Welche theologischen Vorstellungen prägen die Musik des hoch umstrittenen Rappers Kanye West? Tübinger Theologiestudierende teilen ihre gemeinsamen Entdeckungen aus einem von Simon Linder verantworteten Seminar.
Eine Info vorab: Weil er seit 2021 den Namen „Kanye West“ nur noch wenig verwendet und seinen alten Spitznamen „Ye“ als bürgerlichen Namen trägt[1], werden wir von ihm hier als „Ye“ schreiben.
Der Rapper Ye stand in den vergangenen Jahren nicht nur wegen musikalischer Erfolge in der Öffentlichkeit. Er war auch häufig mit untragbaren Aussagen auffällig geworden. So hatte er etwa im Jahr 2018 gesagt: „When you hear about slavery for 400 years – 400 years? That sounds like a choice.“[2] Die öffentliche Empörung war groß – doch nicht so groß, als dass er seine Werbeverträge (unter anderem mit Adidas) verloren hätte. Das änderte sich erst im vergangenen Oktober, nachdem Ye sich (wieder einmal) antisemitisch geäußert hatte.[3]
Nun saßen wir jeden Dienstag im Seminar, hörten Yes Songs und diskutierten über seine Perspektiven auf den Glauben. Wollten wir uns nach seinen ungeheuerlichen Ausfällen weiterhin mit seiner Musik beschäftigen? Unsere Antwort lautete: Ja! Aus einer wissenschaftlichen Perspektive schien es uns umso drängender, nachzuzeichnen, welche Entwicklungen wir in seinen theologischen Vorstellungen beobachten – denn, so sollte sich zeigen, seine politische Radikalisierung fand nicht abseits davon statt.
Wichtig erscheint uns zu Beginn, auf Yes bipolare Störung hinzuweisen.[4] Ye leidet dadurch unter extremen Stimmungsschwankungen: Depressive und manische Phasen wechseln sich ab. Doch auch wenn seine Erkrankung möglicherweise manche Verhaltensweisen erklären kann, so entschuldigt sie doch keine seiner diffamierenden Aussagen.
Von den Anfängen zur Abkapselung
Nachdem Ye als Produzent einige Erfolge gefeiert hat, landet er im Jahr 2004 mit „Jesus Walks“ seinen ersten großen Hit als Rapper. Darin erzählt Ye von sich als einem Suchenden, der mit Gott in Kommunikation treten möchte: „I wanna talk to God but I’m afraid ‚cause we ain’t spoke in so long“. Auf den drei folgenden Alben spielen Glaube und Religion jedoch kaum eine Rolle. Auf dem Album „Yeezus“ werden religiöse Begriffe dann vor allem zur Selbstdarstellung genutzt.
Mit dem Album „The Life of Pablo“, das im Jahr 2016 erscheint, kehrt das Thema Religion zurück. Im Titel spielt Ye auf das Leben des Paulus an. Gleich der erste Song handelt von einem „Ultralight Beam“, einem Lichtstrahl – für uns ein Verweis auf das „Damaskusgeschehen“. Seit vier Jahren ist Ye zu diesem Zeitpunkt mit der Influencerin Kim Kardashian liiert, das Ehepaar hat bereits zwei Kinder (eines davon trägt den Namen „Saint“[5]).[6] Seine Familie vergleicht er mit der Heiligen Familie – in einer Szenerie des 21. Jahrhunderts: „‚What if Mary was in the club / ‚Fore she met Joseph with no love?‘ / Cover Saint in lambs‘ wool / We surrounded by the f*****‘ wolves“. Ye und Kim werden in seiner Vorstellung zu Josef und Maria. Seine Umwelt nimmt Ye als Gefahr wahr („f*****‘ wolves“) – Grund genug für ihn, sich gemeinsam mit seiner Familie von der Welt abzukapseln.
Von US-amerikanischer Kultur zur Mission
Die Gospel- und Worship-Elemente, die Ye zuvor nur sporadisch einsetzte, intensivieren sich auf dem Album „Jesus Is King“. Ye hat einen Gospelchor gegründet, mit dem er Gottesdienste veranstaltet.[7] Er wird zu einem Missionar. Seine Texte sind nun eher von klassischen Worship-Sätzen geprägt: „God is my all and all“ und „Everything that I have, praise the Lord“ (im Song „God Is“). Das macht gläubigen Menschen den Zugang zu seiner Musik leichter: Es braucht kein Wissen mehr über das Luxusleben eines Hip-Hop-Weltstars, um Anspielungen zu verstehen.
