Im Kontext der Veröffentlichung des jüngsten IPCC-Reports zum Klimawandel und der Veranstaltungsreihe „Mensch-Tier-Beziehungen“ an der TU Dresden denkt Christian Kern über andersartige Akteur:innen wirksamer Klimapolitik nach.
Am 20. März wurde der Synthesebericht 2023 des International Panel on Climate Change veröffentlicht.[1] Er bietet eine dichte wissenschaftliche Beschreibung des status quo der globalen Lebenssphären im Kontext der Klimakrise, prognostiziert Entwicklungen und gibt Empfehlungen für politisches Handeln ab. Der Bericht ist erneut von erheblicher politischer Brisanz: Er macht sichtbar, dass das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu beschränken, das von der internationalen Gemeinschaft völkerrechtsverbindlich mit dem Paris Agreement von 2015 festgelegt wurde, nicht erreicht werden kann, wenn die Treibhausgasemissionen im gleichen Trend weitergehen. Der UN-Generalsekretär António Guterres wiederholt die Dringlichkeit von effizientem Handeln:
„Humanity is on thin ice, and that ice is melting fast… [H]umans are responsible for virtually all gobal heating over the last 200 years… IPCC report is a survival guide for humanity…. But it will take a quantum leap in climate action. Our world needs climate action at all fronts, everything, everywhere, all at once… We have never been better equipped to solve the climate challenge but we must move into warp-speed climate action now. We don’t have a moment to lose”.[2]
Wie selbstverständlich und routiniert wird hier ein „Wir“ adressiert und aufgerufen zu akutem, intensiviertem Handeln. Aber: Wer ist dieses „Wir“ eigentlich?
Spezies „Mensch“
Vom Kontext der Rede her bezieht sich Guterres hier auf „die Menschheit“, die Spezies „Mensch“, konkret in der Organisationsform der United Nations. Ein humanes Wir im globalen Maßstab. Dies entspricht auch dem typischen epistemischen und praktischen Paradigma internationaler Klimamaßnahmen. Die heraufziehende Klimakatastrophe wird begründet als menschengemacht erfasst, als anthropogen. Es wird die drängende Frage formuliert, was nun alles getan werden muss; und in Aufrufen wie demjenigen Guterres‘ wird unterstrichen: alles menschenmöglich, also das, wozu die menschliche Spezies inklusive ihrer kognitiven und technologischen Kapazitäten fähig ist: anthropopragmatisch. Drittens wird die Lebensart „Mensch“ nicht nur als Ursache von Klimaschädigung gesehen, sondern auch als Ziel gegenwirkender Klimamaßnahmen. Es geht um das Leben heutiger und zukünftiger Menschen: A liveable future for humanity on earth.
In einer solchen, mehr oder weniger expliziten anthropozentrischen Grundhaltung internationaler Klimapolitik treten dann zwar auch andere Lebensbereiche und -formen auf und werden bedacht – tierliches, nicht-tierliches Leben, Ökosysteme und Hemisphären auf der Makroebene, biologische Habitate auf der Mikroebene –, aber sie erscheinen eher als Gegenstände, die passiv der Behandlung, Verwaltung und Bewahrung des kollektiven humanen Wirs übereignet sind, statt eigenständig von Gewicht zu sein. „Sie“, diese anderen Leben, sind oft weit davon entfernt, als eigenständige aktive Akteure in einem kollektiven „Wir“ anerkannt zu sein: mit eigenem Recht, mit eigenem Zweck, mit eigener Art – um ihrer selbst und ihrer Lebendigkeit willen.[3]
Das Wir weiter denken
Aber: Ließe sich dieses Wir, das Grund, Mittel und Zweck ökologischen Handelns ist, nicht auch anders und vor allem: weiter denken? Wäre es nicht möglich, in dieses Wir auch nicht-menschliche Akteure mit hineinzudenken und in einer neuen, anderen Weise zu handeln, die über die Humanität eines globalen Öko-Wir hinausginge? Es handelte sich dann nicht mehr um ein rein humanes Wir, intraspeziell, sondern um ein viel vielstimmigeres „Wir“ mit offenen Grenzen, das in Begegnungen und Beziehungen zwischen den Arten, interspeziell, Gestalt gewinnt. Politische Ansätze dafür gibt es, etwa wenn Ecuador und Bolivien der pachamama in der Verfassung ein eigenes Recht auf Erholung zuerkennen.
