Was sich Kirche von einer Drag Show abschauen kann. Von Daniela Feichtinger.
„Du weißt echt nicht, was eine Drag Queen ist!?“, höre ich unlängst eine Zehnjährige zu ihrer Freundin sagen. Die beiden stehen vor einem Plakat der bekanntesten Drag Queen unserer Stadt. Jetzt ist es also offiziell, denke ich schmunzelnd: Heutzutage weiß jedes Kind, was eine Drag Queen ist.
Das liegt nicht nur an Conchita Wurst und ihrem Song Contest Sieg 2014. Auf globaler Ebene verdankt sich die Sichtbarkeit der Kunstform vor allem einer Castingshow namens RuPaul’s Drag Race, in der seit mittlerweile 15 Staffeln Queens um den Titel des „Next Drag Superstar“ rittern. Über ein Dutzend Emmy Awards, zahllose Spin-Offs und Tourneen später ist aus dem Nischenprogramm ein weltweites Phänomen geworden. Hinter dem Imperium steht der namengebende RuPaul Charles, der seit den 80ern selbst eine fixe Größe der US-amerikanischen Szene ist. Als Mother Ru hat er der Kunst und den Menschen, die sie verkörpern, eine nie dagewesene Plattform und Reichweite gegeben.
Mich beeindruckt die Show auch als Theologin: Wie gelingt es diesem Schlag Menschen, sich der Welt so gelungen mitzuteilen? Wieso wirkt etwas so authentisch auf mich, was nicht nur auf einem Skript beruht und massiv produziert ist, sondern von seiner Grundausrichtung her künstlich und gekünstelt?
In ihrem Auftreten sind Drag und Kirche Performances, auch wenn sie dabei häufig nicht dieselben Ziele verfolgen: Sprache, Gesten, Kleidung, usw. werden nicht dem Zufall überlassen, sondern sind kuratierter Ausdruck von Überzeugungen und Mitteilungsabsichten. Aber anders als Vieles, das kirchlicherseits zum Besten gegeben wird, erreicht und übertrifft RuPaul’s Drag Race seine eigenen Ziele. Davon kann man sich einiges abschauen – zumindest dreierlei, wie ich finde.
Sprache, die glückt
Aus dem Bouquet an Fähigkeiten, die den Mastermind der Sendung, RuPaul, auszeichnen, sticht eine besonders hervor: Sein Umgang mit Sprache. In ihm verbinden sich Geschichtskenntnis und Innovation meisterlich, und bilden somit das Rückgrat der Show und seiner eigenen Kunstfigur. Ob One-Liner, scheinbar spontane Äußerungen oder wiederkehrende Catchphrases – alles zeugt von RuPauls Freude am Sprachspielen.
An vielen Stellen hält er die Queens dazu an, sich das Vokabular und die Syntax der Popkultur auf Mutterspracheniveau anzueignen. Von Renaissancekostümen bis John Waters Filmen muss eine Drag Queen die Traditionen kennen, in denen sie steht, um von ihnen zu zehren, sie durch den Fleischwolf zu drehen und – das Wichtigste von allem – eine vitale Performance auf die Bühne zu bringen. Denn die Aneignung der Vergangenheit hat nichts Museales. Sie ist ein kreatives Ereignis.
Neben der Popkultur insgesamt und den Drag-Traditionen im Speziellen dienen auch religiöse Ausdrucksformen als Reservoir. Die ganze Show folgt einer strengen Liturgie und nutzt feierlich wiederkehrende Elemente, um Dramatik und Intensität zu erzeugen. So endet beispielsweise jede Sendung mit RuPauls Frage, wie zur Hölle man jemand anderen lieben soll, wenn man sich selbst nicht liebt. „Can I get an Amen?“, fragt er die Queens dann, woraufhin sie im Chor mit „Amen!“ antworten. RuPaul weiß, wie Religionen seit Jahrhunderten über Sprache und liturgische Handlungen Gemeinschaft stiften, und er nutzt, was sie zu bieten haben – subversiv, versteht sich. Das Verhältnis der queeren Community zu institutionalisierten Religionen ist schließlich nicht spannungsfrei.
Es entsteht so eine Sprache, die nicht nur unter Drag Queens verstanden, sondern auch von ihnen unablässig revitalisiert wird. Ich kann sie mir wiederum wie eine lebende Fremdsprache aneignen, die mir den Zugang zu einer bunten Welt und ihren Denkweisen eröffnet.
Gemeinschaft, die nützt
Als das Drag Race 2009 startet, sind Castingshows schon seit Jahren ein erfolgversprechendes Format. Den Mainstream interessiert die Suche nach America’s Next Drag Superstar allerdings noch länger nicht. Von einem undankbaren Sendeplatz im US-amerikanischen Kabelfernsehen aus startet die Sendung mit kleinem Budget und gewöhnungsbedürftiger Kameraführung. Es ist queeres Fernsehen für ein Nischenpublikum. Eine junge mitteleuropäische Frau am Anfang ihres Theologiestudiums haben die Macher*innen nicht vor Augen. 15 Staffeln später fiebere ich mit. Was ist inzwischen passiert?
