Religionspädagogik eröffnet als wissenschaftliches Fach wie als täglich geübte Praxis wichtige Einblicke in das Selbstverständnis der Kirche. Daniel Kosch kommentiert eine Publikation, die anlässlich des 50. Jubiläums des Religionspädagogischen Instituts in Luzern (RPI) erschienen ist.
Eine Kirchengeschichte aus der Perspektive religionspädagogischer Akteure kreiste wohl kaum um Bischöfe oder grosse Theologinnen und Theologen. Sie begänne mit Personen und Entwicklungen, die ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, sind:
- Religionspädagoginnen und -pädagogen als mit Abstand grösste Berufsgruppe in der Kirche;
- Generationen von Kindern und Jugendlichen, ihre Eltern und Familien;
- Pfarreien und ihre Bemühungen um Lebendigkeit und Alltagsgestaltung im Geist Jesu;
- Veränderungen in den Berufsbiographien dank nebenberuflichen Ausbildungsgängen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, vielfältigeren, weniger gradlinigen Entwicklungen der Berufstätigkeit;
- Ringen um Anerkennung und Professionalisierung von Laienberufen in der Kirche, das sich im Wandel von Berufsbezeichnungen von der Katechetin zur diplomierten Religionspädagogin und von der Hilfskatechetin zur Katechetin mit Fachausweis, aber auch in Anstellungsbedingungen und Lohnrichtlinien niederschlägt;
- Suchbewegungen in der religionspädagogischen Aus- und Weiterbildung in Abhängigkeit von Entwicklungen in der pädagogischen wie auch der kirchlichen Landschaft, der Bildungspolitik und dem veränderten Stellenwert der Kirche als Institution und der Religion als Phänomen in der Schule;
- Wandel in der kirchlichen Jugendarbeit, geprägt durch den Wegfall der traditionellen kirchlichen Kinder- und Jugendkarrieren, durch verändertes Freizeitverhalten, durch den Rückgang der Zahl junger Geistlicher und Pastoralassistentinnen und -assistenten, welche willens und fähig sind, die pfarreiliche Jugendarbeit zu prägen …
Für eine solche Kirchengeschichte aus religionspädagogischer Sicht, die stärker von unten als von oben, stärker von den Rändern als von der Mitte her erzählt würde, ist das aktuelle Buch „Sehen und gesehen werden. Impulse zu 50 Jahren Religionspädagogik in der Schweiz“1 eine Fundgrube.
Ein Buch für Gegenwart und Zukunft
«Sehen und gesehen werden» ist aber nicht nur ein Buch für die Geschichte – es ist ebenso ein Buch für Gegenwart und Zukunft. Inspiriert durch den zunächst irritierenden Titel möchte ich anhand von sechs Begriffspaaren auf Impulse eingehen, die ich der Lektüre verdanke.
Suchen und finden
In der Kirche besteht die Tendenz, Fragen mit Hilfe übergeordneter Prinzipien, theologischer und lehramtlicher Vorgaben oder grundsätzlicher Zielvorstellungen klären zu wollen. Exemplarisch machen die Geschichte des Religionspädagogischen Instituts mit ihren Reformbestrebungen und Krisen, aber auch die Entwicklung des Berufsbildes der Katechetinnen und Religionspädagoginnen jedoch deutlich, dass die Antworten auf Fragen und Herausforderungen kaum je auf diesem Weg zustande kamen. Vielmehr war und ist es bin in die jüngste Zeit ein Suchen und Finden, oft beeinflusst von günstigen oder ungünstigen Konstellationen zwischen Personen, von Wechseln in der Leitung, von politischen Rahmenbedingungen usw. Daraus ist zu lernen, wie wichtig Sensibilität für Suchbewegungen und Findungsprozesse ist und wie Recht Papst Franziskus hat, wenn er in Evangelii Gaudium (231f.) sagt: «Die Wirklichkeit steht über der Idee. … Die von der Wirklichkeit losgelöste Idee ruft wirkungslose Idealismen und Nominalismen hervor, die höchstens klassifizieren und definieren, aber kein persönliches Engagement hervorrufen. Was ein solches Engagement hervorruft, ist die durch die Argumentation erhellte Wirklichkeit.»
