Friederike Erichsen-Wendt mit einer Rezension des Buchs „Risse und Glanz“ von Emilia Handke und Kristin Jahn.
Röntgenstrahlen machen Anomalien sichtbar. Jeder Veränderung, jeder Therapie, jeder geplanten Entwicklung geht eine Diagnostik voran. So ein diagnostisches Mittel ist auch der Band „Risse und Glanz“, der „Röntgenbilder einer Kirche“, so der Untertitel, versammelt. Emilia Handke, Leiterin von „Kirche im Dialog“ der Nordkirche und designierte Direktorin des Predigerseminars in Ratzeburg, und Kristin Jahn, ehemals Superintendentin im Kirchenkreis Altenburg, jetzt Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags, haben die Dokumente unterschiedlicher Analysen der evangelischen Kirche herausgegeben. Dazu gehören Vorträge, Workshopdokumentationen, ein Diskussionsimpuls und – vor allem – Traumbilder.
Spannungsfeld von organisationaler Gestalt der Kirche und ihrer theologischen Deutung
In all diesen Genres sieht die Leserin, der Leser „Bilder von Träumenden“. Sie eint eine forschende Grundhaltung, etwa in der Benennung von Gründen gegen und für die Zukunft dieser Kirche (Heinzpeter Hempelmann) oder der Fokussierung auf das Thema Kirchenmitgliedschaft (Michael Domsgen), bei dem das Spannungsfeld von organisationaler Gestalt der Kirche und ihrer theologischen Deutung besonders hervortritt.
Der Röntgenblick macht Vieles sichtbar, was zuvor verborgen war. Kristin Jahn setzt sich auf der Basis ihrer konkreten Erfahrungen als Superintendentin mit den hemmenden Auswirkungen von Beamtentum, gegenwärtiger Ämterlehre und Steuerungsstrukturen für die notwendigen Entwicklungen von Kirche auseinander. Bereits diese Diagnose zeigt Perspektiven auf, in welchen Bereichen es sich lohnte, zeitnah wirksam strukturelle Erprobungsräume zu eröffnen. Dabei steht das alte kirchentheoretische Modell der „Gemeinde als Herberge“ Pate, das Jan Hendriks zu Beginn des Jahrhunderts neu buchstabiert hat. Hier ist es nun neu gedeutet als Ort der Mündigkeit von Christenmenschen, die gemeinsam suchen, die sich gemeinsam Inhalte erschließen. Die Aufgabe von Hauptamtlichen wird so skizziert, dass sie einen Rahmen setzen für religiöse Bildungsprozesse anderer. Sie kommen in eine Coaching- oder auch Mentoratsrolle.
Schonungsloser und zugleich liebevoller diagnostischer Blick
Der diagnostische Blick ist hier wie durchgängig schonungslos und weitreichend, zugleich aber immer liebevoll. Die gegenwärtige Kirche wird als „mühsam“ erlebt, als Begleitung einer „sterbenden Kirche“ (sie begleitet also in Teilen sich selbst dabei, von sich Abschied zu nehmen), in der Liebgewonnenes sich nicht nur weiterentwickelt, sondern „zerbricht“. Durchgriffe erfolgten mit „Pappschwertern im Regen“, blieben also weitgehend folgenlos und ohne Wirkung. Die informale Stärke, die sozialen Institutionen zu eigen ist, wird als kybernetische Schwäche gedeutet und gilt doch auch in der Kirche, von der geträumt werden kann, als Ressource.
Zukunftsbilder sind motiviert durch den Glanz, der durch Risse scheint. Das in den letzten Jahren vielbemühte Zitat von Leonhard Cohen („There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“) wird zum konkret-metaphorischen Motivator, Akteur*innen ins Spiel zu bringen. Das „Gefühl einer tiefen Berührung“ benennen die Herausgeberinnen als zentrale Resonanz der Werkstatttagung, aus der dieser Band hervorging: Etwa 100 Menschen aus verschiedenen kirchlichen Bezügen hatten sich für drei Tage „in die Peripherie“ einladen lassen, um miteinander „ehrlich Rechenschaft“ abzulegen. So, wie auch andere gute Erfahrungen damit machen, durch „world class events in a cowshed“ neue Denkbewegungen und Handlungsimpulse zu gewinnen.
Workshops mit echter Beteiligung, Traumbilder als Porträts
Der organisationskritische Impuls dieser Darstellung eines Tagungsformates ist unverkennbar. Singulär im derzeitigen „sound of change“ ist dabei meiner Beobachtung nach der Fokus auf die Akteur*innen des Wandels: In Workshops gelingt echte Beteiligung, Traumbilder zeigen sich als Porträts.