Seine missionarischen Aktivitäten setzen sich auf dem Album „Donda“, das nach seiner verstorbenen Mutter[8] benannt ist, fort. Er wendet sich immer stärker in Richtung der Gläubigen. Zu Beginn seiner Karriere lehnte er diese Rolle noch ab: „I ain’t here […] to convert atheists into believers“ („Jesus Walks“). Nun jedoch benennt er als Ziel seiner Musik: „Save my People through the music“ („Heaven and Hell“). Ye möchte zum Vermittler des Glaubens werden: „Tell me if you know someone that needs Jesus Lord“ („Jesus Lord“). Er fordert auf: „Pray for new life“ („Heaven and Hell“).
Von der Enttäuschung zum Selbstverlust
Wenn er auf „Donda“ über seine Enttäuschungen, so über das Ende seiner Beziehung mit Kim Kardashian, berichtet, klingt das manchmal wie ein letzter Auftritt der Person Ye, die ihr Leben reflektiert und in Beziehung mit ihrem Glauben setzt. Es erweckt den Eindruck, als sage Ye sich von sich selbst los – er übergibt sich in die Arme Gottes: „Lord I need you to wrap your arms around me / I give up on doin‘ things my way“ („Lord I Need You“). Findet er nun bei Gott die Gelassenheit, den Frieden und die Liebe, um die er in „Ultralight Beam“ gebetet hatte? Leider nicht: Ausgerechnet in diesem Moment scheint Ye den Zugang zur Welt zu verlieren – und damit zur Reflexion, zur Vernunft und auch zu sich selbst.
In „God Breathed“ stellt Ye fest: „Trust man, he a failure“. Das erinnert an Papst Benedikt XVI., der einst schrieb, „dass jedes Du im Grunde doch auch wieder eine Enttäuschung ist und dass es einen Punkt gibt, wo keine Begegnung die letzte Einsamkeit übersteigen kann“[9]. Die „Entweltlichung“[10], die der verstorbene Papst predigte, setzt Ye um: „I don’t care ‚bout the lawyer fees / I don’t care ‚bout your loyalties / God will solve it all for me“. Seiner Selbsteinschätzung gegenüber wird Ye dabei immer unkritischer: „It’s hard to be an angel when you’re surrounded by demons“ („Jesus Lord“). Seine Leistungen würden ohnehin nicht wahrgenommen: „And everything that you do good, it just go unnoticed“ („Jesus Lord“). Hier kann man einen enttäuschten Mann beobachten, der alle für sein eigenes Unglück verantwortlich macht – nur sich selbst nicht.
Von der Politisierung zum Rechtsradikalismus
Ye politisiert sich zunehmend: Im Song „Jesus Is Lord“ setzt er sich für die Freilassung des ehemaligen Gangleaders Larry Hoover Sr. ein, der wegen diverser Straftaten (inklusive Anstiftung zum Mord) zu 200 Jahren Haft verurteilt wurde.[11] Und dann sitzt er Ende des vergangenen Jahres mit den Rechtsradikalen Alex Jones und Nick Fuentes – wenn er einmal ganz sicher „surrounded by the f*****‘ wolves“ („Wolves“) war, dann hier – in einem TV-Studio, leugnet den Holocaust und erklärt, dass er Hitler möge[12]; er postet auf Twitter einen Davidstern mit Hakenkreuz[13]; und leider könnte diese Liste indiskutabler Hassrede weitergeführt werden.
Ye hat sich von der Realität verabschiedet. Diese Entwicklung ereignete sich zunächst in seinem Glauben. Mit der Zeit wirkte sie sich auf seine politischen Ansichten aus. Yes Einfluss ist (z. B. mit 18 Millionen Followern auf Instagram[14]) immer noch groß – umso wichtiger scheint es uns, sich weiter mit seiner Musik und seinem Glauben zu beschäftigen. Es bleibt zu hoffen, dass es Ye gelingt, seinen „holy war“ („Ultralight Beam“), in den er sich mit seiner „army of God“ („Selah“) verirrt hat, zu überwinden – damit sein eigenes Gebet aus „Ultralight Beam“ erfüllt wird: „Deliver us serenity / Deliver us peace / Deliver us loving / We know we need it / You know we need it“.
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Text: Noah Bakos, Kira Beer, Anna Flaith, Judith Greber, Carina Kibler, Simon Linder, Sophie Zawodnik.
Bild: Jorge Jimenez auf Pixabay.
Einen Podcast zum Seminar kann man hier hören:
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[1] Vgl. „Kanye West hat offiziell neuen Namen“.
[2] Vgl. Kaur, „Kanye West Just Said 400 Years of Slavery Was a Choice“.
[3] Vgl. adidas, „Adidas Terminates Partnership with Ye Immediately“; vgl. „Adidas beendet Zusammenarbeit mit Kanye West“.
[4] Vgl. „Kim Kardashian spricht über Erkrankung von Kanye West“.