Theotop und Sinusmilieus
Wer sich als Kirchenmensch in der heutigen Zeit erfolgreich bewegen und verständigen will, muss mit beidem vertraut sein: Zum einen mit dem Theotop, also dem ganz spezifischen Lebensraum, in dem nur genau dafür passende Bewohner und Bewohnerinnen eines engen, gut gehegten Bereichs theologischer Selbstverständigung leben. Nur sie wissen, wie man sich darin verhält, um zu leben und zu überleben2. Zum anderen mit den Sinusmilieus – also unserer Gesellschaft, wie sie sich der Marktforschung unter dem Blickwinkel von Mentalitäten, Bildungsniveaus, Konsum- und Lebensgewohnheiten präsentiert. Es gibt zwischen der Orientierung am «Theotop» und an den «Sinusmilieus» kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Georg Langenhorst schreibt: «Wir brauchen die klassische Sprache des Theotops, die Sprache der Dogmatik, der klassischen Liturgie. Sie bildet ein historisch gewachsenes Binnengerüst … das unverzichtbare religiöse Identität stiftet. (…) Zu erweitern ist diese Sprache um Versuche, das Grundanliegen des Christentums immer wieder neu und anders auszusprechen. Diese Versuche werden immer auch neue Inhalte mit einschliessen, neue Perspektiven setzen.»3
Starke Impulse, die Grenzen des «Theotops» und der angestammten Milieus zu überschreiten, gehen von Papst Franziskus aus. Schon im März 2005 sagte Jorge Mario Bergoglio: «Fassen Sie Mut und denken Sie die Pastoral und die Katechese von den Rändern her, denken Sie an diejenigen, die am weitesten entfernt sind, die in der Regel nicht in die Kirche gehen. Auch sie sind zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen. (…) Kommen Sie heraus aus Ihren Löchern! (…) Kommen Sie heraus aus der Sakristei, dem Pfarrbüro, den VIP-Lounges, gehen Sie hinaus! Und vor allem praktizieren Sie eine Katechese, die niemanden ausgrenzt, die andere Rhythmen beherrscht und offen ist für die neuen Herausforderungen dieser komplexen Welt.»4
Interdisziplinarität und Ernstfall der Theologie
Beschäftigte die Theologie früher viele «ancillae», also «Mägde» und «Hilfsdisziplinen» wie Philosophie, Philologie oder eben Pädagogik, ist sie heute oft «interdisziplinär» am Werk, steht im Dialog und gleichberechtigten Austausch mit anderen Wissenschaften oder Gesellschaftsbereichen. Mühsam lernt die Kirche in diesem Zusammenhang bis heute, dass nicht mehr ihre eigene Rationalität die Normen des Miteinanders vorgibt, sondern dass sie nur eine Chance hat, wenn sie sich lernbereit und ohne Dominanzanspruch auf andere Rationalitäten einlässt. Von der Religionspädagogik, wo dieses Wagnis früher eingegangen wurde als in anderen Bereichen, ist zu lernen, dass es sich dabei nicht um ein blosses theologisches Nebenfach handelt, sondern um den Ernstfall der Theologie. Erst wo theologisch nicht mehr über die Welt, über die Gesellschaft und über die menschliche Erlösungsbedürftigkeit gesprochen wird, sondern wo in der Welt, in der Gesellschaft und mit den Menschen Worte wie Erlösung, Befreiung oder Auferstehung buchstabiert werden, tritt der Ernstfall der Theologie ein. Hier entscheidet sich, ob es gelingt oder misslingt, den Glauben ins Spiel und auch in den Ernst des Lebens zu bringen.
