Andreas R. Batlogg ist Jesuit – so wie Franziskus, der heute vor zehn Jahren zum Papst gewählt wurde. Im Folgenden erklärt er, warum er seinen Mitbruder – noch immer – für einen echten Reformer hält.
Eines gleich vorweg: Meine Wertschätzung und meine Bewunderung für Franziskus sind ungebrochen, auch zehn Jahre nach seiner Wahl. Und ich sage das nicht, um Restexemplare meiner beiden Papstbücher loszuwerden[i]. Dieser Papst hat Bewegung in die Kirche gebracht, er hat sie aufgerüttelt, er hat sie jesuanischer gemacht – und das ist gut so!
Aufatmen
Wer erinnert sich nicht an das Aufatmen, das seinerzeit durch die Kirche ging? Die ersten Eindrücke machten bewusst: Auch so – spontan, direkt, undiplomatisch, geradeheraus, unverstellt, ja: menschlich – kann ein Bischof von Rom sein. Keiner hatte mit dem argentinischen Kardinal Jorge Mario Bergoglio gerechnet. Undenkbar schien, dass erstmals in der Geschichte ein Jesuit zum Bischof von Rom gewählt werden könnte – auch wenn sich im Konklave 2005 reformwillige Kardinäle offenbar wünschten, dass aus dem „Martini rosso“, dem Mailänder Jesuitenkardinal Carlo Maria Martini († 2012), ein „Martini bianco“ werden würde. Und noch nie zuvor hatte ein Papst den Namen des Poverello von Assisi angenommen.
Franziskus wurde zu einer gigantischen Projektionsfläche für Erwartungen aller Art. Er musste auch enttäuschen! Dieser so nahbare Papst ist in vielerlei Hinsicht ein protokollarisches „Sicherheitsrisiko“. Beherrschbar, berechenbar ist er auch nach einem Jahrzehnt nicht. Das stört. Innerkirchlich vor allem: den „Apparat“, sprich: die Römische Kurie, und diejenigen, die ganz genau wissen, wie sich ein Papst zu benehmen hat, was er sagen darf und was nicht, was er tun sollte und was nicht.
Mit dem Kopf, nicht mit dem Knie
Mittlerweile steht Franziskus im 87. Lebensjahr. Mit Blick auf sein Alter denken sich manche vielleicht: Ewig dauert das nicht mehr! Als er sich im Sommer 2021 einer Darm-OP unterziehen musste, wurden Redaktionen nervös. Erste Nachrufe wurden geschrieben. Franziskus ist gebrechlich geworden. Ein Knieleiden zwingt ihn seit Monaten in den Rollstuhl. Bei Gottesdiensten, wie auch beim Requiem für seinen Vorgänger, musste er dem Dekan des Kardinalskollegiums den Vorsitz überlassen. Franziskus sagt gelassen, dass er die Kirche mit dem Kopf regiert, nicht mit dem Knie. Böse Zungen ergänzten: Dann soll er seinen Kopf auch benutzen!
Kritik an Franziskus kommt seit längerer Zeit unverhohlen daher, manchmal unverschämt. Dieser Papst muss einiges einstecken. Hätte sich ein Johannes Paul II. ultimativ auffordern lassen, ein päpstliches Schreiben zu erläutern, wie dies die vier „Dubia“-Kardinäle 2016 nach Erscheinen von „Amoris laetitia“ getan haben, das wie kein anderes Dokument seit „Humanae vitae“ kontroversiell aufgenommen wurde? Hätte ein Benedikt XVI. die Vorwürfe eines ehemaligen Nuntius hingenommen, der den Papst der Lüge bezichtigte? Wie hätte er auf den Vorwurf im letzten Text des während einer Operation verstorbenen Kardinals George Pell reagiert, der Franziskus vorhielt, das Projekt des weltweiten synodalen Prozesses sei „ein toxischer Alptraum“?
Synodalität als große Vision
Franziskus lud selbst immer wieder ein, ihm zu widersprechen. Manche tun’s offen. Andere nicht. Oder nur hintenrum. Tratsch, Klatsch und Geschwätz bringen ihn auf die Palme. Seine Wutausbrüche, überhastete Schnellschüsse, einsame Personalentscheidungen hängen offenbar damit zusammen. Gern weicht er vom Manuskript ab. Dabei geht aber auch manches schief. Er verplappert sich manchmal, er bedient (wie bei seiner Kritik am Synodalen Weg) Narrative, wiederholt Stereotype. Auch der Macho in ihm kommt immer wieder zum Vorschein[ii].
