Karl-Josef Kuschel wird heute 75 Jahre alt. Christoph Gellner zeigt, wie Kuschel auf dem Feld von „Theologie und Literatur“ mit seinem dialogischen Ansatz einen ganz eigenen Stil zeit- und (inter-) kulturell sensibler Theologie ausprägte.
Ein Ausnahme-Theologe und examinierter Germanist: seine von Hans Küng und Walter Jens betreute Dissertation «Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur» wurde zum Initiationsimpuls, um den Dialog zwischen Theologie und Literatur ganz neu zu erschließen. Viele Jahre forschte und lehrte Karl-Josef Kuschel in Tübingen als Professor für Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs.
In die «Schule der Literaten» gegangen, erreichen seine Spurensuchen nach dem Religiösen in der Dichtung ein interessiertes Publikum weit über kirchlich-akademische Kreise hinaus. Zudem legte er mit «Streit um Abraham» oder «Die Bibel im Koran» religionstheologische Schlüsselpublikationen zum Verhältnis von Christen, Juden und Muslimen vor, ebenso zu den fernöstlichen Religionen und deren Rezeption in der deutschsprachigen Literatur («Rilke und der Buddha», «Im Fluss der Dinge. Hermann Hesse und Bertolt Brecht im Dialog mit Buddha, Laotse und Zen».)
Für die vielfältigen Inspirationen seines Lebenswerks wurde Karl-Josef Kuschel 2019 mit dem «Theologischen Preis» der Salzburger Hochschulwochen ausgezeichnet. Die Jury hob die «subtilen wie profunden Verständigungsversuche zwischen Literatur und Theologie» hervor, zugleich habe Kuschels in zehn Sprachen übersetztes Oeuvre auch für den ökumenischen und interreligiösen Dialog «Gesprächs- und Denkräume aufgeschlossen». 2022 erhielt Kuschel für seine grenzüberschreitenden Dialogbeiträge den Toleranzring der Europäischen Akademie für Wissenschaft und Künste.
Mut zur Begegnung mit gegenwärtiger Kultur und Religion
«Im Dialog mit der Dichtung»: Zum 75. Geburtstag dieser Gründergestalt des Forschungsfelds von «Theologie und Literatur» im deutschsprachigen Raum am 6. März 2023 zeichnet Georg Langenhorst erstmals in einem Gesamtblick Kuschels paradigmatischen Neuansatz und sein methodisches Vorgehen, die thematischen Entfaltungen sowie die Breite seines Wirkens bis in die aktuellen theologisch-literarischen Diskurse[1] nach. Ich selber habe dies als Student, Doktorand und Akteur auf dem Grenzgebiet von Theologie, Literatur- und Religionswissenschaft mitverfolgen können und greife 3 Punkte aus Langenhorsts analytisch-informativem Porträt heraus:
Paradigmatischer Neuansatz: Das Verhältnis von Theologie und Literatur versteht Kuschel neu als wechselseitige Korrelation auf Augenhöhe, als gegenseitige produktive und kritische Anregung und Infragestellung. Mit dem von Dietmar Mieth ähnlich benannten Doppelblick von Anknüpfung und Widerspruch, auf Entsprechungen und Entfremdungen, macht er Ernst mit dem vom Konzil stark gemachten Dialog-Paradigma: Gaudium et spes 62 bejaht erstmals die Lebens- und Sprachautorität von Literatur und Kunst als gegenwartshermeneutisch relevante Zeugnisse menschlicher Existenz.
Ernstnehmen literarischer Werke als autonome Selbstzeugnisse
Nach Entsprechungen suchen, in strukturellen Analogien denken, heißt gerade nicht vereinnahmen. Ebenso wenig bedeutet Dialog Preisgabe der eigenen Identität, vielmehr Neubuchstabieren des Eigenen im Licht der Herausforderung des Anderen – auch das Trennend-Widersprüchliche zur christlichen Wirklichkeitsdeutung muss dabei klar benannt werden, nur so wird das Verhältnis von Theologie und Literatur ein Verhältnis von Spannung, Dialog und Ringen um die Wahrheit.
Die neue Qualität der dialogischen Begegnung von Dichtung und Theologie liegt im Ernstnehmen literarischer Werke als autonome Selbstzeugnisse, ja, zeitdiagnostische Erfahrungsquelle. Christliche Theologie dürfe sich nicht als Antwortgeberin auf alle existentiellen Fragen präsentieren. Vielmehr sei das Ziel eine Theologie mit einem anderen Stil, die selbst fragend und auf der Suche bleibt.
Theologie, die in die Schule der Literat:innen geht
Die Treue zur christlichen Ur-Kunde mit der Wirklichkeitsdeutung großer Literatur verbinden, darum geht es Kuschel: Breite Wirkung erzielte er mit seinen in den 1980er und 90er Jahren publizierten Gesprächen mit Gegenwartsautor:innen, die begleitet wurden von ebenso induktiv ansetzenden Aufsätzen zu biblisch-religiösen Motiven in zeitgenössischer Literatur (wie insbesondere Jesus, Maria oder Weihnachten), zur Gottes-, Theodizee- und Schuldthematik. «Im Spiegel der Dichter» bündelt 1997 diese Forschungen im Blick auf «Mensch, Gott und Jesus» zu «Umrissen einer Poetik des Menschen», zu ersten Konturen einer Christopoetik bzw. Theopoetik unter der leitenden Frage: Wie müsste eine zeitgenössisch sensible Theologie aussehen, die in die Schule der Literaten gegangen ist?
