Kerstin Söderblom feiert an Pfingsten G:ttes Geistkraft, die nicht nur Sprachbarrieren, sondern auch immer wieder enge Horizonte durchbricht.
Pfingsten hat viele Facetten. Es geht um Feuer, Energie und Veränderung. Es geht um die Heilige Geistkraft, von der die Gefährt:innen Jesu buchstäblich körperlich ergriffen und be-geistert wurden. Und es geht um die Erfahrung ganz neu sprechen und hören zu lernen.
Erzählen und Hören der biblischen Pfingsterzählung
Die Gefährt:innen von Jesus erlebten G:ttes Geistkraft das erste Mal, als sie sich 50 Tage nach Jesu Tod und Auferstehung in einem Haus in Jerusalem trafen. Sie aßen und tranken, teilten alles und erzählten von den gemeinsamen Erlebnissen mit Jesus. Sie vermissten ihn noch immer und versuchten ihr Leben neu zu sortieren. Sie waren verängstigt, verunsichert und ziemlich am Ende.
Da geschah es, so erzählt es die Apostelgeschichte (Apg 2), dass plötzlich ein Brausen vom Himmel kam und das ganze Haus erfüllte, in dem sie saßen. Es war wie ein Feuerball, der das Haus ausfüllte und alle Anwesenden zu Tode erschreckte.
Geisterfüllt wie sie waren gingen sie auf die Straßen von Jerusalem und erzählten allen, die vorbeikamen, von Jesus von Nazareth. Ohne dass sie wussten, warum sie es konnten, schwärmten sie in verschiedenen Sprachen von ihm. Sie erzählten, dass Jesus religiöse Gesetze menschenfreundlich ausgelegt hatte, Ausgegrenzten und Kranken mit Respekt begegnet war und nicht Wenige geheilt hatte. Die Leute, die es hörten sprachen unterschiedliche Sprachen, glaubten an vielfältige Götter und Weltanschauungen und folgten diversen Riten und Traditionen. Und dennoch konnten sie alle verstehen, was die Gefährt:innen über Jesus zu sagen hatten. Und sie berichteten mit so viel Energie und Leidenschaft, dass sie die Menschen erreichen konnten. Viele der Zuhörenden ließen sich beeindrucken und begannen, das Gehörte zu glauben und weiter zu geben. G:ttes Geistkraft wirkte auf dem Marktplatz von Jerusalem und strahlte in den Alltag der Leute hinein. Diese Geistkraft konnte nicht eingefangen und konserviert werden. Sie war auch kein Wunscherfüllungs-Automat. Aber sie begeisterte diejenigen, die da waren. Und auf einmal spürten die Menschen Energie und Hoffnung.
Sprech- und Verstehwunder
Das Wunder von Pfingsten war gleichermaßen ein Sprech- und Verstehwunder. Die Gefährt:innen erzählten und wurden – trotz aller Unterschiede – gehört und verstanden. Die Vielfalt der versammelten Leute blieb dabei bestehen.
Bis heute wird zu Pfingsten an dieses Sprech- und Verstehwunder erinnert. Modern würden wir sagen: Die Menschen wurden beseelt und ermutigt, für G:ttes Sache sprechen und eintreten zu können.
Die babylonische Sprachverwirrung
Gleichzeitig zieht das Sprech- und Verstehwunder von Pfingsten des Neuen Testaments einen Bogen zurück zur Geschichte vom Turmbau zu Babel im Alten Testament (Genesis 11). In der biblischen Urgeschichte wurde davon berichtet, dass die Menschen einen Turm in den Himmel bauten und sich dadurch Macht und Einfluss sichern wollten, auch gegenüber G:tt. G:tt stoppte den Bau, der für Hochmut, Selbstgerechtigkeit und Maßlosigkeit stand und vertrieb die Menschen, die am Turm gearbeitet hatten. Dazu zerstreute G:tt ihre Sprachen, sodass sie sich nicht mehr verstehen konnten. Von da an, so erzählt es die Geschichte, gab es eine Vielzahl von Sprachen und Kulturen und nicht mehr nur eine Einheitssprache und Einheitskultur, die vom Turm aus überwacht werden sollte.