[5] Vgl. „Kim Kardashian: Kanye West will weitere Kinder haben“; vgl. „Kim Kardashian und Kanye West: Die Scheidung ist offiziell durch“.
[6] Vgl. „Kim Kardashian: Kanye West will weitere Kinder haben“; vgl. „Kim Kardashian und Kanye West: Die Scheidung ist offiziell durch“.
[7] Vgl. Bonner, „Here’s Your Crash Course in Kanye West’s Super-Exclusive Sunday Service“.
[8] Vgl. von Bülow, „Rap-Mutter starb nach Schönheits-OP“.
[9] Ratzinger, Einführung in das Christentum, 98.
[10] Papst Benedikt XVI., „Apostolische Reise nach Deutschland: Begegnung mit engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft“.
[11] Vgl. Seidel, „Larry Hoover Tries Again for Sentencing Break, Says He Wants ‘Nothing to Do’ with Gangster Disciples“.
[12] Vgl. „Kanye West in Talkshow ‚Infowars‘“.
[13] Vgl. „Twitter wirft Kanye West raus“.
[14] Vgl. „Ye (@kanyewest)“.
Quellen:
adidas. „Adidas Terminates Partnership with Ye Immediately“, 25. Oktober 2022. https://www.adidas-group.com/en/media/news-archive/press-releases/2022/adidas-terminates-partnership-ye-immediately/.
Bonner, Mehera. „Here’s Your Crash Course in Kanye West’s Super-Exclusive Sunday Service“. Cosmopolitan, 19. April 2019. https://www.cosmopolitan.com/entertainment/a26987520/kanye-west-sunday-service/.
Bülow, Ulrike von. „Rap-Mutter starb nach Schönheits-OP“. stern.de, 13. November 2007. https://www.stern.de/lifestyle/leute/kanye-west-rap-mutter-starb-nach-schoenheits-op-3220930.html.
Der Spiegel. „Kanye West hat offiziell neuen Namen: Ye he can“, 19. Oktober 2021, Abschn. Kultur. https://www.spiegel.de/kultur/musik/neuer-name-fuer-rapper-kanye-west-ye-he-can-a-4f91f9e0-2092-4c13-93ea-c1a93d4209ac.
Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Kanye West in Talkshow ‚Infowars‘: ‚Ich mag Hitler‘ – Entsetzen in sozialen Medien“, 2. Dezember 2022. https://www.rnd.de/promis/kanye-west-in-talkshow-infowars-ich-mag-hitler-entsetzen-in-sozialen-medien-TV27ORBGUNBOXH4T6QBPMHKT6U.html.
Kaur, Harmeet. „Kanye West Just Said 400 Years of Slavery Was a Choice“. CNN, 1. Mai 2018. https://www.cnn.com/2018/05/01/entertainment/kanye-west-slavery-choice-trnd/index.html.
FOCUS online. „Kim Kardashian: Kanye West will weitere Kinder haben“, 21. April 2016. https://www.focus.de/panorama/boulevard/medien-kim-kardashian-kanye-west-will-weitere-kinder-haben_id_5456000.html.
Süddeutsche.de. „Kim Kardashian spricht über Erkrankung von Kanye West“, 22. Juli 2020. https://www.sueddeutsche.de/panorama/kim-kardashian-kanye-west-bipolare-stoerung-1.4976300.
STERN.de. „Kim Kardashian und Kanye West: Die Scheidung ist offiziell durch“, 30. November 2022. https://www.stern.de/lifestyle/leute/kim-kardashian-und-kanye-west–die-scheidung-ist-offiziell-durch-32962222.html.
Papst Benedikt XVI. „Apostolische Reise nach Deutschland: Begegnung mit engagierten Katholiken aus Kirche und Gesellschaft“. Konzerthaus Freiburg im Breisgau, 25. September 2011. https://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2011/september/documents/hf_ben-xvi_spe_20110925_catholics-freiburg.html.
Ratzinger, Joseph. Einführung in das Christentum: Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. München: Kösel, 2005.
Seidel, Jon. „Larry Hoover Tries Again for Sentencing Break, Says He Wants ‘Nothing to Do’ with Gangster Disciples“. Chicago Sun-Times, 7. Juli 2022. https://chicago.suntimes.com/crime/2022/7/7/23198126/larry-hoover-sentence-break-first-step-act-gangster-disciples.
n-tv.de. „Twitter wirft Kanye West raus“, 2. Dezember 2022. https://www.n-tv.de/leute/Twitter-wirft-Kanye-West-raus-article23758006.html.
Instagram. „Ye (@kanyewest)“. Zugegriffen 30. Januar 2023. https://www.instagram.com/kanyewest/.