Im Vorfeld der letzten Versammlung des Synodalen Weges fahndet Erich Garhammer nach Spuren des schwierigen theologischen Erbes von Joseph Ratzinger in der Debatte: Elitäre Theologie vs. Einfacher Glaube.
Die Sensation war perfekt: am 11. Februar 2013 kündigte Papst Benedikt XVI. seinen Rücktritt vom Papstamt an. Zwei Tage später, am 13. Februar, traf er sich mit dem römischen Klerus, um sich von ihm zu verabschieden. Dabei hielt er eine frei formulierte Rede über seine Deutung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Er wollte diese Erkenntnisse wie ein Vermächtnis weitergeben. Am Schluss seiner Rede stellte er fest: es habe zwei Konzilien gegeben – das wirkliche Konzil und das Konzil der Medien. Das von den Medien gemachte Konzil werde bald vergessen sein, das wahre Konzil aber solle zum Leuchten kommen.
Diese Interpretation suchte er schon während seines Pontifikats zu realisieren. Es war sein Anliegen, das Konzil durch die Gestaltung des 50-jährigen Jubiläums seiner Einberufung mit einer eigenen Symbolpolitik neu zu deuten und einzuhegen. Er hat mit dem Motu Proprio „Porta fidei“ vom 11. Oktober 2011 entschieden, ein Jahr des Glaubens auszurufen. Der 11. Oktober wurde aber nicht nur als der 50. Jahrestag des Beginns des Konzils erinnert, sondern auch als das zwanzigjährige Jubiläum der Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche. Der Katechismus sollte die Konzilsrezeption in geordnete Bahnen lenken. Zugleich sollte er den Gläubigen die Kraft und die Schönheit des Glaubens neu vor Augen führen. Ebenso wurde für Oktober 2012 die Bischofssynode zum Thema „Die Neuevangelisierung zur Weitergabe des Glaubens“ einberufen.
Bemerkenswerte Einschätzungen
Ebenfalls 2012 wurde Band 7 der Gesammelten Schriften von Joseph Ratzinger in zwei Teilbänden herausgegeben. Darin enthalten sind seine Konzilsschriften. Im Vorwort hält Benedikt drei bemerkenswerte Einschätzungen fest: Das Konzil wurde deshalb am 11. Oktober eröffnet, weil Papst Pius XI. 1931 auf diesen Tag das Fest der Gottesmutterschaft Marias gelegt hat. Johannes XXIII. wollte damit das Konzil der mütterlichen Güte Marias anvertrauen und fest im Geheimnis Jesu Christi verankern. Das wusste bislang so noch niemand.
Ferner blieb Benedikt XVI. weiter bei seiner Kritik an der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“. Hinter dem verschwommenen Begriff „Welt von heute“ stehe ein ungeklärtes Verhältnis zur Neuzeit. Die Bischöfe auf dem Konzil verstanden sich als Lernende des Heiligen Geistes. Vom Lernen der Bischöfe vom Gottesvolk, das Ratzinger noch als Konzilstheologe vertreten hat, war nun nicht mehr die Rede[1].
Vorrang der Kontinuität: die Sorge für den unverfälschten Glauben
Bemerkenswert ist auch, dass Band 7 nicht mit der Genueser Rede beginnt, sondern mit Texten zur Eucharistie[2]. Auch das war Symbolpolitik. Nicht die Rede von Genua ist der hermeneutische Schlüssel seiner Konzilsschriften, sondern der Eucharistische Weltkongress von 1960. Damit sollte das Konzil endgültig aus einer Reformperspektive befreit und in eine Kontinuitätstheologie gestellt werden: „Die Konzilsväter konnten und wollten nicht eine neue, eine andere Kirche schaffen. Dafür hatten sie weder Vollmacht noch Auftrag. Väter des Konzils mit Stimme und Entscheidungsrecht waren sie nur als Bischöfe, das heißt auf dem Grund des Sakraments und in der Kirche des Sakraments. Sie konnten und wollten deshalb nicht einen anderen Glauben oder eine neue Kirche schaffen, sondern nur beides tiefer verstehen und so wahrhaft ´erneuern´. Deshalb ist eine Hermeneutik des Bruchs absurd, gegen den Geist und gegen den Willen der Konzilsväter.“[3]
Neuer Glaube in der Kirche
Wenn man einmal diesen Aspekt der Kontinuität, der Sorge um den wahren Glauben bei Ratzinger- ausgelöst durch ein biografisches Angsterlebnis im Jahre 1963, es könnte ein neuer Glaube in der Kirche eingeführt werden- erkannt hat, sprechen plötzlich seine Schriften, die immer für den Neuerer Ratzinger in Stellung gebracht wurden, eine andere Sprache. Seine theologische Wende zeigte sich bereits 1964 in allen seinen Veröffentlichungen. Er hat diese Theologie in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst dann normativ gemacht.