Zugleich erschließt Kuschel immer weitere neue Horizonte: 2002 erschien eine weitausgreifende Monografie über die theodizeesensible Gottesleidenschaft Heinrich Heines als Meister der Moderne, gerade in Sachen Religion. «Jesus im Spiegel der Weltliteratur» weitet den Fokus seiner Dissertation 1999 zu einer kulturenübergreifenden Jahrhundertbilanz, ja, zum Milleniumswechsel leuchtete der Tübinger Theologe und Germanist das unverwechselbare Profil Jesu von Nazarets im Ensemble der großen Gestalten der Weltliteratur wie Don Juan, Hamlet, Hiob, Odysseus, Ödipus, Faust, Antigone und Kassandra aus.
Horizonterweiterungen bei gleichzeitig schwindendem Interesse an zeitgenössischer Literatur
Bereits 1998 war als erster Band von «Weltreligionen und Literatur» eine Studie über «Lessing und die Herausforderung des Islam» herausgekommen, der ein bahnbrechender Essay über Rilkes Islam-Erfahrung unter dem programmatischen Titel «Gott von Mohammed her fühlen» folgte sowie 2021 eine eigene Monographie über «Goethe und der Koran». Und auf Rilkes lyrisches Nachdenken über den Buddha folgte 2018 eine große Untersuchung über Hesses und Brechts Fernostrezeption als Lerngeschichte in der Begegnung von Religionen und Kulturen mit Erkenntnisgewinn für heute.
Zu Recht stellt Langenhorst heraus: Im Lauf der Jahre entwickelt Kuschel einen ganz eigenen Stil, ja, eine induktiv-narrative Methode im Umgang mit Literatur und ihren Autor:innen. Er bemüht sich, sowohl problemorientiert zu analysieren als auch erfahrungsbezogen-biografisch zu erzählen, wie Religion aus erschließbaren Lebenskontexten herauswächst und literarische Gestalt gewinnt. So weit wie möglich wird (Kultur-) Wissenschaft narrativ entfaltet – spannend zu lesen und lehrreich zugleich –, sodass Kuschels Bücher nicht nur sachlich informieren, sondern immer auch ästhetisch fesseln.
Die unübersehbaren Interessensverschiebungen hinsichtlich der von Kuschel bearbeiteten Themen spiegeln auch den Relevanzverlust von Theologie und Kirche seit den 80er Jahren. Gewiss, Kuschel war nie binnenkirchlich auf «christliche Literatur» oder « literarischen Katholizismus» fixiert. Die noch Ende der 1990er Jahre formulierte systematisch-theologische Zielvision einer «umfassenden Anthropologie, Theologie und Christologie im Gespräch mit den großen Dichtern» blieb bislang jedoch ungeschrieben, wie Langenhorst zutreffend resümiert. Kritisch stellt er zudem Abblendungen, insbesondere eine nachlassende Neugier auf Werke der unmittelbaren Gegenwartsliteratur heraus.
Biografie und Theologie: eine Art Lese- und Lebensbilanz
Die religiösen Energiequellen unserer Kultur im Raum der Dichtung freizulegen: bewusst ausserhalb der bekannten «Theotope» kirchlich-schulmässiger Glaubenswissenschaft: Eine gerade im Blick auf Biografie und Theologie höchst aufschlussreiche Bilanz legte Kuschel selber 2022 mit «Magische Orte. Ein Leben mit der Literatur» vor. Anhand seines eingestandenermaßen subjektiv beschränkten Kanons (der bis zu Martin Walser reicht) verbindet das Buch Autobiografie und Topografie zu 15 Explorationen sinnlicher Literaturwissenschaft und führt an Orte, die ihm die Sinne schärfen halfen.
Was moderne Menschen Romane und Gedichte lesen lässt, ist der Umstand, dass sie spielerisch und explorativ ganz unterschiedliche Arten und Formen der Weltbeziehung ausprobieren können: Kuschels Lesebilanz bündelt der Epilog «Von der Liebe zur Literatur um ihrer selbst willen» in 7 Leitworte: «Kunstwerke: Unableitbar in ihrer Entstehung» – «Unkontrollierbar in ihren Wirkungen» – «Unausschöpfbar in ihren Bedeutungen» – «Statthalter des Unverfügbaren» (hier nimmt Kuschel nochmals Bezug auf Hartmut Rosa) – «Vom Nutzen der Nutzlosigkeit» – «Mit Gewissen auch im Ohr» – «Literatur als Überlebensmittel». Zentrale Aspekte von Kuschels Biografie und Theologie bilden auch den Leitfaden des soeben erschienenen Gesprächsbands mit dem Journalisten Matthias Drobinski «Ich lerne durch Begegnung».
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Christoph Gellner, Dr. theol., ist Experte für Religion und Literatur. sowie Mitglied der Gesellschaft für die Erforschung der Deutschschweizer Literatur G.E.D.L.
Bild: https://karl-josef-kuschel.de/vita/
[1]Vgl. Christoph Gellner: Theologie und Literatur. Eine Zwischenbilanz angesichts neuerer Verschiebungen im religiösen Feld, in: Andreas Mauz/Daniel Weidner (Hg.): Literatur und Religion. Paradigmen der Forschung, Berlin 2023 (im Druck).