Das Thema Bildung ist politisch wie kirchlich hoch aufgeladen. Hier scheinen sich alle Ansprüche an das Individuum für ein gutes Leben und das Gemeinwohl zu bündeln. Birgit Hoyer fragt nach Motivation und Perspektive katholischer Schulen.
Die christlichen Kirchen haben eine lange Bildungstradition. Ihre Konzepte reagieren auf die Herausforderungen, oft die Misstände der jeweiligen Zeit. Mit 26 Schulen in eigener Trägerschaft gehört das Erzbistum Berlin zu den großen Playern in der katholischen Schullandschaft, aber auch unter den freien Trägern im Land Berlin. Warum muss sich Kirche heute mit eigenen Schulen engagieren? Und glaubt die Kirche dabei den eigenen Glaubenssätzen?
Die Attraktivität der katholischen Schulen in Berlin und Brandenburg ist hoch. Das beweisen die Anmeldezahlen, die die verfügbaren Schulplätze weit übersteigen. Dieser Umstand zeugt von der Qualität der Schulen und der Professionalität der Lehrkräfte und des pädagogischen Personals, aber auch von den Mängeln des öffentlichen Schulsystems, sowie den Ansprüchen von Eltern, die nicht wünschen, dass ihre Kinder in der Schule die gesamte Vielfalt an sprachlichen, kulturellen, religiösen und sexuellen Identitäten und Orientierungen erleben, nach reformpädagogischen Konzepten unterrichtet werden, etc.
Brüchige Selbstverständlichkeiten.
Durch den Entwicklungsprozess des Systems der 26 Schulen in Berlin und Brandenburg zieht sich die Frage nach dem Leitbild als roter Faden. Die Beschäftigung mit Zahlen, Daten, Fakten schärft den Blick für die Eigenheiten und spezifischen Ressourcen des kirchlichen Schulsystems, aber auch für die unbeantworteten Fragen und brüchigen Selbstverständlichkeiten. Wie lassen sich die Werte formulieren, die die Schulen leiten? Wo lassen sie sich ablesen im schulischen Alltag? In den Gesprächen mit Schulleitungen wird schnell klar, dass es nicht reicht, sich mit dem Leitsatz zu begnügen: „Bei uns steht das Kind im Mittelpunkt.“ Wie wird dieser Satz erlebbar, im konkreten Kontext verstehbar?
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine steht als aktuellstes Zeichen für das Implodieren der Systeme, auf deren Funktionieren Gesellschaften und Institutionen über Jahrzehnte gebaut haben. In allen Schulen sind die Folgen des Drucks bei Schüler:innen wie Lehrkräften befördert durch die Pandemiesituation spürbar. Existentielle Themen treiben alle Mitglieder der Schulgemeinschaft um, zeigen sich in körperlichen wie psychischen Auffälligkeiten, aber auch in der Suche nach Halt, nach Antworten und Lösungen. Sicher die Spitze des Eisbergs: Im März 2021 schrieben die Schulleitungen im Erzbistum Berlin. „Die Ressourcen der Schulleitungen im Erzbistum sind erschöpft. Nicht nur in der Hochphase der Pandemie fühlten wir uns stark belastet, z.T. überlastet.“ Darüber hinaus belastet die Führungskräfte die Situation der katholischen Kirche: „Als Funktionsträger im kirchlichen Dienst stehen wir für die Werte der katholischen Kirche und ihre pädagogische Vermittlung. Wir sehen in der aktuellen öffentlichen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle wenig Transparenz und müssen uns zunehmend dafür rechtfertigen, für die katholische Kirche tätig zu sein. Wir wünschen uns den Austausch hierüber, der unsere persönliche Entscheidung für den Dienst in der katholischen Kirche stärkt.“ Das Eigene scheint fremd zu werden und Beunruhigung auszulösen. Wie gehen wir mit dem Fremden im Eigenen um?
Geboren als unmündige Noch-nicht-Menschen?
Der Hinweis auf das christliche Menschenbild als Basis katholischer Schule darf in keinem Leitbild, keiner Ordnung fehlen. „Der Beitrag kirchlicher Bildungsverantwortung zu einem konsensfähigen Ziel für Erziehung und Bildung läßt sich unter dem Stichwort ‚Mensch-werdung in Solidarität‘ zusammenfassen,“1 so die deutschen Bischöfe. Im evangelischen Kontext wird Bildung als Erziehung zu „verantwortungsbewusster Mündigkeit“2 beschrieben. Hier tut sich das Spannungsfeld auf, in dem mit dem christlichen Menschenbild agiert wird. Einserseits wird die Ebenbildlichkeit des Menschen betont, andererseits die Unfertigkeit des Menschen hervorgehoben, der erst durch Bildung zum Menschen wird. Wenn Menschwerdung und Mündigwerden auf Basis des christlichen Menschenbilds formulierte Ziele sind, dann muss wohl im Umkehrschluss gelten, dass im christlichen Verständnis unmündige Noch-nicht-Menschen auf die Welt kommen, die erst zu Menschen erzogen werden müssen.
Löst das christliche Menschenbild die Widersprüchlichkeit, als freier, bedingungslos gewollter Mensch geboren zu sein, der dann zur Mündigkeit zu erziehen ist, auf oder ist sie sein Inhalt? Welchen Habitus generiert ein christliches Menschenbild? Einen Habitus der Veränderung oder der Anpassung? In der Suche nach Antworten wird das Konzept der narrativen Identität interessant. In diesem Kontext könnte sich die paradoxe Struktur von Identität – auch eines christlichen Menschenbilds „als Effekt einer spezifischen synthetisierenden Aktivität […], nämlich des Erzählens“3 begreifen lassen. „Die Frage ist dann nicht mehr, inwiefern ich heute derselbe bin wie früher […]. An die Stelle der Frage nach der Gleichheit der Person zu verschiedenen Zeiten oder in verschiedenen sozialen Rollen tritt so das Problem der Übereinstimmung mit sich selbst.“4
Gott übersteigt jeden Funktionalismus.
