Katrin Bederna stellt anlässlich des Internationalen Tags der biologischen Vielfalt am 22. Mai die Anliegen des Bildungskonzepts Religiöse Bildung für eine nachhaltige Entwicklung vor.
Mitte April 2023 zog eine tierische Meditationsschlange von extinction rebellion Faith durch Berlin. Hätte Jesus mitdemonstriert? Sollten Christ*innen mitdemonstrieren? Wie kann ich meiner Zukunftsverantwortung gerecht werden? Was hilft, trotz der ökologischen Situation nicht zu verzweifeln? Gibt es nur Hoffnung für die Alten, denn nur sie werden die ökologische Katastrophe nicht mehr in voller Schärfe erleben? Hilft Gott in der Klimakrise?
Wer von Ihnen hat Antworten auf derartige Fragen? Wenn Sie danach suchen und sich dadurch in Ihrem Handeln anfragen lassen, sind Sie mitten in einem Bildungsprozess, den man religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung (rBNE) nennen kann.
Was hat es auf sich mit rBNE? Warum sollen sich Kita-Kinder, Schüler*innen im Religionsunterricht, Theologiestudierende und alle Christ*innen mit Artensterben, Klimakrise oder zivilem Ungehorsam befassen?
Bildung für?
Fangen wir erst einmal langsam an: in der Mitte religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung, bei der viel diskutierten „Bildung für“. Bildung soll ermöglichen, die Welt zu verstehen und zu gestalten. Bildung ist frei. Bildung ist kein Mittel zum Zwecke der Durchsetzung ökologischer Ziele. Deshalb gibt es einerseits gute Gründe, zu sagen, „Bildung für“ sei ein Widerspruch in sich. Andererseits bedroht die ökologische Krise die Basis jeder freien Entfaltung. Sie verkleinert den Spielraum heutiger Kinder und Jugendlicher radikal. Die ökologische Krise macht unfrei. Insofern gehört zu Bildung die Befähigung, an der Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft mitzuwirken.
Bildung für nachhaltige Entwicklung
Eine solche transformative Bildung forderte erstmals der UN-Umweltgipfel in Rio 1992: Nötig sei die „Neuausrichtung der Bildung auf eine nachhaltige Entwicklung“, mit dem Ziel „eines ökologischen und eines ethischen Bewußtseins, von Werten und Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinbar sind“ (Agenda 21 36.2; 36.3). Es folgten die UN- Dekade BNE sowie zwei UNESCO-Weltaktionsprogramm BNE – und damit die Entwicklung und globale Implementierung von BNE, bis in bundesdeutsche schulische Bildungspläne:
„Bildung für nachhaltige Entwicklung befähigt Lernende, informierte Entscheidungen zu treffen und verantwortungsbewusst zum Schutz der Umwelt, für eine funktionierende Wirtschaft und eine gerechte Weltgesellschaft für aktuelle und zukünftige Generationen zu handeln. Dies betrifft vor allem die Beachtung der natürlichen Grenzen der Belastbarkeit des Erdsystems sowie den Umgang mit wachsenden sozialen und globalen Ungerechtigkeiten.“ (Bildungspläne Baden-Württemberg 2016)
Natur und Zukunft
Umwelt, Wirtschaft und Gerechtigkeit werden in den gerade zitierten baden-württembergischen Bildungsplänen aufgezählt, als seien sie für BNE gleich wichtig. Allerdings funktioniert keine Wirtschaft ohne ökologische Basis. Und Gerechtigkeit zwischen den Generationen und zwischen den Spezies gibt es ebenfalls nur, wenn die ökologische Basis hält. Die meisten BNE-Konzepte legen den Fokus deshalb auf Umwelt und Zukunft: Bildung für nachhaltige Entwicklung bringt die Faktoren Natur und Zukunft in Bildungsprozesse ein. Es geht BNE um die Fähigkeit, die Entwicklungsprobleme der Gesellschaft hinsichtlich ihres Naturverhältnisses zu lösen. Sie ist ausgerichtet am Kriterium intergenerationeller Gerechtigkeit.
Schweißtage
BNE betrifft alle Bildungsbereiche vom Kindergarten bis zur Hochschule. BNE betrifft jeweils die ganze Bildungsinstitution, vom Betrieb (Wie heizen wir? Was essen wir? Wie gelangen wir hierher?) bis zu den pädagogischen Methoden (die Beteiligung, Kritik und Kreativität einüben sollen). Und schulisch ist BNE ein Konzept aller Fächer: Von den Naturwissenschaften, die bspw. für das Verstehen von Klimawandel und Artensterben sorgen, über Politik, der es um Macht, Beteiligung oder zivilen Ungehorsam in der Krise geht, bis hin zu Sport, Musik und Kunst, die sich ‚der Natur‘ ästhetisch nähern, mit Outdoor-Sport, Klimamusicals oder Gartenkunst.
