Sie waren die Stars der französischen Kirche: die Gründer:innen der Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Regina Heyder stellt ein Buch vor, das ihren tiefen Sturz („la chute des étoiles“) beschreibt. Die Samstagsrezension auf Feinschwarz.net.
Nur selten wird fremdsprachige theologische Fachliteratur ins Deutsche übersetzt, doch die Thematik des spirituellen und sexuellen Missbrauchs in katholischen Gemeinschaften scheint Ausnahmen nahezulegen: Im Juli des vergangenen Jahres erschien bei Aschendorff „Verheißung und Verrat. Geistlicher Missbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche“, dessen Autor Dysmas de Lassus Generalprior der Kartäuser ist.[1] Vor wenigen Tagen hat nun Herder den hier zu rezensierenden, ebenfalls aus dem Französischen übersetzten Band „Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften“ publiziert.[2] Autorin ist die französische Journalistin Céline Hoyeau, Herausgeberin der deutschen Ausgabe die Theologin und Vulnerabilitätsforscherin Hildegund Keul, die in ihrer inspirierenden Einleitung die vielfältigen Formen des Missbrauchs unter der Perspektive des Vulnerabilitätsdiskurses analysiert. Johanna Beck steuert ein persönlich gehaltenes Nachwort bei. Die Titelgrafik zeigt eindrücklich, um was es geht: Zu sehen ist die Hand eines Marionettenspielers mit Spielfäden. Nicht sichtbar ist dagegen die Puppe respektive Person, die an diesen Fäden hängt: Manipulation und spiritueller wie sexueller Missbrauch in den Neuen Geistlichen Gemeinschaften machen aus Betroffenen Marionetten, deren Bewegungen, ja, deren Existenz vollständig vom Willen der Täter:innen abhängen. Betroffene beschreiben einen Verlust des Selbst und sprechen von Depersonalisierung.
Massenhaft des Missbrauchs überführt
Céline Hoyeau, geboren 1977, befasste sie sich erstmals im Oktober 2019 für die französische Tageszeitung La Croix mit dem „Verrat der Väter“, der titelgebend für ihr Buch werden sollte. Diese Väter und in einigen Fällen auch Mütter sind Gründer:innen der Neuen Geistlichen Gemeinschaften (NGG), von deren Aktivität vor allem im Pontifikat Johannes Pauls II. ein neuer Frühling in der Kirche erwartet wurde und die heute massenhaft des spirituellen wie sexuellen Missbrauchs überführt sind. Marie-Dominique Philippe, Thomas Philippe, Jean Vanier, Alix Parmentier, Ephraïm und Pierre-Marie Delfieux sind einige der bekannten Täter:innen. Ihre Opfer sind Mitglieder der NGG, in denen sie dem Machtmissbrauch und der Ausbeutung durch die Gründer ausgeliefert waren. Wo sich der flächendeckend verübte spirituelle Missbrauch darüber hinaus im sexuellen Missbrauch manifestierte, sind die Betroffenen vornehmlich erwachsene Frauen, in einigen Fällen auch erwachsene Männer.
Verstorben oder verjährt
Strafrechtlich konnten die wenigsten Täter verurteilt werden, weil sie bereits verstorben oder die Taten verjährt sind. Kirchenrechtlich wurden dagegen einige Gründer laisiert, ihrer Ämter in den Gemeinschaften enthoben oder dauerhaft vom Ordensleben ausgeschlossen. Eine Ausnahme stellt der Dominikaner Thomas Philippe dar, der wegen Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs bereits 1952 seine Gründung Lebendiges Wasser (L‘eau vive) verlassen musste und 1956 vom Heiligen Offizium wegen „falschem Mystizismus“ verurteilt wurde. Die Strafen inkludierten u. a. das Verbot des Beichthörens, der geistlichen Begleitung und des Aufenthalts in Frauenklöstern. Thomas Philippes Ziehsohn Jean Vanier wurde (vergeblich) angehalten, jeden Kontakt zum Thomas Philippe abzubrechen und sich von ihm zu distanzieren. Besonders bitter: Die Gründung der Arche als Gemeinschaft von Menschen mit und ohne geistige Behinderung im Jahr 1964 durch Jean Vanier und Thomas Philippe stellt sich heute als ein Manöver dar, um letzterem einen regulären Platz in der Kirche zu sichern. Der jüngst publizierte Untersuchungsbericht macht öffentlich, dass auch der Laie Jean Vanier mindestens 25 erwachsene Frauen in der Geistlichen Begleitung sexuell missbraucht hat.[3]
Hoyeau kennt die NGG sowohl aus einer professionellen als auch aus einer biografischen Perspektive, denn als Jugendliche ist sie in den 1990er Jahren selbst einigen Gründern begegnet, die damals als „heilige Männer“ galten. Ausgangspunkt war eine Erfahrung, die Doris Reisinger „spirituelle Vernachlässigung“ nennt – weder Pfarrei noch Schulseelsorge konnten Hoyeaus Glauben „nähren“ oder ihre religiöse Sehnsucht stillen (vgl. S. 33–40).[4] Die Folge war eine Art Spiritualitätstourismus zu den von den NGG betriebenen Zentren. Hoyeaus Liste beeindruckt: Exerzitien in den Foyers der Barmherzigkeit (Foyers de Charité) und bei der Gemeinschaft der Seligpreisungen (Communauté des Béatitudes), ein Jugendfestival des Neuen Wegs (Chemin Neuf), Sonntagsmessen bei den Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem in Paris und in einer von der Gemeinschaft vom heiligen Johannes (Communauté St. Jean) betreuten Pfarrei, Weltjugendtage. Die Anbindung an die NGG ermöglicht ihr das ersehnte religiöse Abenteuer: Hoyeau arbeitet zwei Monate in einem Hospiz in Benares und lebt während des Heiligen Jahres 2000 drei Monate lang als Voluntärin in Rom, um für Radio Vatikan eine Jugendsendung zu moderieren.
