Diese Frage wurde in Freiburg im Rahmen einer Debattierrunde von Jugendlichen des Freiburger Goethe-Gymnasiums diskutiert. Mit einem überraschenden Ergebnis. Von Eva-Maria Spiegelhalter
Das Format
Die Veranstaltung entstand in der Zusammenarbeit zwischen dem Goethe-Gymnasium und der Katholischen Akademie Freiburg. Ungewöhnlich war die Besetzung des Podiums: zu Beginn der Veranstaltung war das Podium einzig durch vier Schüler*innen besetzt, die in zwei Parteien das Thema debattierten: „Soll der verpflichtende Religionsunterricht in Baden-Württemberg durch ein weltanschaulich neutrales Schulfach Ethik für alle Schüler*innen ersetzt werden?“ Der Ablauf auf dem Podium war durch klare Regeln strukturiert. Jeder/jedem Sprecher*in standen zwei Minuten zur Verfügung, um die eigene Position deutlich zu machen. Die Reihenfolge war komplementär, d.h. auf einen Beitrag, der Partei für das weltanschaulich neutrale Schulfach ergriff, erfolgte ein Plädoyer für den Religionsunterricht.
Die Debatte
Die Debatte spiegelte – und hier wurde es spannend – weniger den theologischen bzw. religionspädagogischen Fachdiskurs wider, sondern zeigte auch auf, welche Argumente gesellschaftlich diskutiert werden und welche Fachinformationen niederschwellig ihre Anwendung finden. Bereits nach dieser ersten Debattierrunde hatte sich die Position für das weltanschaulich neutrale Schulfach eine inhaltliche Dominanz erarbeitet.
In der nächsten Runde des erfrischend strukturierten Abends veränderte sich das Podium. Jetzt waren sowohl Vertreterinnen der der katholischen Kirche, des muslimischen Religionsunterrichts und des Faches Ethik wie auch weitere Schüler*innen auf dem Podium. Die Debatte blieb auch in dieser Phase in der Hand der Schüler*innen, die ihren Standpunkt darlegten, aus ihren Erfahrungen heraus die Relevanz des Religionsunterrichts begründeten und immer wieder auch Fragen und Anfragen an die Experten auf dem Podium stellten.
Die Argumentationsstruktur der katholischen Position hatte wenig Überzeugungskraft.
Im Verlauf des Abends wurde Folgendes deutlich: Die Argumentationsstruktur der katholischen Position zur Begründung des Religionsunterrichts wurde zwar gehört, hatte aber im Laufe der Debatte wenig Überzeugungskraft. Klarer erfolgte die Auseinandersetzung mit der Position, die aus islamischer Perspektive vertreten wurde, dass der Religionsunterricht ein Ort sei, an dem die Frage gestellt werden könne, wie islamischer Glaube heute gelebt werden könne.
Viel Zustimmung erfuhr die Begründung eines weltanschaulich neutralen Unterrichtes. Als Argument wurde hier eingebracht, dass angesichts der Vereinzelung und Segmentierung von Lebenswelt ein wertneutrales Fach die Austauschmöglichkeit bieten könne, um gesellschaftlich kontrovers diskutierte Themen aufzugreifen. Schüler*innen könnten sich hier in der Kommunikation anhand der Werteverschiedenheit üben. So werde die Grundlage für eine gesellschaftliche Kommunikations- und Konfliktkultur gelegt. Vor allem durch die Beiträge der positiven Erfahrungen der Schüler*innen mit dem Religionsunterricht aber auch durch die Beiträge der Experten aus dem Bereich der Religionen wurde aber auch die Bedeutung des Religionsunterrichts deutlich: Er ist ein Ort der Kommunikation über den Glauben und ein Ort, an dem Expert*innen der jeweiligen Religion den Fragen der Schüler*innen in Bezug auf ihren Glauben Rede und Antwort stehen.
Kein Gegensatz von Religions- und Ethikunterricht
Als Lösung am Ende des Abends ergab sich folgendes Modell: Ein weltanschaulich neutrales Fach, das die Kommunikation über kontroverse Themen ermöglicht und dem gesellschaftlichen Konsens dient, soll verbindlich für alle Schüler*innen werden.
Das Fach Religion solle aus der Gegenüberstellung von Ethik befreit werden, da Religion und Ethik unterschiedlich ausgerichtet seien. Während im Fach Religion die Auseinandersetzung mit der eigenen und den selbst nicht praktizierten Religionen im Vordergrund stehe, die Frage nach der Identitätsbedeutung von Religion thematisiert werde und Religion als Sinnressource in den Blick komme, seien die Themen des Faches Ethik anders strukturiert. Daher stelle sich die Frage nicht, ob entweder Ethik oder Religion belegt werden solle. Vielmehr sollen alle Schüler*innen ein wertneutrales Fach als Plattform für die gemeinsame Wertkommunikation besuchen und die religiös interessierten den Religionsunterricht als Angebot wahrnehmen können.
Ja zu einem weltanschaulich neutralem Schulfach Ethik für alle.
Nun ist die Art des Konsenses weder ganz neu noch aus theologisch-religionspädagogischer Sicht zufriedenstellend. Denn in Berlin findet man gegenwärtig dieses Modell.1 Spannend war an dieser Debatte jedoch, wie stark die Erfahrungen der Schüler*innen mit dem Religionsunterricht die jeweils vertretene Position bestimmten. Interessant war zudem, wie sich die Stimmung im Laufe des Abends wandelte. Nach der ersten Runde war die Frage „Soll der verpflichtende Religionsunterricht in Baden-Württemberg durch ein weltanschaulich neutrales Schulfach Ethik für alle Schüler*innen ersetzt werden?“ eigentlich klar mit einem Ja beantwortet.
In der folgenden vertieften Debatte wurde aber die Berechtigung und die Besonderheit des Faches Religion thematisiert und es wurde deutlich: ein weltanschaulich neutraler Unterricht hat angesichts der Partikularisierung der Gesellschaft seine Berechtigung. Ersetzen kann er aber der Religionsunterricht nicht, denn hier wird der Zusammenhang von Identität, Religion und Sinn bearbeitet. Beide Themenbereiche sind bildungsrelevant. Eine Entweder-Oder-Logik gibt es aufgrund der inhaltlichen Verschiedenheit beider Themen nicht.
Format mit Potential – nicht nur für die Frage des Religionsunterrichts
Die Debatte war auch aufgrund der Zusammensetzung des Podiums und der Beteiligung der Schüler*innen aus dem Publikum ergiebig und konstruktiv. Die Argumente zwischen den Schüler*innen – den Laien auf der inhaltlichen Ebene – und den Experten aus den Religionen bzw. dem Bildungsbereich fand auf Augenhöhe statt. Inhaltliche Argumente der Experten wurden kritisch angefragt und beleuchtet. Und erst wenn es den Experten gelang, ihre Argumente inhaltlich schlüssig und in verständlicher Sprache einzubringen, wurden die Argumente gehört.
Durch die Schüler*innenperspektive gelangten die gesellschaftlich allgemeingeteilten Argumente für aber vor allem auch gegen den Religionsunterricht ungefiltert in die Räume der katholischen Akademie. Das Ergebnis war eine Vision davon, wie die Debatte um den Religionsunterricht sich weiterentwickeln könnte. Und es war eine Vision, welche Chancen darin bestehen, wenn es zum konstruktiven Dialog zwischen den Schüler*innen und Expert*innen, sowie zwischen religiösen und nicht-religiösen Personengruppen kommt. Nicht nur in Bezug auf den Religionsunterricht, sondern auch in Bezug auf Kirche insgesamt könnten hier Chancen liegen.
Eva-Maria Spiegelhalter, Dr. theol., Akademische Rätin für Katholische Theologie/Religionspädagogik an der PH Freiburg/Br.
Foto: Daniel Günther
Links zu den Berichten über die Veranstaltung
https://www.katholische-akademie-freiburg.de/detail/nachricht/id/172589-wozu-religionsunterricht/?cb-id=12027544&stichwortsuche=Wozu%2CReligionsunterricht%2CReligionsunterrichts
https://www.gg-fr.de/ueber-uns/aktuelles/355-jugend-debattiert-wozu-religionsunterricht
- Roser, Matthias (2018), Der „Berliner Weg“ des Religions- und-Ethikunterrichts – Zehn Jahre nach „Pro
Reli“ Berliner Modell. ↩