Die Workshops widmen sich der erschließenden Kraft des Kirchenjahres (am Beispiel von Ostern, gezeigt von Emilia Handke), der Kirchenmusik in den Perspektiven von Milieus und des ländlichen Raums (Beiträge mit einer realistisch-innovativen Grundhaltung aus der Feder von Jan Simowitsch), dem Thema Einsamkeit als einer Grunddisposition derzeitigen gesellschaftlichen Erlebens (Thomas Schlegel zu einem Besuchsprojekt in Erfurt) sowie der Grundhaltung einer gestreckten Begleitung von Menschen am Beispiel von Schwangerschaft und Leben mit einem Neugeborenen (Marie Dworschak zu einem gemischtprofessionellen Projekt). Diese exemplarischen Themen zeigen konkret, wie sich eine veränderte Grundhaltung im Handeln der Kirche zeigt.
Gesellschaftlichen Trends entsprechend wird dabei auf Regiolokalität gesetzt (die Parochie ist kaum mehr wert, thematisiert zu werden – allenfalls als „überdehnte Parochie“ einer reformverweigernden Kirche) und auf Neotribalismus als Zukunftstrend. Mit der minderheitlichen Kirche entstehen auch neue Formen der Vergemeinschaftung.
Bilder von Träumenden, konkreten und metaphorischen
Der Band ist reich an Bildern von Träumenden, konkreten und metaphorischen, die nicht ineinander aufgehen. Die Kirche wird auf den Röntgentisch gelegt und zeigt sich von innen. Allerdings auch: Nur von innen. Die eindrücklichen Bilder, gesehen von Thomas Hirsch-Hüffell, setzen vornehmlich das Kernteam der Nöbdenitzer Tagung in Szene – wir sehen etwa eine Herausgeberin, die die Heilige Schrift verspeist oder den Landesbischof, der vor einem Grab kniet und den Toten ein Lied singt.
Den Band prägt in seiner Konzentration auf den persönlichen Glauben und die Strukturskepsis nahezu durchgehend und nachvollziehbarerweise eine „Ost-Perspektive“. Und doch käme es bei aller Zurückhaltung und gelegentlichen Abgrenzungsrhetorik gegenüber vorfindlichen Strukturen und Organisationen darauf an, eine inhaltliche Anforderungssituation – etwa: zur Mündigkeit zu befähigen – mit einer strukturellen Entlastungssituation zu kombinieren, die auch eine gesellschaftsöffentliche Funktion übernehmen könnte. Dabei könnte überlegt werden, ob nicht konsequenterweise auch die theologische Deduktion, die an vielen Stellen des Buches aufscheint, nicht mit verabschiedet werden müsste zugunsten einer Theologieproduktivität, die erst im Gehen entsteht.
Träume und Visionen als Bausteine einer geplanten Entwicklung
Auf dem Weg zur postorganisationalen Kirche ginge es dann jedenfalls darum, ein soziotechnisches Verständnis von Kirche neu zu buchstabieren und vor allem auch: zu probieren! Träume und Visionen wären mehr als ein berührender Impuls eines neuen Bewegungschristentums, sondern Bausteine einer geplanten Entwicklung. So, wie ein Patient auch nicht allein dadurch gesund wird, dass er geröntgt ist, wenngleich dies eine entscheidende Intervention auf dem Weg sein kann.
Weitergedacht stehen Visionen schließlich nicht für sich, sondern sind fester Teil einer klassischen, mittelfristigen Organisationsstrategie – bei der noch offen ist, ob und inwiefern sie disruptiv ausgeht. Sie helfen, sich über den Fortgang zukünftiger Dinge ein Bild zu machen. Gehen muss „eine Kirche“ hingegen selbst – vor allem durch ermutigte Akteur*innen in organisationalen Netzwerk und christlichen Gemeinschaften, die Mehrdeutigkeiten handhaben und selbstverantwortlich handeln können. Dazu bietet dieser auch haptisch elegante Band eine Vielzahl von Denkanstößen und Inspirationen.
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Emilia Handke/ Kristin Jahn (Hg.): Risse und Glanz. Röntgenbilder einer Kirche, Altenburg 2022.
Autorin:
Oberkirchenrätin Dr. Friederike Erichsen-Wendt, Theologin und Organisationsentwicklerin, leitet das Referat für Strategische Planung und Wissensmanagement im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Bilder von Thomas Hirsch-Hüffell