Beobachten und bezeugen
Gerade weil religionspädagogische Arbeit ein Ernstfall der Theologie ist, ist der Hinweis auf das Risiko der «Wende vom Bezeugen zum Beobachten»5 sehr wichtig. Natürlich ist es unerlässlich, die Entwicklungen in der Religionslandschaft, die Veränderungen in der Religiosität junger Menschen oder auch die Krise der Kirche religionssoziologisch zu beobachten und zu beschreiben. Aber dabei darf es nicht bleiben – es braucht auch die «affirmative Rede von Gott»6, die Schreibwerkstatt, die dazu befähigt, aus der Auseinandersetzung mit einem biblischen Text heraus ein Gebet zu formulieren und Sprache zu finden für das Unsagbare7, «liturgische Kompetenz» und zwar «mehr als nur Basiswissen».8
Professionalität und Lebenskunst
In klerikalen Diskursen über die kirchlichen Berufe von Laien ist es verbreitet, den Begriff der Professionalität sofort mit einem «ja, aber» zu versehen. Es sei schon recht, Professionalität anzustreben, aber mindestens so wichtig seien das persönliche Engagement, die Berufung, die Nachfolge, die Spiritualität. Nur seinen Job gut zu machen genüge nicht. Diesem Diskurs liegt ein doppeltes Missverständnis zu Grunde: Erstens das Missverständnis, die Kirche könne sich auch heute noch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen leisten, die den Ansprüchen an Professionalität nicht genügen, aber ein gläubiges Herz und gesunden Menschenverstand mitbringen. Und zweitens das Missverständnis, Professionalität heisse etwa gleich viel wie «Dienst nach Vorschrift». Im religionspädagogischen Bereich hat man früh erkannt, dass Mitarbeitende, die mit den Rationalitäten ihres Arbeitsfeldes nicht zurechtkommen und seinen Ansprüchen an Professionalität nicht genügen, ihren Auftrag nicht erfüllen, der Reputation der Kirche im Kontext von Schule und Bildungswesen schaden und zudem in ihrer Arbeit auch persönlich Schaden nehmen. Ebenso deutlich wird, dass kreative Religionspädagogik auch von der Lebenskunst ihrer Akteure lebt. Es braucht die spürbare Liebe zum Leben, oder ein Gespür dafür, dass ein Stein mehr ist als ein Stein und zur Erlebnisgestalt werden kann, oder die Sensibilität für die Poesie und die Abgründe der Sprache, die Ergriffenheit vom unaussprechlichen Geheimnis oder die Fähigkeit, Geschichten so zu erzählen, dass sie den Zuhörern und Zuhörerinnen ans Herz gehen. Und es braucht auch die Lebenskunst, eine Balance zu finden zwischen Engagement und Abgrenzung, zwischen mutigem Bekenntnis zu den eigenen Überzeugungen und sorgfältigem Hinhören auf die vielleicht sehr unscheinbaren und zaghaften Fragmente einer Glaubenssprache, die den Zusammenprall mit einer allzu affirmativen Rede von Gott nicht überstehen würden. Gerade für eine solche Balance ist Professionalität unabdingbar und genügt die eigene Lebenskunst, das unkontrollierte und unreflektierte persönliche Charisma nicht.
Sehen und gesehen werden
Das letzte und für das Buch titelgebende Begriffspaar, das leitmotivisch wiederholt wird, stammt von George Berkely, einem irischen Bischof und Theologen des 18. Jahrhunderts. Lateinisch heisst es: «Esse est percipi» und «Esse est percipere», zu deutsch: Menschliches «Sein» heisst «wahrgenommen werden» und «wahrnehmen». Dieser «Ansatz, Sein als Wahrgenommen-Werden zu bezeichnen»9, ist theologisch sehr produktiv. In einer Zeit, in der «gesehen werden» ein zentrales Bedürfnis vieler Menschen ist, wird die Zusage, dass Gott uns sieht, dass er uns nicht aus den Augen verliert, zu einem anderen Wort dafür, dass er uns liebt und uns erlöst aus einem Leben, in dem Menschen, gerade auch junge, sich oft genug übersehen und übergangen fühlen. «Sehen» in diesem anspruchsvollen Sinn des Wahr-Nehmens, des sorgfältigen Hin-schauens, ist dann aber auch religionspädagogischer Auftrag: Ausschau halten nach den Menschen, Rahmenbedingungen schaffen, in denen sie sich als wahr- und ernstgenommen erfahren können, nicht nur von Gott, sondern auch voneinander.
Buch:
Monika Jakobs (Hg.): Sehen und gesehen werden. Impulse zu 50 Jahren Religionspädagogik in der Schweiz, Edition NZN bei TVZ, Zürich 2016.
ISBN 978-3-290-20115-9
- Monika Jakobs (Hg.): Sehen und gesehen werden. Impulse zu 50 Jahren Religionspädagogik in der Schweiz, Edition NZN bei TVZ, Zürich 2016. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf diesen Band. ↩
- Vgl. G. Langenhorst, 70f. ↩
- ebd. 84. ↩
- J.M. Bergoglio SJ/Papst Franziskus: Die wahre Macht ist der Dienst, Freiburg 2014, 74. ↩
- Rudolf Englert, vgl. Langenhorst 72f. ↩
- G. Langenhorst 84. ↩
- Jakobs, 122ff. ↩
- N. Ottiger, 160ff. ↩
- G. Langenhorst 76. ↩