Theologisch wurde diese Sprachverwirrung lange als Strafe G:ttes gedeutet. Tatsächlich ist es aber die Beschreibung einer menschlichen Grundbedingung, die alle betrifft. Menschen kommen aus unterschiedlichen Ländern, sprechen verschiedene Sprachen, leben, lieben und glauben anders und gestalten Zusammenleben und Alltag in millionenfach verschiedener Weise. Dialekte und Sprachen und ihre verschiedenen Ausformungen markieren die Herkunft und die soziale und emotionale Zugehörigkeit von Menschen. Das ist weder eine Strafe noch ist es moralisch verwerflich. Es ist eine schlichte Beschreibung von menschlichen Lebenswelten. Dagegen ist der Versuch von Machthabern, Diktatoren und Tyrannen, G:tt gleich zu werden, sich die Welt untertan zu machen und alle Menschen zu zwingen nach ihrer Ideologie und zu ihren Konditionen zu leben, das eigentliche Problem (Söderblom, 2020. S. 68f.).
Ruach – Gottes Atem – Heilige Geistkraft
Ruach ist das hebräische Wort für Windhauch, Geistkraft oder auch für Gottes Atem (Genesis 1). Es war G:ttes Atem, der die Menschen in den Schöpfungstagen lebendig machte. Und es war auch Gottes Atem, der die Menschen zu Pfingsten durchdrang und sie mit Geistkraft füllte. Diese Geistkraft ist ein Teil von G:ttes Wirksamkeit. Als Teil der göttlichen Trinität qualifiziert sie die Haltung und Einstellung der Menschen durch G:ttes Wort und durch Jesu Leben und Wirken. Zusammengefasst ist alles im Doppelgebot der Liebe. Jesus bezeichnete es selbst als höchstes Gebot, das Orientierung gibt: Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe, oder anders ausgedrückt: Respekt und Achtung vor G:tt, vor den anderen und vor sich selbst. Daraus leiten sich Prinzipien für ein respektvolles Miteinander und Zusammenleben ab. Spuren davon habe ich auf den Vollversammlungen des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) erlebt.
Ökumenische Rat der Kirchen: Einheit in Verschiedenheit
„Komm, Heiliger Geist, erneuere die ganze Schöpfung!“ So lautete der Gebetsruf der 7. Vollversammlung des ÖRK im Jahr 1991 in Canberra, Australien (Schürger, 2022). Der Ruf nach der Heiligen Geistkraft war und ist bis heute nötig, damit die Menschen aus den verschiedenen Kirchen, christlichen Gemeinschaften und Freikirchen des Weltkirchenrats friedlich und geschwisterlich zusammen leben, beten und Gottesdienst feiern können. Denn theologische Positionen, Menschen- und Weltbilder könnten in den Kirchen weltweit nicht unterschiedlicher sein. Gerade hinsichtlich sexueller Orientierung und Geschlechtsidentitäten gehen die Vorstellungen weit auseinander. Eine Einigung ist nicht in Sicht. „Einheit in Verschiedenheit“ und „We agree to disagree!“ sind daher passende Leitsätze des ÖRK.
Im September 2022 fand die Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe statt. Bei aller Vielfalt der Konfessionen, Kulturen und christlichen Traditionen war trotz allem ein gemeinsamer Geist zu spüren: Beim gemeinsamen Singen, Beten und Feiern war etwas von der Kraft der christlichen Einheit in Vielfalt erlebbar.
Etwa 4000 Menschen aus 350 christlichen Kirchen aus 120 Ländern aller Kontinente waren vertreten. Was für ein Durcheinander und Gewusel! Bunte traditionelle Kleidungen aus afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern waren zu sehen. Verschiedene geistliche Roben und Talare mit bunten Tüchern, Kopfbedeckungen und Stolen gab es zu bewundern. Ganz verschiedene Hautfarben der Menschen prägten das Bild. Und dieses Bild zeigte deutlich: Christ:innen auf der ganzen Welt leben und glauben sehr unterschiedlich. Und: Glaube, liturgische Sprache und kulturelle Prägungen verbinden sich je nach Region und Herkunft zu einer einzigartigen Mischung. Nirgendwo ist christlicher Glaube dasselbe und dennoch sind die Gläubigen durch einen gemeinsamen Spirit verbunden und erzählen überall auf der Welt Geschichten über Jesu Leben und Sterben und über die Hoffnungsbilder der Auferstehung.