Streng hierarchisch und kaum Mitbestimmung
Wiederholt stellt Hoyeau die Frage, wie es zu diesem flächendeckenden spirituellen und sexuellen Missbrauch in den einzelnen NGG kommen konnte. Eine befriedigende Antwort, das sei vorweggenommen, kann auch sie nicht bieten – immer bleibt die erschreckende Tatsache, dass die Gründer:innen jenes Evangelium pervertierten, zu dessen Verbreitung sie beizutragen vorgaben. Dennoch lohnt ein Blick auf die von Hoyeau genannten Facetten. Da sind zum einen das persönliche Charisma und die oft plausiblen Gründungsimpulse. Gleichzeitig agieren die Gründer:innen in einer Zeit, die skeptisch auf Regeln und Konventionen blickt, und sie wissen dies zu nutzen, indem sie sich selbst – und gelegentlich auch die Mitglieder ihrer Gemeinschaften – von kirchlichen Vorschriften dispensieren. Bewährte Regeln wie die Trennung von forum internum und forum externum werden umgangen; die NGG sind streng hierarchisch aufgebaut und kennen kaum Mitbestimmungsrechte – wozu auch, wissen sich die Gründer:innen doch durch mystische Erfahrungen oder den Heiligen Geist selbst legitimiert.
Spezifische Lage der französischen Kirche
Hinzu kommt die spezifische Lage der französischen Kirche: In „la France, pays de mission“, wie ein berühmter Buchtitel von 1943 lautet,[5] sind nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits Säkularisierungstendenzen wahrnehmbar und andererseits eine „apostolische Dynamik“, für die etwa das 1954 durch Pius XII. beendete Experiment der Arbeiterpriester und die Aktivitäten der Katholischen Aktion stehen. Dennoch ist ein kontinuierlicher Rückgang der religiösen Praxis festzustellen, der sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nochmals beschleunigt. Hoyeau nennt etwa die Erklärung zur Religionsfreiheit Dignitatis humanae, die die persönliche religiöse Praxis der je individuellen Entscheidung überlassen habe. Gleich, ob es sich hier um Unkenntnis oder ein intentionales Missverständnis einer Konzilserklärung handelt – die negative Sicht auf das Konzil gehört zu den Legitimationsfiguren der meisten Gründer:innen.
Die Kirche retten
Wer „die Kirche retten“ möchte, muss ihre Krise möglichst umfassend darstellen (vgl. S. 61–65). Er muss die nachkonziliare Liturgie diskreditieren (und dabei geflissentlich übersehen, dass vorkonziliare Messfeiern keineswegs immer erhebend waren), um die Heiligkeit und Schönheit der eigenen, oft byzantinisch inspirierten Liturgien zu betonen. Die Gründer:innen beherrschen diese Klaviatur perfekt – und berufen sich doch auf das Aggiornamento des Konzils, das sie neu und radikal zu leben vorgeben. Möglicherweise sind es also weder allgemeine Säkularisierungstendenzen noch die Reformen und Abbrüche in der Kirche, die den NGG in die Karten spielen, sondern vielmehr eine grundlegend dualistische, polarisierte Wahrnehmung der gesellschaftlichen und kirchlichen Realitäten, die bei Verantwortlichen in der Kirche wie auch in den Erwartungen von Gläubigen wirksam ist. Immer wieder ist erkennbar, wie sehr Hierarchie und Gläubige an diese Lichtgestalten glauben wollten. Dementsprechend wäre es heute eine kirchen- und gesellschaftspolitische Aufgabe, mit Ambiguitäten zu leben lernen.
Unterstützung durch Johannes Paul II.