Einführung in das Christentum: Hans der Christ
Bereits im Vorwort der ersten Auflage der „Einführung in das Christentum“ von 1968 hatte Ratzinger angemerkt, dass Sinn und Inhalt des christlichen Glaubens immer mehr von einem Nebel der Ungewissheit umgeben seien. Wenn man die Bewegung des letzten Jahrzehnts analysieren wolle, müsse man sehen, dass plötzlich das Neue für das Bessere gehalten wurde. Man fühlte sich an die Geschichte von Hans im Glück erinnert, der den Goldklumpen, der ihm zu mühsam und zu schwer geworden war, der Reihe nach vertauschte, um es bequemer zu haben. Zunächst tauschte er den Goldklumpen für ein Pferd, dann für eine Kuh, dann für eine Gans und schließlich für einen Schleifstein, den er endlich ins Wasser warf, ohne dabei noch die Sorge zu haben viel zu verlieren. Ganz im Gegenteil, was er nun eintauschte, war das köstliche Geschenk völliger Freiheit, wie er meinte. Dieser Hans im Glück sei heute der arme Hans der Christ, der sich vertrauensvoll von der Theologie von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation habe (ver)führen lassen und bald statt des Goldes nichts mehr in der Hand gehabt habe, sondern nur noch einen Schleifstein, den wegzuwerfen man ihm nun leicht raten konnte.
Projekt einer elitären Theologie
Diese These veranschaulicht dann Joseph Ratzinger im Text der Einführung in das Christentum unter dem Punkt „das Dilemma des Glaubens in der Welt von heute“. Es sei dazu gekommen, dass plötzlich das Neue zum Leitbegriff geworden sei: war früher der Begriff der Tradition ein prägendes Programm und erschien sie als das Bergende, worauf sich der Mensch verlassen konnte im Leben und im Sterben (!), so sei heute genau das Gegenteil der Fall. Tradition erscheine als das Abgetane, als das bloß Gestrige, der Fortschritt dagegen als die eigentliche Verheißung des Seins, so dass der Mensch sich nicht mehr am Ort der Tradition, sondern im Raum des Fortschritts und der Zukunft ansiedle. Von daher muss ihm ein Glaube, der ihm unter dem Etikett der Tradition begegne, als das Überwundene erscheinen. Das menschliche Denken, das immer ein Denken des Seins gewesen sei, habe einen Paradigmenwechsel vollzogen. An die Stelle des Seins sei das Faktum getreten, die Gleichsetzung von Wahrheit und Sein wurde abgelöst von der Gleichsetzung von Wahrheit und Tatsache (!). Die Herrschaft des Faktums bewirkte die radikale Zuwendung des Menschen zu dem von ihm Gemachten als der einzigen Gewissheit. Dieses Credo wurde noch einmal gesteigert im Marxismus: aus dem Faktum wurde ein Faciendum. Das Reich Gottes – der Zentralbegriff des Christentums – wurde nun zum Reich des Menschen, es ging um die bessere Welt von morgen. Gott war nicht mehr oben, sondern vorne. Wenn Gott vorne ist, dann wird theologisches Denken in einen immer mächtiger werdenden Strom philosophischer und politischer Reflexion hineingezogen. Die Kirche und der Glaube der einfachen Menschen werden dann das Projekt einer elitären Theologie.