Vor kurzem bin ich an einer ganz anderen Stelle, abseits der großen weltpolitischen Bühnen auf Spuren einer solchen Kunst der interspeziellen Beziehungen gestoßen: bei der Veranstaltungsreihe „TU-Dresden im Dialog: Mensch-Tier-Beziehungen: Interdisziplinäre Perspektiven“[4]. Es handelt sich dabei um eine Reihe von 10 öffentlichen Abendveranstaltungen im Wintersemester 2022/23 an der TU Dresden, in denen Interaktionen von Menschen und Tieren unterschiedlich thematisiert wurden: Tiere in der Geschichte, in der Kunst, im Theater; Tiere in der Medizin, in Therapie und Schulsozialarbeit; Tiere im Lebensraum Stadt, am Arbeitsplatz oder im menschlichen Zuhause; Umgang mit Trauer und Möglichkeit der Bestattung von Tieren auf Friedhöfen. Veranstaltet wurde sie von Frank Nestmann (Prof. für Beratung und Rehabilitation), Sven Herzog (Prof. für Wildökologie und Jagdwirtschaft), Julia Enxing (Prof. für kath. Systematische Theologie).
Mensch-Tier-Beziehungen
In den vielfältigen Erzählungen der Referierenden von diesen Orten, wurden verschiedene Arten und Weise sichtbar, wie Menschen und Tiere miteinander interagieren und miteinander verwoben werden – eine offene Morphologie von Mensch-Tier-Beziehungen. An einigen Orten gehen Menschen mit Tieren als Objekt um, das man für eigene Zwecke gebrauchen kann, etwa in der Medizin oder Jagdwirtschaft, wenn Tiere als Versuchs- oder Nahrungsmitteln genutzt werden, die dem Wohlsein von Menschen dienen. An anderen Orten greifen Menschen weniger oder gar nicht auf Tiere als Nutzmittel zu, aber tierliches Leben ist dennoch eher ein passives Objekt, das auf die Erbauung menschlicher Kultur hingeordnet bleibt: Tiere als Gegenstände menschlicher Kunst oder als allegorische Spiegelungen menschlicher Charakterzüge. An wieder anderen Orten ließ/lässt sich eine grundsätzliche Veränderung der Interaktionsweise wahrnehmen, eine Beziehung anderer Art: Mensch-Tier-Interaktionen gewinnen hier etwas Offenes. Es findet ein Hin-und-Her statt, in der menschliche und nicht-menschliche Akteure miteinander in Kontakt kommen und sich ihre wechselseitige Verwobenheit auswirkt.
Solche Interaktionen finden zwischen ungleichartigen Partner*innen statt, und gewinnen zugleich etwas Symmetrisches, wo man sich auf Augenhöhe begegnet. Sie sind befremdlich, herausfordernd, auch nicht unambivalent, weil sich nicht absehen lässt, was der unergründliche, fremde Blick dieses Anderen bedeutet, der dennoch eigenartig beziehungsgefüllt und resonant sein kann.[5] Beispiele für solche resonanten, interspeziellen Beziehungen wären: Tiere und Menschen im eigenen Zuhause, wenn sie kokreativ Beziehungen gestalten; Tiere in der Sozialarbeit, wo sich in der Begegnung mit eigenwilligen Tierfreunden, neue emotionale Quellen auftun; auf Friedhöfen, wo in der Trauerarbeit tierliches Leben besonders anerkannt und in eigener Würde gesehen wird.[6]
Interspezielle Begegnungen
Diese hier zuletzt beschriebenen interspeziellen Begegnungen sind von besonderer Qualität: Es kennzeichnet sie eine eigene Art der Responsivität, ein Hin-und-Her, zwischen unterschiedlichen Akteurinnen über diskursiv-kulturell gezogene Speziesgrenzen hinweg. Darin gibt es Opazität, weil im fremden Blick und der befremdlichen Geste etwas Unergründliches bleibt. Zugleich ist diese Art der Begegnung eine Quelle für Kreativität, eigenes und fremdes Leben anders zu entdecken und vitaler zu gestalten. Es ist ein Wagnis und Risiko, sich auf diese Insouveränität einzulassen, denn die Begegnung mit diesem fremden, anderen Leben zieht in nicht-vorhersehbare und nicht-einsichtige Situationen hinein.
