Lydia Meyers Buch „Die Zukunft ist nicht binär“ hat Andreas Heek begeistert. Eine Lektüreempfehlung mit weiterführenden Gedanken.
Als katholisch sozialisierter Jugendlicher habe ich in den 70er und 80er Jahren zusammen mit anderen für die damals sogenannten neuen geistlichen Lieder mit und oftmals auch gegen manche Pfarrer gekämpft, damit Gottesdienste mit Gitarre und Schlagzeug lebendiger, geistreicher und – ja – moderner wurden. Heute, 2023, stehen viele dieser Lieder im offiziellen Liederbuch der Kirche, dem „Gotteslob“. „Wir hatten doch wohl die richtige Intuition, als wir damals dafür eintraten“, dachte ich kürzlich, als ich bei einer Erstkommunionfeier „Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung“ (GL 472) aufschlug. Obwohl viele Amtsträger damals so taten, als seien diese Lieder Gotteslästerung wie der Kampf der Mädchen zur selben Zeit, Messdienerin werden zu dürfen.
Weltuntergang? Sittenverfall? Woher der Hass, und warum die Hetze?
Hat Lydia Meyer einen ähnlich „richtigen Riecher“, wenn der Titel seines*ihres Buches heißt: „Die Zukunft ist nicht binär“ (Hamburg, Rowohlt, 2023)? Wie provokant das klingt, besonders für einige katholische Ohren! In den Hallräumen der Kirche hört man schon länger zum Geschlechterdiskurs, besonders stark aus Richtung Rom: „Weltuntergang, Sittenverfall, Verwirrung der Jugend“ und noch anderes. In einschlägigen sozialen katholischen Netzwerken sogar noch Menschenverachtenderes, das gar nicht zitiert werden kann, so schlimm ist das. Woher der Hass, und warum die Hetze?
Das fragt Lydia Meyer an mehreren Stellen des sehr gut geschriebenen Buches. Wie könne es sein, dass die wenigen, die sich als geschlechtlich nicht binär bezeichnen, mit so viel Verachtung rechnen müssen? Denn letztlich gehe es den sogenannten Betroffenen nur darum: Respekt, Anerkennung, Gesehenwerden in ihrem Anderssein als das Empfinden der Mehrheit.
Gibt es so etwas wie eine Identität, die lebenslang dieselbe bleibt?
Apropos: Nach der Lektüre des Buches kommen, was die Mehrheit angeht, allerdings auch berechtigte Zweifel. Gibt es das überhaupt: Mehrheit und Minderheit im Zusammenhang mit geschlechtlicher Verortung? Gibt es so etwas wie eine Identität, die lebenslang dieselbe bleibt oder bleiben muss? Ist nicht jedes Individuum einzigartig? Und: Sind die binären Geschlechterbilder, die mit „männlich“ und „weiblich“ verbunden werden, nicht schon längst überholt?
Schon lange werden die Stereotypen von binärer Geschlechtlichkeit dekonstruiert. Ein Mann kann zärtlicher Liebhaber und eine Frau Schlosserin sein. Frauen tragen Hosen (ja tatsächlich!) und Männern steht Pink gut (auch wenn sie sich nicht als schwul bezeichnen). Ist das, was traditionell dieser Rolle von Geschlechtlichkeit aufgebürdet wurde, nicht schon lange wert, über Bord geworfen zu werden?
Es geht um die Würde vor Gott.
Ich würde sagen: „Ja“. Ich kann dies sogar theologisch begründen. (Ja, Lydia Meyer, tatsächlich kann die Theologie einen wissenschaftlichen Beitrag leisten, wie Sie richtig auf Seite 121 anmerken!) Erstens geht es der jesuanischen Botschaft nicht um die Zementierung von Rollen und Klischees, sondern um den Menschen in seiner Würde vor Gott. Und zweitens ist die zentrale Forderung der Bibel Gerechtigkeit. Würde vor Gott und Gerechtigkeit für alle Menschen gehören für Gläubige dabei unmittelbar zusammen. Denn ohne dass Menschen, wie sie sind, akzeptiert werden, ist im Christentum alles nichts. Deshalb birgt der Titel des Buches in meinen Augen sogar diejenige prophetische Brisanz in sich, die die katholische Kirche vielleicht erst in zwanzig oder dreißig Jahren zu würdigen wissen wird (hoffentlich nicht erst in hundert).
Bis dahin bleibt nur, allen in der Kirche zu empfehlen, vorsichtig zu sein mit apodiktischer Ablehnung geschlechtlicher Vielfalt, auch wenn die neuen Bilder und Vorstellungen von Geschlechtlichkeit zwischen und jenseits des binären Systems so ungewohnt sind. Dies sage ich durchaus bewusst auch als jemand, der sein halbes berufliches Leben damit verbracht hat, über Männlichkeit nachzudenken bzw. heute über den Plural davon: Männlichkeiten eben, die uns befreien aus einem Korsett, das „Männer“ in eine bestimmte Rolle zwingt, nur weil wir andere Geschlechtsorgane haben als „Frauen“. Ist das befreiende Potential des Geschlechterdiskurses schon wirklich ausgemessen?
Empfehlung an die Kirche: Vorsicht in Sachen apodiktischer Ablehnung geschlechtlicher Vielfalt!
Meyer versteht es, die Waage zu halten zwischen Aktivismus in eigener Sache (er*sie definiert sich selbst als nicht binär, wiewohl sie*er oft als weiblich gelesen werde, wie er*sie schreibt) und sachlicher Darstellung von Argumenten. Dies ist auch unbedingt notwendig in der gegenwärtig emotional aufgeladenen Diskussionslage. Nicht alle Bücher und Beiträge zum Thema vermögen dies in so wohltuender Weise wie diese Schrift, auch wenn manchmal ein heiliger Zorn durchzubrechen scheint, der aber den Weg der Argumente trotzdem nie verlässt. Es besteht sogar Hoffnung, dass manche Person, die sich mit dem Thema Non-Binarität schwertut, für die dargestellten Argumente zugänglich wird.
Nicht erst in zwanzig Jahren, so hoffe ich des Weiteren, werden alle Christ*innen miteinander „ein Fest der Auferstehung“ feiern und ihre Einzigartigkeit besingen: Schwule, Bisexuelle, nicht binäre Menschen, trans Personen, Cis-Heteros usw.: Auferstehung zu einem Stück vom Glück, übersprießender Lebendigkeit und tiefer Liebe.
Lydia Meyer hat ihren*seinen Teil dazu beigetragen. Der*die geneigte Leser*in darf den Gedanken folgen, sich berühren lassen oder – wenn alle Argumente nicht helfen – als einen seriösen Diskussionsbeitrag stehen lassen. Eine Leseempfehlung muss ich unbedingt geben. Das „Gotteslob“ lässt grüßen.
Autor: Dr. Andreas Heek, Kirchliche Arbeitsstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in den Deutschen Diözesen und Mit-Koordinator*in der AG LSBTI*-Pastoral in den Deutschen Diözesen.
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