Die römische Bewertung des Synodalen Weges: ein Erbe der Ratzinger-Theologie
Genau diese Sicht taucht in kurialen Texten in der Bewertung der deutschen Kirche immer wieder auf. Sie sei zu professoral ausgerichtet, zu verstrickt in administrative Zusammenhänge und zu wenig geistlich grundiert. Beim Ad limina-Besuch der deutschen Bischöfe im November 2022 bekamen sie von zwei Kurienkardinälen genau das zu hören. So formulierte etwa Kardinal Marc Ouellet, Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe, beim interdikasteriellen Treffen mit den deutschen Bischöfen folgende Beobachtungen: Er sei überzeugt, dass es nicht Absicht der Bischöfe sei, einen Bruch mit der universalen Gemeinschaft der Kirche herbeizuführen, und dass sie auch kein verkürztes christliches Leben befürworten, das eher dem „Zeitgeist“ als dem Evangelium entsprechen würde.
Er wisse vielmehr, die Zugeständnisse, die in den Vorschlägen des Synodalen Wegs auftauchen, würden durch den sehr starken kulturellen und medialen Druck erzwungen. Es sei jedoch signifikant, dass die Agenda einer begrenzten Gruppe von Theologen von vor einigen Jahrzehnten plötzlich zum Mehrheitsvorschlag des deutschen Episkopats geworden sei: Abschaffung des Pflichtzölibats, Weihe von viri probati, Zugang von Frauen zum geweihten Amt, moralische Neubewertung der Homosexualität, strukturelle und funktionale Begrenzung hierarchischer Macht, von der Gender-Theorie inspirierte Überlegungen zur Sexualität sowie wichtige Änderungsvorschläge zum Katechismus der Katholischen Kirche. Viele Gläubige fragten sich, wie es so weit kommen konnte. Es falle schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die äußerst gravierende Angelegenheit der Missbrauchsfälle ausgenutzt werde, um andere Ideen durchzusetzen, die nicht unmittelbar damit zusammenhängen.
Ärgernis bei den einfachen Gläubigen
Und dann fuhr er – fast wörtlich im Ratzinger-Ton – fort, die Ursache zu beschreiben: Es scheint uns, dass wir vor einem Projekt der Veränderung der Kirche stehen. Dieser Vorschlag verletze die Gemeinschaft der Kirche, weil er Zweifel und Verwirrung unter dem Volk Gottes säe. Tagtäglich würden die Kurie unmittelbare Zeugnisse erreichen, die das Ärgernis beklagen, das diese Vorschläge bei den einfachen Gläubigen verursachen, die einen Bruch mit der katholischen Tradition bedeuten.
Hier wird die Ratzinger-Theologie glasklar formuliert: es gehe beim Weg der deutschen Kirche um ein Projekt der Professorenkirche, die die Veränderung der Kirche betreibe, dadurch deren Kontinuität aufs Spiel setze und damit die einfachen Gläubigen verletze.
Solange dieser Zusammenhang nicht durchschaut wird, wird der Synodale Weg bei allem Argumentationsaufwand das Stigma der Häresie nicht loswerden.
Erich Garhammer, Prof. Dr., war Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg von 2000 bis 2017, Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ (2004-2021) und Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.
Aktuelle Veröffentlichung: Erich Garhammer, Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird Joseph Ratzinger/Benedikt XVI, Würzburg 2023.
[1] Joseph Ratzinger, Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Formulierung – Vermittlung – Deutung, Freiburg i.B. 2012. Gesammelte Schriften 7,1, 5–9.
[2] Ebd. 41-72.
[3] Ebd. 8f.
Die skizzierten Zusammenhänge werden in Erich Garhammer, Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird: Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI., Würzburg 2023 (erscheint demnächst) näher entfaltet.
Bildquelle: Pixabay