Darin gewinnen die Mensch-Tier-Interaktionen eine besondere ethische Qualität: Sie geben dem fremden Anderen in seiner/ihrer* eigenen Weise Raum und Anerkennung, ohne es zu ergründen. Sie entdecken gerade in dieser bleibenden Andersartigkeit und Fremdheit einen gemeinsamen Raum, Leben zu gestalten, sich überraschen zu lassen. Dieses andere gewinnt dann um seiner selbst willen Raum und Bedeutung. Es handelt sich um eine Beziehung anderer Art, um eine heteromorphe Beziehung, in der ein anderes Wir Gestalt gewinnt: kein reines, humanes, souveränes Wir, sondern ein interspezielles Wir, das aus der offenen Begegnung zwischen Gefährten[7] eigener Art entspringt.
Wertvolle Impulse
Die hier als eine zentrale Erfahrung von „TU-Dresden im Dialog: Mensch-Tier-Beziehungen“ her beschriebene Kunst interspezieller Beziehung liefert nicht gleich Lösungen für klimapolitische Fragen und direkt umsetzbare Handlungsanweisungen. Aber in ihr sind doch einige wertvolle Impulse enthalten, die etwas Konstruktives und Weiterführendes enthalten – auf einer grundlegenden ethischen Ebene hinsichtlich von Normen/Idealen, die „unsere“ Formen sozialen und politischen Zusammenlebens und gesellschaftlicher Organisation regulieren.
Sie sind erstens ein kritischer Spiegel. Wo sich solche interspeziellen, offenen Interaktionen ereignen, fällt Licht auf diejenigen Begegnungs- und Interaktionsweisen, die einen gesellschaftlichen Kontext üblicherweise prägen. Handelt es sich in den gesellschaftlich üblichen interspeziellen Beziehungen um Dominanzbeziehungen, also um Formen, in denen andere, nicht-menschliche Wesen zu einem Gegenstand des menschlichen Nutzens, ggfs. auch der Ausbeutung werden, unter Aberkennung deren eigenen Werts? Handelt es sich um Beziehungsweisen, die auf dieses Aus- oder „Vernutzen“ eventuell verzichten, aber Tiere und anderes nicht-menschliches Leben dennoch verdinglichen und auf das Wohlsein des Menschen als Souverän der Welt hinordnen? Oder handelt es sich um eine Art von Beziehung, die von Offenheit und responsability geprägt ist, die das Fremdartige und Opake nicht ausblendet, sondern im Leben dieser „anders-als-menschlichen Anderen“ einen unbedingten Eigenwert erkennen kann?
Heteromorphien
Von einer solchen Kultur interspezieller Beziehungen zwischen Menschen, Tieren und anderem sog. nicht-menschlichen Leben fällt dann ein kritisches Licht auf gesellschaftliche Organisationsformen und politischen Repräsentationspratiken – inklusive des Wirs, das darin angerufen und performativ gebildet wird. Ließen sich gegenüber einem souveränitätsorientierten humanen Wir Interaktionsweisen anderer Art – Heteromorphien der Mensch-Welt-Beziehung – denken und gestalten, die die damit gegenebenen performativen Grenzziehungen aufbrechen und sich auf einen offenen, auch Insouveränität riskierenden Begegnungsraum einließen? In einer solchen Kultur interspezieller Begegnung wird Leben jenseits menschlicher Fassungen als Leben eigener Art verstanden, dessen Teil Menschen zugleich sind. Es gewinnt ein Wir anderer Art Gestalt – ein interspezielles Wir – und kann als erstrebenswertes soziales Gut auch politisch zur Geltung gebracht werden.