Ich muss nicht jede Äußerung, nicht jede Geste, nicht jeden Text, nicht jeden Vergleich als gelungen oder hilfreich empfinden. Fehleinschätzungen und -entscheidungen gab es: systembedingte und selbstgemachte. Personalien verunglückten. Es sei doch alles nur ein „Stil-“, aber kein „Perspektivenwechsel“, sagen Kritiker, eben: „Symbolpolitik“.
Ich meine nach wie vor: Dieser Papst ist ein Reformpapst! Aber das ist immer schwerer plausibel zu machen. Seine große Vision ist Synodalität. Eine synodale Kultur in der Kirche zu etablieren braucht jedoch Zeit. Viel Zeit. Manche ihm Wohlwollende glauben inzwischen nicht mehr daran. Für mich ist der weltweite, im Oktober 2023 und 2024 in Bischofssynoden mündende synodale Prozess keine „Partizipationssimulation“.
Globale Themen
Weltreligionen, Weltfrieden, Weltklima: Globale Themen beschäftigen Franziskus. Mehrmals hat er arabische Staaten bereist. Er setzte spektakuläre Zeichen der Versöhnung zwischen Konfliktparteien. Mit der Sozial- und Umweltenzyklika „Laudato sì“ sorgte er im Vorfeld der Pariser Klimakonferenz für Aufsehen. Auf die minimalistische Andacht auf dem menschenleeren Petersplatz zu Beginn der Corona-Pandemie folgte die Enzyklika „Fratelli tutti“. Wer hat davor von einer „Zeitenwende“ gesprochen? Immer wieder regt er dazu an, sich einzumischen, „Krach zu machen“, sich nicht abzufinden. Er warnt vor Ausgrenzungen aller Art, redet Europäern und Nordamerikanern ins Gewissen, wenn sie auf die Migrationsproblematik mit Mauern und Kontingenten reagieren. Lampedusa und Lesbos wurden zu Chiffren gegen eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“.
Gleichwohl kann sich Franziskus in Diözesen einmischen. Mit dem Motu proprio „Traditionis custodes“ (Juli 2021) hat er sich deutlich von seinem Vorgänger Benedikt XVI. abgesetzt. Kardinäle hat Franziskus abgesetzt, zwangslaisiert oder in eine Auszeit geschickt, die Spitze des Malteserordens setzte er abrupt ab, ebenso wie er die Leitung von „Caritas internationalis“ neu aufstellte. Aber vieles lief nicht transparent oder konsequent, wurde rückgängig gemacht oder nachgebessert. Das irritierte – und irritiert.
Prinzip der universalen Geschwisterlichkeit
Am 3. Februar 2019 flog Franziskus ins Emirat Abu Dhabi. Noch nie zuvor hatte ein Papst die arabische Halbinsel betreten. Der Papst unterzeichnete zusammen mit Ahmad al-Ṭayyib, dem ägyptischen Großimam der Al-Azhar-Universität – am 800. Jahrestag der Begegnung zwischen Franz von Assisi und dem Sultan von Ägypten und Syrien, Muhammad Malek al-Kāmil – das Dokument über die „Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“[iii]. Vier Jahre später, im Februar 2023, wurde in Abu Dhabis neuem Kulturviertel Sa’adiyat Island das „Haus der abrahamitischen Familie“ eröffnet, das – seinerzeit vom Kronprinzen der VAE angeregt – eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche als eigenständige Gebäude samt gemeinsamer Konferenzräume umfasst. Dieses Zentrum ist ein Symbol für den geschwisterlichen Dialog mit den nichtchristlichen Religionen, auf den das Konzil die Kirche eingeschworen hat.