„Rainbow Pilgrims of Faith“
Seit der Vollversammlung des ÖRK in Zimbabwe 1998 ist regelmäßig auch eine größer werdende Gruppe von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, inter* und queeren Gläubigen bei den Vollversammlungen dabei. Seit der Vollversammlung in Busan/Südkorea 2013 heißt diese Gruppe „Rainbow Pilgrims of Faith“ (Söderblom u.a. (Hg.), 2022). In Karlsruhe 2022 waren es etwa 25 Leute aus aller Welt. Sie vertraten ganz verschiedene Konfessionen und Glaubensgemeinschaften. Sie luden zu Workshops, Podiumsdiskussionen und zum Besuch beim Regenbogen-Infostand auf dem Marktplatz der Vollversammlung ein und machten die Themen sexuelle Orientierung und diverse Geschlechtsidentitäten sichtbar. Sie erzählten ihre Lebens- und Glaubensgeschichten, feierten Andachten und luden zum Gespräch ein. Seitdem die „Rainbow Pilgrims“ beim ÖRK sichtbar und ansprechbar sind, hat sich viel verändert. Einige von ihnen sind sogar offiziell als Mitglieder in die Referenzgruppe zur menschlichen Sexualität berufen worden (Conversations on the Pilgrim Way, 2022). Im ÖRK gibt es hinsichtlich dieser kontroversen Themen noch viel zu tun. Dennoch hat sich seit 1998 schon einiges getan.
Insofern überwindet G:ttes schöpferische Geistkraft nicht nur Sprachbarrieren, sondern sie durchbricht auch immer wieder enge Horizonte, Normen und Dogmen. Denn Pfingsten steht vor allem für Vielfalt und Lebendigkeit des christlichen Glaubens.
Der Apostel Paulus beschrieb es in seinem Brief an die Galater so: „Hier ist nicht mehr jüdisch noch griechisch, hier ist nicht mehr versklavt noch frei, hier ist nicht mehr männlich noch weiblich. Denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28).
Paulus zitierte an dieser Stelle eine ältere urchristliche Taufformel. In dieser Formel wurden alle Gläubigen ohne Unterscheidung von Stellung, Stand und Geschlechtsidentität in die Nachfolge Christi berufen. Das war nicht nur eine zukünftige Vision, sondern wurde zu einer normüberschreitenden Aktivität, die urchristliche Gemeinschaften auszeichnen sollte. Alle Geschlechts-, Religions- und Klassenunterschiede galten durch die Taufe als überwunden. Die Taufe realisierte sozusagen bereits anteilig himmlische Verhältnisse auf Erden: real, konkret und erlebbar – zumindest in christlichen Gemeinden (Söderblom, 2023, S.22). Es hob die irdischen Unterschiede nicht auf, überwand aber in den christlichen Gemeinden Hierarchien und Bewertungssysteme.
„Denn ihr seid alle eins in Christus und Erben der Verheißung!“, heißt es bei Paulus weiter (Gal 3,29).
Die durch den Heiligen Geist gewirkte Taufe überwand damals Normen, Sprachbarrieren und kulturelle Grenzen und sie lädt heute noch dazu ein. Insofern ist der Spirit von Pfingsten bis heute immer wieder eine Kraft, die verändert und bewegt. Pfingsten ist kein alter Hut, sondern ein interkulturelles, interkonfessionelles und buntes Geburtstagsfest der Kirchen. Das kann und darf gefeiert werden!
Literatur
Conversations on the Pilgrim Way. Invitations to Journey Together on Matters of Human Sexuality. A Resource for Reflection and Action, Received by WCC Central Committee (9-15 February 2022), https://www.oikoumene.org/sites/default/files/2022-08/Conversations_on_the_Pilgrim_Way_Web.pdf (Zugriff 8.5.2023)
Schürger, Wolfgang (8.6.2022), Pfingsten. Fest der Vielfalt. Gottes Geist überwindet Grenzen, in: evangelisch.de), https://www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/201963/08-06-2022 (Zugriff 20.4.2023)
Söderblom, Kerstin (2020), Queer theologische Notizen, Neiwegein/NL
Söderblom, Kerstin/Franke-Coulbeaut, Martin/Czerniak, Misza/ Wong, Pearl (Hg.) (2022), Versöhnung von den Rändern her. Persönliche Geschichten von queeren Gläubigen, Karlsruhe
Söderblom (2023), Queersensible Seelsorge, Göttingen
Autorin: Dr. Kerstin Söderblom, Hochschulpfarrerin in der Evangelischen Studierendengemeinde Mainz. Supervisorin (DGSv), Mediatorin und Coach. Autorin und Dozentin für queer-theologische Themen.
Beitragsbild: Pawel Czerwinski, unsplash.com