müssen oft gegen Widerstände erkämpft werden. Ihre Reisefreiheit, der Familiennachzug, der Zugang zum Gesundheitswesen oder zum Arbeitsmarkt unterliegen strengen Restriktionen und können entsprechend leicht verweigert werden. Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte und in die Autonomie von Asylsuchenden und Flüchtlingen mögen oft unvermeidlich sein, aber die Grund- und Menschenrechte setzen gewisse Grenzen. Diese Grenzziehung ist weder politisch unumstritten noch rechtlich restlos geklärt. Deshalb erstaunt es nicht, dass im Alltag der Asyl- und Flüchtlingsarbeit Menschenrechtsverletzungen beobachtet werden.
Grund- und Menschenrechte stehen in einem Zielkonflikt mit dem Migrationsrecht
Die Grund- und Menschenrechte garantieren den Menschen im Rahmen der Rechtsordnung ein hohes Mass an Freiheit und Selbstbestimmung. Sie schützen die menschliche Würde vor willkürlichen Eingriffen und Einschränkungen. Das Asyl- und Migrationsrecht hingegen dient neben der Festlegung der Rechte und Pflichten von Nicht-Staatsangehörigen vor allem der Regulierung der Zuwanderung. Die damit verbundene Kontrolle der ausländischen Wohnbevölkerung ist oft mit Einschränkungen der Autonomie verbunden. Dieser Zielkonflikt ist in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit täglich an allen Ecken und Enden zu spüren.
Einschränkungen der Autonomie
Nicht selten ziehen die Grundrechte in diesem Zielkonflikt den Kürzeren. Die Aspekte der Kontrolle und der Regulierung stehen im Vordergrund, das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen muss hintanstehen. Die Rechtsprechung kennt die sensiblen Bereiche, in denen Grundrechte leicht verletzbar sind. Dazu gehören beispielsweise der Bereich des Verfahrensrechts (wenn es darum geht, rechtlich gehört zu werden) oder jener der Existenzsicherung (wenn Sozialleistungen ganz oder im Umfang unzulässig gekürzt werden). Ebenfalls kritisch ist es, wenn Familien das Recht auf Teilnahme am sozialen Leben verweigert oder die Privatsphäre genommen wird. Eine Untersuchung der Hochschule Luzern bestätigt diesen Befund.[1]
Zwischen Solidarität und Abwehr
Die Schweizerische Migrationsgeschichte zeigt, dass die Asyl- und Migrationspolitik in Wellenbewegungen verläuft: Auf Zeiten der Solidarität folgen Phasen der Abwehr. Je nach Herkunft der Flüchtlinge und der politischen bzw. wirtschaftlichen Lage waren sie willkommen oder wurden abgelehnt. Während des Kalten Kriegs waren Flüchtlinge aus Ländern «hinter dem Eisernen Vorhang» willkommen. Jüdische Flüchtlinge hingegen erfuhren im Zweiten Weltkrieg teils zum Tode führende Zurückweisung. Tibeter und Tibeterinnen waren willkommen, Chilenen und Chileninnen nicht. Die letzten vierzig Jahre der Flüchtlings- und Asylpolitik waren zumeist geprägt von schrittweisen rechtlichen Verschärfungen, die der Abwehr von Asylsuchenden dienten. Jüngst erst wurden Asylgesuche an den ausländischen Botschaften verunmöglicht und die humanitären Visa für Angehörige aus Syrien und Afghanistan massiv einschränkt. Die Zugangskontrollen wurden kontinuierlich verschärft, nicht nur rechtlich, sondern auch technologisch durch stets neue digitale Kontrollinstrumente. Die Schweiz für Geflüchtete unattraktiv zu machen, ist politisches Programm und wird von Teilen der Bevölkerung mitgetragen.
Schrittweise rechtliche Verschärfungen dienten der Abwehr von Asylsuchenden.
In Zeiten der Solidarität sind Politik und Gesellschaft grosszügig, Rechtsverletzungen eher selten. Wo Einwanderungskontrollen und Abschreckung politisches Ziel sind, erfolgen sie häufiger. Entsprechend entwickelten sich mit den rechtlichen Verschärfungen der letzten Jahrzehnte auch die Grundrechtsverletzungen für die Praxis zu einem Thema, das viel Aufmerksamkeit verlangt. Die Schweiz steht hier nicht allein. Im Gleichklang mit den europäischen Staaten setzt sie auf Kontrollen und restriktive Einwanderungsbestimmungen, die in ihren letzten Konsequenzen offenkundig Menschenrechtsverletzungen nach sich ziehen, wie man sie an den Aussengrenzen Europas täglich beobachten kann. In Europa, das sich als Wertegemeinschaft verstehen will, ist deshalb der Kampf für die Menschrechte ein zentraler Pfeiler in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit geworden.
Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und der «S-Status»
Zurzeit erleben wir in der Schweiz ein Nebeneinander von Solidarität und Abschreckung, das einen schwindlig machen könnte. In der Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine flohen und fliehen Millionen von Menschen. Die europäischen Regierungen handelten schnell und entschlossen. Die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie der EU, die einen vorübergehenden Schutzstatus vorsieht, besteht schon seit 2001 und wurde im Falle des Ukrainekriegs nun erstmals angewendet.[2] Ebenso hat die Schweiz als «lesson learnt» anlässlich des Balkankriegs in den Neunzigerjahren 1998 einen Schutzstatus für Situationen von Massenflucht geschaffen und diesen gewissermassen im «autonomen Nachvollzug» zur EU am 12. März 2022 für Ukraineflüchtlinge eingesetzt. Damit nutzt die Schweiz erstmals ein schon seit längerem verfügbares Instrument zur unkomplizierten, unbürokratischen Aufnahme von Kriegsvertriebenen.
ein Instrument zur unkomplizierten, unbürokratischen Aufnahme von Kriegsvertriebenen
Der Schutzstatus S gewährt den Geflüchteten einen raschen Weg in die Gesellschaft und in die Arbeitswelt. Menschen erhalten eine eigene Unterkunft oder sie können bei Gastfamilien wohnen, sie dürfen uneingeschränkt reisen und eine Arbeit aufnehmen. Anfänglich durften sie sich sogar am Wohnort ihrer Wahl niederlassen. Ihre Kinder werden eingeschult, die Hochschulen öffnen ihnen ihre Pforten. Auf dem Höhepunkt der Solidaritätswelle sponserten Privatfirmen Handyabonnements; der öffentliche Verkehr war kostenfrei. Obwohl der Status befristet ist, stehen jenen, die ihn besitzen, die Tore zur Integration weit offen.
anders hingegen die Realität der Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien, Irak oder Afrika
Wie anders sieht hingegen die Realität der Geflüchteten aus Afghanistan, Syrien, Irak oder Afrika aus! Sie dürften sich die Augen gerieben und gefragt haben, weshalb sie seit Jahren harten Restriktionen ausgesetzt sind. Das gilt ganz besonders für Personen mit dem als «vorläufig» bezeichneten Status F. Dieser hat ihnen lange Zeit die berufliche und soziale Entwicklung erschwert und die Teilhabe an der Gesellschaft und an Integrationsmassnahmen verwehrt. Menschen mit Status F wurde der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert; eine eigene Wohnung zu mieten war ihnen kaum möglich, die Sozialhilfeansätze waren für sie wesentlich niedriger als für anerkannte Flüchtlinge, ein Postkonto zu eröffnen schwierig, ebenso der Abschluss eines Handyvertrags. Ihre Integration war offensichtlich nicht erwünscht.
Rechtsgleichheit im Flüchtlingsschutz
Dieses Nebeneinander von einem grosszügigen Regime für Flüchtlinge aus der Ukraine einerseits und einem abschreckenden Regime für Flüchtlinge aus anderen Regionen der Welt andererseits lässt sich vor dem Gebot der Rechtsgleichheit nicht mehr verantworten. Das erkennen neben Fachleuten mittlerweile auch Gastfamilien, Freiwillige, Politikerinnen und Politiker. Auch grösser werdende Teile der breiten Bevölkerung können die heutige widersprüchliche Praxis nicht mehr nachvollziehen. Weshalb soll das, was für die Aufnahme und die Integration von Menschen aus der Ukraine förderlich ist, nicht auch für andere gut sein?
Die aktuelle Ungleichbehandlung von Geflüchteten ist nicht akzeptabel.
Die aktuelle Ungleichbehandlung von Geflüchteten mit Bezug auf Arbeit, Bildung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, Reisefreiheit oder Existenzsicherung ist unter diesen Gesichtspunkten nicht akzeptabel. Zu hoffen ist, dass der Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine bald Standard wird. Die aktuellen Erfahrungen könnten politische Schubkraft entfalten, damit der heutige Status F der vorläufigen Aufnahme überdacht wird. Es gilt, ihn durch einen zeitgemässen dauerhaften, subsidiären Schutzstatus zu ersetzen, der den Lebensrealitäten und dem Integrationsbedarf Rechnung trägt. Dies könnte auch zu einer Reduktion von Grundrechtsverletzungen führen, weil dadurch Selbstbestimmungsrechte und Kontrollmechanismen besser aufeinander abgestimmt würden.
Gülcan Akkaya, Dr. rer.pol., arbeitet seit 2004 als Dozentin/Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Von 2008 bis 2019 war sie Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR).
Literaturhinweise:
Akkaya, Gülcan; Frei, Peter; Müller, Meike (2022). Grund- und Menschenrechte in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit. Ein Handbuch für die Praxis. Interact Verlag: Luzern.
Akkaya, Gülcan; Frei, Peter (2022). Gleiche Rechte für alle Geflüchteten. Gastkommentar in der NZZ vom 1. Juli 2022.
Bordermonitoring EU (2022). Zur Umsetzung der Massenzustrom-Richtlinie. Zur Umsetzung der Massenzustrom-Richtlinie | bordermonitoring.eu
[1] Grund- und Menschenrechte in der Asyl- und Flüchtlingsarbeit. Ein Handbuch für die Praxis. Interact Verlag: Luzern 2022.
[2] Zur Umsetzung der Massenzustrom-Richtlinie | bordermonitoring.eu