Das Engagement des Papstes, sein „Prinzip der universalen Geschwisterlichkeit“, ist „der rote Faden“[iv] seiner Amtszeit geworden. Dass er und die ihm zuarbeitenden vatikanischen Behörden genau an diesem Punkt „unter Beobachtung“ stehen seitens restaurativer Gegner des letzten Konzils, ist gewiss. Franziskus ähnelt in vielem Johannes XXIII. und dessen „Prinzip der Pastoralität“[v]. Wie dieser wird Franziskus theologisch unterschätzt. Wir lesen ihn immer noch zu sehr mit einer „europäischen“ Brille. Er hat sich nicht nur von der „Theologie des Volkes“, einer argentinischen Variante der Befreiungstheologie um Lucio Gera inspirieren lassen, sondern auch von Yves Congar, Henri de Lubac, Michel de Certeau und Romano Guardini, um nur einige herausragende Namen zu nennen.
Mentalitäten ändern
Dieser Papst wirbt für eine missionarische „Kirche im Aufbruch“. Und für offene Türen. Und offene Räume: Über Frauenordination und die Freistellung des Zölibats wird wieder geredet und gestritten. Wer „Evangelii gaudium“ (2013) liest – für mich eine geistlich-theologische Lektüre –, begegnet prophetischen Impulsen aus „Gaudium et spes“ (1965), „Evangelii nuntiandi“ (1975) und dem Dokument von Aparecida (2007), der fünften CELAM-Konferenz. Gleichwohl: Für Franziskus sind Strukturen zweitrangig. Er will Herzen motivieren und Mentalitäten ändern. Das ist schwieriger und zeitaufwendiger als mit Machtworten zu regieren.
„Wegwerfgesellschaft“ oder „Diese Wirtschaft tötet“: Solche Analysen schockierten. „Die Enzykliken rüttelten auf, der jesuitische Stil öffnete Diskussionen und manche spontane Äußerungen ermöglichten vielfältige Interpretationen. Manche hat er nach einem Jahrzehnt Pontifikat ernüchtert, wenn nicht sogar enttäuscht“[vi]: So eine „Bilanz“ in einem Bändchen zum Jubiläum. Stefan von Kempis erkennt darin einen „Jesaja im Vatikan“: „Dieser Papst überzeichnet gnadenlos, um auf Missstände aufmerksam zu machen; er sorgt dafür, das die glatt und passend gemachte Botschaft des Evangeliums wieder eckig wirkt, lästig – ,Stein des Anstosses‘.“[vii] Er favorisiert deswegen den „Prophetie-Leseschlüssel für dieses Pontifikat“[viii].
Papst Franziskus begeisterte in diesen zehn Jahren – und er eckte an. Tun das nicht auch Propheten? Weitere Überraschungen sind nicht ausgeschlossen.
Andreas R. Batlogg ist Jesuit, Theologe und Publizist.
[i] Vgl. Andreas R. Batlogg, Der evangelische Papst. Hält Franziskus, was er verspricht? München 2018; ders. – Paul M. Zulehner, Der Reformer. Von Papst Franziskus lernen – ein Appell. Würzburg 2019 (22020).
[ii] Vgl. etwa zur Frauenfrage neuestens: Theresia Heimerl, Der Teufel steckt in der Struktur. Zehn Jahre Papst Franziskus, in: Herder Korrespondenz 77 (2023/3) 16-18.
[iii] Online abrufbar unter: https://www.vatican.va/content/francesco/de/events/event.dir.html/content/vaticanevents/de/2019/2/4/fratellanza-umana.html; vgl. auch Ernst Fürlinger, Handwerker der Hoffnung. Papst Franziskus und der interreligiöse Dialog. Innsbruck 2023, 199-205; zur Geschichte des Dokuments vgl. ebd. 190-197.
[iv] Fürlinger, Der Beitrag von Jorge Mario Bergoglio/Papst Franziskus zum interreligiösen Dialog, in: ders., Handwerker der Hoffnung, 15-58, 16.
[v] Margit Eckholt, Das Gesicht des Südens, in: Herder Korrespondenz 76 (2022/10) 13-16, 13.
[vi] Thomas Arnold, Franziskus, der Versöhner des Volkes Gottes, in: Jürgen Erbacher – Bernd Hagenkord SJ – Stefan von Kempis, Papst Franziskus, der Rufer in der Wüste. Leipzig 2023, 6-8, 7.
[vii] Stefan von Kempis, Papst Franziskus: Ein Rufer in der Wüste?, in: ebd. 54-68, 55.
[viii] Ebd. 59.
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