Diese Auflistung klingt nach Sortierung des komplexen Problems in einen 45-Minuten-Fächer-Rhythmus. Doch allein so lernt niemand das, worauf BNE zielt: „die Fähigkeit, Probleme nicht nachhaltiger Entwicklungen erkennen und Wissen über nachhaltige Entwicklung wirksam anwenden zu können“[1], die Fähigkeit, Entwicklungen zu antizipieren, Komplexität zu durchdringen, mit anderen zu kooperieren und sie zu motivieren. Zentrales Merkmal von BNE ist deshalb die Handlungsorientierung über Fächergrenzen hinweg – so wie bei den Schweißtagen an einer Münchener Mittelschule, von der mir jüngst ein Religionslehrer erzählte. Im Religionsunterricht war das Thema Müll: Was ist Müll? Gibt es in der Schöpfung Müll? Was hat Müll mit Klima zu tun? Wer leidet unter unserem Müll? Wer hat ein Interesse an Strukturen, die Müll produzieren? Die Jugendlichen regten sich dabei über die Aluverpackungen in der Mensa auf. Teller seien dem Betreiber zu teuer. Was tun? Die Schüler*innen der gesamten Schule boten schließlich im Stadtteil ihre Arbeit an: einen Samstag lang fossilbetriebene Maschinen mit Muskelkraft zu ersetzen. Das Spendengeld sollte den Mehrpreis für müllfreies Essen decken.
Die Resonanz war überwältigend. Die Schüler*innen machten die Erfahrung, dass es immer auch anders geht und dass sie etwas bewegen können: den Handrasenmäher, die Axt – und sogar den Mensabetreiber, der sich schließlich mit einem Sponsor auf den dauerhaften Umstieg auf Teller einigte.
Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung
Die Schweißtage hätten auch aus anderem Unterricht entstehen können. Die Fächergruppe Ethik/Religion fragt im Rahmen von BNE nach Natur und Menschsein, nach der Würde von Tieren, nach Klimaschuld und nach der Rechtfertigung umweltbezogenen Handelns. Die explizit religiöse Ebene von BNE beginnt darüber hinaus bei Fragen nach Hoffnung, Sinn und Beistand. Typisch religiöse Projekte sind Klimakreuzwege, das Bauen einer Klimaklagemauer, das Setzen einer Stele für jüngst ausgestorbene Tiere oder die Planung eines Klima-Dank-Gottesdienstes zum Abschluss der Schweißtage.
Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung will Menschen so mit dem Glauben in Berührung bringen, dass sie diesen als Inspiration, Unterbrechung und Anspruch in der ökologischen Krise wahrnehmen. Sie befähigt zur Mitwirkung an der ökologischen Transformation. Es geht um Vorbilder suffizienten Lebens (Franziskus, Klostergemeinschaften), um Schöpfung als Vision einer gerechten, wohlgeordneten Welt, in der alle Lebewesen von Gott gleich gut versorgt werden (vgl. Psalm 104), um Hoffnung auf Gottes Hilfe, um die Einbindung aller in das Netz des Lebendigen oder um Widerstand aus christlicher Motivation, wie man ihn bei den Christians for Future oder Die Kirche(n) im Dorf lassen kennenlernen kann.
Wäre Jesus bei extinction rebellion Faith mitgegangen?
Jugendliche würde ich auf Antwortsuche zuerst mit Menschen von extinction rebellion Faith reden lassen: Was hat das mit eurem Glauben zu tun? Ist das eine Demonstration oder eine Meditation? Bringt das was? Soll es etwas bringen? Und was meint ihr: Hätte Jesus mitdemonstriert?
Zugegeben, eine anachronistische Frage. Doch Gründe gäbe es: Die Armen stehen für Jesus im Mittelpunkt – und die Armen, Menschen und Tiere, sind die ersten und größten Leidtragenden der ökologischen Krisen. Das von Jesus angekündigte Reich Gottes beginnt mitten in der Welt. Und wie extinction rebellion setzt Jesus auf symbolische Akte, ohne Rücksicht auf sich selbst oder darauf, ob es Menschen überzeugt, wenn man sie verärgert (so z.B. Mk 11, 15-19). Das Reich Gottes würde Jesus vielleicht heute so beschreiben:
„Blinde sehen wieder und Gelähmte gehen; Ozeane werden rein und Gletscher wachsen; ausgestorbene Tiere stehen auf und allen Armen wird das Evangelium verkündet.“ (vgl. Mt 11, 15)
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[1] de Haan, Gerhard; Kamp, Georg; Lerch, Achim u. a., Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Grundlagen und schulpraktische Konsequenzen, Berlin, Heidelberg 2008, 12.
Zum Weiterlesen von der Autorin:
Every Day for Future. Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Ostfildern 22020.
Alles wird gut? Franziskanische Inspirationen zur Klimakrise, Würzburg 2021.
Dr. Katrin Bederna, Professorin für Katholische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg
Bildnachweis: Stefan Müller/PIC ONE; Gehmeditation von XR Faith (CC BY-NC 2.0)