Die Gründer erfreuten sich der Förderung durch Johannes Paul II., der für sein Projekt der Neuevangelisierung insgesamt auf die Movimenti setzte. Seine Unterstützung garantierte deren Katholizität; sie wiederum boten nicht nur Massen von begeisterten Jugendlichen bei Weltjugendtagen, sondern auch zahlreiche Berufungen zum Priestertum oder Ordensleben. Hoyeau betont mehrfach, dass diese sich teilweise einem immensen psychischen und spirituellen Druck verdankten (vgl. S. 84–86).
Hidden patterns
Der Blick nach Frankreich ist für die deutsche Kirche mehr als relevant, denn die „hidden patterns“ des Missbrauchs sind weltkirchlich wirksam.[6] Hildegund Keul führt in ihrer instruktiven Einleitung zahlreiche deutschsprachige Bewegungen und Gemeinschaften auf, die sich heute ebenfalls mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert sehen. Sie zeigt, dass der Reflex, die eigene Institution – sei es die Kirche, sei es die Gemeinschaft – durch Vertuschen zu schützen, den Schaden immens erhöht, wenn der Missbrauch schließlich doch öffentlich wird („Verletzlichkeitsparadox“). Die Vulnerabilitätsforschung kann eine weitere Erkenntnis beitragen: Zur Spiritualität in den NGG gehört es, sich selbst gegenüber einem Seelenführer radikal zu öffnen, und genau dies macht eine Person in ihrem Innersten verwundbar. Wenn die zunächst hilfreiche Seelenführung kippt und die Begleitperson die Schwäche der Betroffenen ausnutzt und vulnerant (verletzend) wird, haben die Betroffenen keinerlei Abwehrkräfte.
Legitimation der missbrauchenden Gründer:innen
Johanna Beck steuert zur deutschen Übersetzung ein persönlich gehaltenes Nachwort bei. Als ehemaliges Mitglied der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE) ist sie selbst eine Betroffene spirituellen und sexuellen Missbrauchs. Am Ende stellt sie Fragen, die auch Hildegund Keul und die Autorin dieses Beitrags bewegen: Welche Rolle spielen Mystik und speziell der „mystische Betrug“ einer Marthe Robin als Legitimation der missbrauchenden Gründer:innen?[7] Und wie groß war die Reichweite der Netzwerke von Marthe Robin, den Philippe-Brüdern und Jean Vanier? Johanna Beck fordert weiterführende theologische, historische, soziologische und psychologische Analysen (253). Der von Hildegund Keul in deutscher Sprache herausgegebene Band von Céline Hoyeau bietet dafür nun wegweisende Impulse.
Dr. Regina Heyder ist Theologin mit Schwerpunkt Kirchengeschichte und Dozentin des Theologisch-Pastoralen Instituts in Mainz.
[1] Dysmas de Lassus, Verheißung und Verrat. Geistlicher Missbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche, ins Deutsche übertragen von Dominica Fericks, Münster 2022.
[2] Céline Hoyeau, Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften, aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Nolte, hg. von Hildegund Keul. Freiburg 2023 – Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Band. Französische Originalausgabe: La trahision des pères. Emprise et abus des fondateurs de communautés nouvelles, Montrouge: Bayard 2021.
[3] Vgl. Bernard Granger u. a., Emprise et abus, enquête sur Thomas Philippe Jean Vanier et L’Arche (1950-2019). Der Untersuchungsbericht in englischer Sprache sowie Übersetzungen der Zusammenfassung in fünf Sprachen sind abrufbar unter https://commissiondetude-jeanvanier.org/commissiondetudeindependante2023-empriseetabus/index.php/en/home-english/. Gleichzeitig mit dem Untersuchungsbericht erschien eine weitere Publikation, die die Archive der Dominikaner auswertet: Tangi Cavalin, L’Affaire. Les dominicains face au scandale des frères Philippe, Paris: Cerf 2023.
[4] Vgl. Doris Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019.
[5] Henri Godin/ Yvan Daniel, La France pays de mission?, Paris: Cerf 1943.
[6] Vgl. Barbara Haslbeck/Magdalena Hürten/Ute Leimgruber, Missbrauchsmuster – hidden patterns of abuse, in: https://www.feinschwarz.net/missbrauchsmuster/ vom 20.12.2022.
[7] Vgl. Conrad De Meester, La fraude mystique de Marthe Robin. Dieu saura écrire droit sur des lignes courbes, Paris 2020. Das postum veröffentlichte Werk weist nach, dass Marthe Robin bei rund 30 Mystiker:innen Anleihen machte, diese jedoch als eigene Erfahrungen ausgab. Auch die Chronologie ihrer Tagebücher ist nicht stimmig. Marthe Robin, Inspiratorin der Foyers de Charité, war in zahlreiche weitere Gemeinschaftsgründungen involviert. Die Homepage www.martherobin.com nennt insgesamt zehn Gemeinschaften, unterlässt jedoch inzwischen einen Hinweis auf die Communauté St Jean (.https://www.martherobin.com/son-heritage/les-communautes-liees-avec-marthe-robin/).