Im christlichen Menschenbild ginge es damit nicht mehr um das Streben nach der mit christlichen Werten übereinstimmenden Substanz der Person, sondern um die individuelle Stimmigkeit und Einheit des Lebens, die im Erzählen einer Vielzahl – auch kontroverser – Geschichten entsteht. Ein Bildungsbegriff, der sich daran orientiert, rechnet mit dem Risiko der Infragestellung bestehender Welt- und Selbstverhältnisse und den damit verbundenen Krisen, weil er Bildung nicht in der Erfüllung, sondern durchaus in der Auflösung von Ordnungen und damit im Zwischen von Dekonstruktion und Konstruktion sieht.
Das christliche Menschenbild wird im Wechselspiel mit den Aussagen über den christlichen Gott formuliert. „Der Gott Israels dagegen übersteigt jeden Funktionalismus.“ Das hob der damalige Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann in seinem Kommentar zum Bildungskongress der Kirchen im Jahr 2000 hervor. Der evangelische Theologe Eberhard Jüngel bestärkt dieses Verständnis: „Gott ist weltlich nicht notwendig.“5 Damit werden Gott und Mensch aus den engen, allzu menschlichen Verstrickungen und Instrumentalisierungen in politischen Machtverhältnissen gelöst.
Hier verbindet sich die Beschreibung der Fremderfahrung von Waldenfels mit der theologischen Rede von Gott und einem transformatorischen Bildungsbegriff. „Die Erfahrung dessen, was sich zeigt, indem es sich dem Zugriff einer je herrschenden Ordnung entzieht, kann insofern als eine Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse verstanden werden, als dieses Sich-Entziehen die Ordnung in Frage stellt, die dem Wahrnehmen, Denken und Handeln und damit dem Welt- und Selbstverständnis eines Individuums oder einer sozialen Gruppe zugrunde liegt.“6 Die nach Waldenfels responsive Struktur der Fremderfahrung, die auf einen Anspruch antwortet, der vom Fremden ausgeht, schlägt die Brücke zwischen Theologie und Bildungswissenschaft und folgt man Hartmut Rosa – auch zur Soziologie.
Rückbesinnung auf Anrufbarkeit.
Rosa erkennt im hörenden Herz eine Grundkompetenz für das Funktionieren von Demokratie und fasst diese im Begriff der Resonanz, „Ich glaube, diese Gesellschaft braucht die Rückbesinnung auf genau diese Fähigkeit der Anrufbarkeit und die Erfahrung der entsprechenden ergebnisoffenen Selbstwirksamkeit.“7 Der Soziologe formuliert den theologischen und bildungsphilosophischen Anspruch des sich in seiner Erscheinung zeigenden und zugleich entziehenden Fremden als Kern von Religion aus. Dieser Kern ist ein „Resonanzversprechen […] Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung.“8 Er ermöglicht ein angstfreies, nicht ausgrenzendes Antworten auf den Anspruch des Fremden und damit die Entstehung eines neuen Selbst- und Weltverständnisses.
Katholische Schulen werden mit der Wichtigkeit begründet, die Gottesfrage wachzuhalten, interessanterweise nicht zu beantworten. Damit wird eine auch das Bildungssystem irritierende Dimension der Unverfügbarkeit betont, die im christlichen Verständnis Gott und den Glauben an Gott mit einbezieht. Bildung ist ein Prozess des Anderswerden, der Fremderfahrung, des sich selbst Fremdwerdens. Bildung in diesem Sinne ist nicht zu kontrollieren, sondern zu ermöglichen und allenfalls zu begleiten. Katholische Schulen können Räume der Resonanzerfahrung und Begegnung mit dem Fremden, das sich im Entziehen zeigt, schaffen, um – individuell, gesellschaftlich und kirchlich – transformatorische Bildungsprozesse anzuregen, bestehende Ordnung zu dekonstruieren und anders denken zu lernen. Mit Leo J. O’Donovan, dem Präsidenten der Georgetown-Universität in Washington, rief Kardinal Lehmann mit dem Bildungskongress 2000 dazu auf: „Schafft Sabbatinhalte, Sabbaträume, Sabbatzeiten in unseren Bildungsinstitutionen, dann tut Ihr das komplementär Richtige, auch zum Nutzen der Ökonomie, vor allem aber zum Wohl der Menschen, denn das oberste Ziel […] ist nicht die Nützlichkeit, sondern das gute […] Leben.“
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Birgit Hoyer, Dr. habil., Bereichsleiterin Bildung im Erzbistum Berlin, Honorarprofessorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen, Frankfurt a.M.
Bild: Werbung für ein Demokratie-Konzert „Einander Zuhören“ des Gewandhaus zu Leipzig am 16.09.2022.
- Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Kommission für Erziehung und Schule, Nr.13, Bildung in Freiheit und Verantwortung, Erklärung zu Fragen der Bildungspolitik, Bonn 1993, 15. ↩
- Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2003, 61. ↩
- Koller, Hans-Christoph, Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformativer Bildungsprozesse, Stuttgart 22018, 36. ↩
- Koller, Bildung anders denken, 37. ↩
- Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 72001, 19. ↩
- Koller, Bildung anders denken, 82. ↩
- Rosa, Hartmut, Demokratie braucht Religion, München 2022, 38. ↩
- Rosa, Demokratie braucht Religion, 41. ↩