In gewisser Hinsicht nicht viel. Denn auch heute ist Drag Race in erster Linie queeres Nischenfernsehen. Es unternimmt keinen Versuch, sich an irgendeine heteronormative Erwartungshaltung anzubiedern, zitiert unablässig aus der eigenen Kulturgeschichte, schreibt sie fort und gibt Künstler*innen die Chance, ein weltweites Publikum anzusprechen. Die Show hat das gesamte Drag-Business verändert und dementsprechend auch Kritik auf sich gezogen. Schließlich forciert sie die Hyperprofessionalisierung einer Kunstform, deren Looks sich bisher gerade nicht durch großes Budget ausgezeichnet haben. Aber eines müssen auch Kritiker*innen anerkennen: RuPaul’s Drag Race stiftet Gemeinschaft, die nützt. Absolut schamlos. Das Franchise ist für Drag Queens in den USA und zunehmend auch in anderen Teilen der Welt das, was auch heute oft nur wohlhabenden weißen, heterosexuellen Männern vorbehalten ist: eine Seilschaft.
Die Show macht Menschen, die in ihrem Zugang zur Kunstform oder in ihren Biografien oft wenig gemeinsam haben, nicht nur für die Zuschauer*innen zu einem faszinierenden Kaleidoskop. Hautfarbe, Herkunft, Bildungsstand, Religion, Körperbau, Gewicht, Geschlecht, Gesundheit und Krankheit – alles wird thematisiert und transzendiert. Am Ende gewinnt, wer am meisten Charisma, Uniqueness, Nerve und Talent hat (man beachte das Akronym). Was den Bekanntheitsgrad und neue Kontakte angeht, profitieren auch die übrigen Teilnehmer*innen.
Als Seilschaft globalen Ranges steht das Drag Race in einer langen Tradition, die Tom Fitzgerald und Lorenzo Marquez in ihrem Buch Legendary Children „ministry of drag“ nennen – einen Dienst an den Marginalisierten, zu denen Drag Queens in der Regel selbst gehören. So finden sich Drag-Künstler*innen nicht nur in politischen Bewegungen, sondern gründen auch eigene Initiativen, wie die für Theolog*innen wohl besonders beeindruckenden Sisters of Perpetual Indulgence: einen Orden, der sich für Anliegen der LGBT-Community einsetzt.
Eigene Regeln brechen
Würde man Passant*innen bitten, den Begriff „Drag Queen“ zu definieren, käme wahrscheinlich: „(homosexueller) Mann in Frauenkleidern“. Tatsächlich trifft diese Einschätzung auch auf einen großen Teil der Drag Queens zu. Aber bei weitem nicht auf alle.
Das Drag Race Spin-Off All Stars 6 hat eine Transfrau gewonnen, All Stars 7 eine nicht-binäre Drag Queen. In Staffel 13 der Casting Show schaffte es ein Transmann auf Platz 3. Und in Staffel 14 war tatsächlich eine heterosexuelle Drag Queen am Start! Das Kuriosum wird in der Show ausführlich thematisiert; letztendlich wird dem Teilnehmer allerdings dieselbe Toleranz und Wertschätzung entgegengebracht wie allen anderen.
Vieles ist heute möglich, Jahre nachdem RuPaul das Antreten von Transfrauen mit dem Argument ausgeschlossen hat, es sei wie Doping im Sport. Aber RuPaul ist nicht nur als Geschäftsmann offen für die Evidenz des Faktischen. Auch als Drag Queen musste er letztlich anerkennen, dass nicht-binäre und transsexuelle Menschen tatsächlich immer schon Teil der Drag-Szene waren, und viele von ihnen ihren Job gut machen.
Nur eine als Frau geborene Drag Queen, die sich auch als Frau identifiziert, hat es bisher noch nicht gegeben – sie wäre wohl auch ein Drag King und damit prädestiniert für eine Show, die es noch nicht gibt. Was aber würde geschehen, wenn Drag Race Menschen antreten lässt, die es bislang als sein Gegenteil angesehen hat? Wäre es die Vermischung von Frauen- und Männerfußball, oder die Zulassung eines bislang ausgeschlossenen Bevölkerungsteils zu den Weiheämtern? Wenn Charisma, Uniqueness, Nerve und Talent stimmen – kurz: wenn sie ihre Sache gut macht, dann schafft es irgendwann auch eine Frau auf den Thron. Zumindest bei RuPaul’s Drag Race.
Sprache, die glückt, weil sie alte Eisen umschmiedet und jede*r mitspielen darf; eine Gemeinschaft, die Kategorien überschreitet, weil sie wirklich allen nützt; die Aufgabe von Regeln, die jene ausgrenzen, die in Wahrheit immer schon dabei waren – klingt doch himmlisch, oder?
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Alle Episoden auf WOW Presents Plus, Teile auch auf Netflix.
Daniela Feichtinger ist promovierte Alttestamentlerin und Autorin.
Leseempfehlungen
Simon Doonan: Drag. The Complete Story, Laurence King 2019.
Tom Fitzgerald und Lorenzo Marquez: Legendary Children. The First Decade of RuPaul’s Drag Race and the Last Century of Queer Life, Penguin Books 2020.
Photo: https://www.flickr.com/photos/dvsross/, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons