Ghassan Sahoui SJ leitet den Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) in Aleppo und berichtet aus dem Alltag der umkämpften Stadt vor der Feuerpause.
Wenn ich darüber nachdenke, dass ich in Aleppo lebe, einer der gefährlichsten Städte der Welt, in der man immer in Gefahr ist, sage ich mir: Das ist wirklich Wahnsinn! Mörser, Bomben und Raketen gehen wahllos auf unsere Stadtviertel nieder. Wir leiden täglich unter Bombenangriffen, seit die reguläre Armee ihre Offensive gegen die bewaffneten Rebellengruppen verstärkt hat. Diese Angriffe hinterlassen zahlreiche Opfer und Schwerverletzte, ganz zu schweigen von den verheerenden Schäden.
Gehen oder bleiben?
Dies ist im Wesentlichen der Grund, warum sich Aleppo immer weiter entvölkert. Vor allem die Christen fliehen aus der Stadt. Fünf Jahre Krieg haben viele Familien zu der Entscheidung getrieben, aufzubrechen und an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen. Von den fast 130.000 Christen, die vor der Krise in Aleppo wohnten, sind nur rund 30.000 geblieben. Der Großteil derjenigen, die das Land noch nicht verlassen haben, sieht sich jeden Tag aufs Neue mit der quälenden Frage konfrontiert: auswandern oder nicht? Für das Bleiben sprechen die Nachrichten der Migranten, die sich im Exil nicht wohlfühlen, sondern unglücklich und unzufrieden sind.
Wir versuchen, das Leben so gut wie nur möglich zu genießen.
Leben mit dem Tod
Die Einwohner Aleppos, die es weiterhin schaffen, hier zu überleben, scheinen auf jeden Fall über eine außergewöhnliche Widerstandskraft und Belastbarkeit zu verfügen. Manche passen sich an, andere akzeptieren ihr Los, ohne sich zu beklagen, und nahezu alle sind fatalistisch geworden. Sie gehen weiterhin ihren Beschäftigungen nach oder spazieren durch die Straßen, selbst wenn Granaten niedergehen: „Ob ich nun bei mir zu Hause oder auf der Straße getroffen werden – wenn es passieren soll, dann soll es so sein!“ Es ist schwierig, unsere Beziehung zum Tod zu beschreiben. In gewisser Hinsicht leben wir stets mit ihm und erwarten ihn in jeder Minute, so erschreckend das auch klingen mag. Aber es hat auch seine guten Seiten: Wir leben jede Minute unseres Lebens so, als wäre es unsere letzte. Wir versuchen, das Leben so gut wie nur möglich zu genießen. Es ist wahr, dass wir gelernt haben, jegliche Zukunftspläne zu vermeiden. Wir hören jedenfalls trotz der ganzen Komplexität unserer Situation nicht auf zu träumen und dafür zu beten, dass der Frieden eines Tages zurückkehren wird!
Unendliche Sorgen
Was das Leben in Aleppo noch härter macht, sind die unendlichen Sorgen, die die Menschen jeden Tag haben. Der Alltag wird davon bestimmt, dass wir versuchen, Grundbedürfnisse wie die Versorgung mit Wasser, Heizöl und Elektrizität sicherzustellen. Manchen gelingt es, je nach ihrem Budget den elektrischen Strom zu kaufen, der jeden Tag für einige Stunden verfügbar ist. Wasser lässt sich nur nach einem wahren Hürdenlauf finden, da es leider seit etwa drei Wochen vollständig abgeschaltet ist.
Unsere Mission
160 Freiwillige in Aleppo
Was ist also unter diesen schwierigen Bedingungen unsere Mission? In Solidarität mit den Opfern zu leben, ihnen zu helfen, ihre Leiden etwas zu lindern, ihre Hoffnung in diesem finsteren Tunnel des Leidens, das bereits fünf Jahre andauert, neu zu beleben. Das ist im Wesentlichen das, was der Flüchtlingsdienst der Jesuiten (JRS) in Aleppo täglich und unermüdlich macht, seit er zu Beginn der Krise von Pater Mourad Abou Seif SJ ins Leben gerufen wurde. Mehr als 160 Freiwillige, Christen und Muslime, Araber, Kurden und Armenier, arbeiten gemeinsam in sehr guter und freundschaftlicher Atmosphäre. Es gibt untereinander keine Probleme und wir arbeiten auch mit weiteren humanitären Organisationen zusammen. So erreichen wir in Aleppo mehr als 10.000 Familien, das sind insgesamt nahezu 60.000 Personen. Der Großteil dieser Menschen sind Muslime, die aufgrund der Gefechte aus ihren Vierteln geflüchtet sind. Die Christen, die von unserer Hilfe profitieren, sind überwiegend Familien, die ökonomisch von der Krise betroffen sind.
Verschiedene Hilfsangebote
Wir stellen ihnen ganz verschiedene Hilfsangebote bereit: Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, Medikamente und chirurgische Eingriffe, ebenso wie psychosoziale Aktivitäten. Wir haben viele Frauengruppen und auch eine Nähwerkstatt, die einen kleinen Verdienst bietet. In einem anderen Projekt arbeiten wir mit Kindern, die an Autismus leiden. Nicht unerwähnt lassen möchte ich unsere jüngste Initiative in Zusammenarbeit mit einem sehr angesehenen Institut in Aleppo, das zum Ziel hat, hunderten Jugendlichen dabei zu helfen, eine gute berufliche Ausbildung zu erhalten. Das wird ihnen bei der Arbeitssuche sehr nützlich sein, denn leider gibt es eine erschreckend hohe Arbeitslosigkeit. Andere Projekte, die wir Jesuiten unterstützen, richten sich an Familien, die aufgrund des exorbitanten Preisanstiegs keine ausreichenden finanziellen Mittel mehr haben und in die völlige Armut abzustürzen drohen. Wir unterstützen sie, damit sie einigermaßen würdevoll überleben können. Auf der anderen Seite konzentrieren sich unsere Anstrengungen speziell auf die jungen Studenten. Wir bieten ihnen Stipendien und einen ruhigen, hellen und geheizten Raum zum Studieren, damit sie den Abschluss schaffen können.
Sein barmherziger Blick
Begleiten, Trost zusprechen, ein Lächeln auf die Lippen zaubern, den Menschen Hoffnung und Halt geben, die genau das unter diesen unglücklichen Umständen dringend brauchen – das versuchen wir jeden Tag zu tun. Manchmal ist es ganz und gar nicht einfach! Die Vielzahl der Bedürfnisse und damit auch die Bandbreite der Projekte sind derartig angestiegen, dass man sich manchmal völlig hilflos fühlt. Dennoch ist es diesem sanften und unendlich barmherzigen Blick von Ihm zu verdanken, der für uns arm und nackt geworden ist, an das Kreuz des unmenschlichen Irrsinns des Bösen genagelt, dass die Hoffnungslosigkeit keinen Weg in unsere Herzen findet.
Bildquelle: Jesuitenmission