Eine solche interspezielle Kultur ist für effizientes Reagieren auf Klimawandel und für die Entwicklung alternativer Lebens- und Organisationsweisen gesellschaftlichen Lebens nicht zu unterschätzen. Es gibt eine eigene pragmatische Kraft darin. Auf sie haben Menschen, die intensiv in interspeziellen Beziehungen lebten, immer wieder hingewiesen, etwa die Schimpansenforscherin Jane Goodall: Sie kommt immer wieder auf die erstaunliche Kraft der Natur zu sprechen, sich eigenständig von Erfahrungen der Zerstörung zu erholen, zu regenerieren, zu transformieren. In dieser Kraft eigener Art sieht Goodall einen realistischen Grund, eine nachhaltige ökologische Wende wirksam zu schaffen: „the resilience of nature, if given a chance, her ability to repair the wounds we have inflicted. With more people becoming so passionate about protecting the environment, we’ve shown again and again the places we actually destroyed can, with a bit of help or just time, once again, nature can reclaim them and life can come back. And those on the brink of extinction can be given another chance.“[8]
Beziehungskunst
Man muss „sie“ mit „uns“ machen lassen, d.h. erstens den Eigenwert dieser anderen, nicht-menschlichen Welt, deren Teil wir zugleich sind, anerkennen; und auch ihre Eigenkraft anerkennen, die vermutlich nicht völlig durchschaubar sein wird. In dieser Beziehungskunst wird das andere Leben in seiner eigenen Art zu einer Akteur*in, die Teil eines Prozesses ist, in dem wir andersartig verbunden und lebendig sind.
Sind solche ökologisch heilsamen, interspeziellen Beziehungen nur ein Traum oder idealistisches Gefasel eines Theologen? Oder stellen sie eine impulsreiche Chance dar, auf die „wir“ Menschen uns im alltäglichen Leben, in den Strukturen politischer Prozesse[9], in den Praktiken ökologischer Pastoral[10] wirklich einlassen könnten?
Christian Kern, Dr. theol., ist Mitarbeiter am Institut für Kath. Theologie/Syst. Theologie der TU Dresden. Er denkt in seiner Arbeit über andersartige Formen (Heteromorphien) von Leben in politischen und sozialen Kontext nach und analysiert ihre theologische und politische Performanz.
[1] https://www.ipcc.ch/report/ar6/syr/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=A47M9wXs6Yg
[3] Verlie, Blanche (2022): Climate justice in more-than-human worlds. In: Environmental Politics 31 (2), 297–319.
[4] https://tu-dresden.de/gsw/phil/ikt/systematik/die-professur/termine-1/tu-dresden-im-dialog-mensch-tier-beziehungen-interdisziplinaere-perspektiven.
[5] Derrida, Jacques (2015): Das Tier, das ich also bin (2006). In: Borgards, Roland; Köhring, Esther; Kling, Alexander (Hg.): Texte zur Tiertheorie. Stuttgart: Reclam, 262–289.
[6] Butler, Judith (2010): Gefährdetes Leben, betrauerbares Leben, in: ders.: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a. M. u.a.: Campus, 9–38.
[7] Haraway, Donna (2015): Die Begegnung der Arten. In: Borgards, Roland; Köhring, Esther; Kling, Alexander (Hg.): Texte zur Tiertheorie. Stuttgart: Reclam, 290–325.
[8] https://janegoodall.ca/our-stories/jane-goodalls-5-reasons-for-hope/.
[9] Latour, Bruno (2021): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
[10] Collet, Jan Niklas; Pittl, Sebastian; Gruber, Judith; Jong-Kumru, Wietske de; Kern, Christian; Silber, Stefan; Tauchner, Christian (Hg.) (2022): Doing climate justice. Theological explorations. Verlag Ferdinand Schöningh. Paderborn, Germany: Brill Schöningh.
Bildquelle: Pixabay