Lea Chilian über die Bedeutung von Zutrauen in medizinethischen Konflikten.
Das fragt der Stallmeister den Zirkusdirektor in dem Kinderbuch „Die dumme Augustine“ von Otfried Preußler, als Augustine, bis dahin Mutter und Hausfrau, kurzerhand für ihren erkrankten Mann in der Manege auftritt – und alle begeistert.
Sich selbst als Frau etwas zuzutrauen, bzw. Frauen etwas zuzutrauen, spielt in Debatten zur Chancengleichheit und „Frauenquote“ oft eine Rolle. So wird z.B. die Unterrepräsentation von Frauen in höheren Führungsebenen damit erklärt, dass sie sich diese Rolle oft nicht zutrauen würden bzw. sich erst gar nicht bewerben, wenn sie der Meinung sind, nicht alle geforderten Kompetenzen erfüllen zu können. Oder dass Frauen bei Besetzungen nicht berücksichtigt würden, weil andere ihnen Führungsverantwortung nicht zutrauten…. und so weiter und so weiter.
Hermeneutik des Zutrauens
Auf einer Tagung zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland sprach bei der abschließenden Podiumsdiskussion Dr. Christina-Maria Bammel, Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, davon, dass es nötig sei „die Verantwortung der Frau zu verbinden mit einer ethischen Praxis und einer Hermeneutik des Zutrauens.“[1] Was bedeutet das? Welche Rolle spielt Zutrauen in emanzipativen Prozessen und wie wird es beeinflusst?
Das lässt sich am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs gut verdeutlichen: Bisher[2] ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach §218 StGB als straffreie Straftat mit Fristenregelung und verpflichtendem Beratungsgespräch geregelt – doch dieser Kompromiss steht wieder zu Debatte. Es gibt verschiedene Aspekte an §218 StGB, die diskutiert werden können. Von Seiten feministischer Kritiker:innen wird neben der Kriminalisierung des Abbruchs u.a. formuliert, mit der Verpflichtung zum Beratungsgespräch werde Frauen eine folgenreiche Entscheidung nicht zugetraut. Die Rede von der reproduktiven Selbstbestimmung erfordere es jedoch, den Betroffenen eine selbstständige Entscheidung zuzutrauen und insofern Zutrauen in die Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit der schwangeren Frauen zu setzen. Eine evangelisch-ethische Untersuchung zum Schwangerschaftsabbruch weist darauf hin, dass „das uneingeschränkte Zutrauen in die Entscheidungsfähigkeit schwangerer Frauen […] für eine die Schwangerschaft wertschätzende Haltung unverzichtbar“ sei – auch wenn das einen Abbruch bedeuten könne.[3] Zutrauen brauche es sowohl in die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen als auch in der Beratungspraxis als einem Zuspruch an die Betroffenen, sich eine Schwangerschaft zuzutrauen. Zutrauen kristallisiert sich hier nicht nur als Schlüsselbegriff heraus, sondern auch als spannungsreich zwischen Zuspruch, Befähigung und Übergriffigkeit.
Zutrauen – zwischen Zuspruch, Befähigung und Übergriffigkeit
Vertrauen und Zutrauen in die Entscheidungsfähigkeit von Personen spielt auch in anderen Bereichen der modernen Medizin eine zentrale Rolle. In der Medizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der „informed consent“ als zentrales Prinzip für das Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen durchgesetzt. Die Einwilligung nach erfolgter Aufklärung bezeichnet im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung die von Information und Aufklärung getragene Einwilligung der Patient:innen in Eingriffe und andere medizinische Maßnahmen. Im Hintergrund dazu steht der Zusammenhang von Autonomie und Vertrauen. Der Respekt vor der Autonomie der Patient:innen erfordert es, sie ausführlich über die angedachten Behandlungsschritte zu informieren, Nebenwirkungen und Risiken zu erläutern und auch auf mögliche Alternativen hinzuweisen. Auf dieser Grundlage sollen sie eine Entscheidung hinsichtlich der medizinischen Möglichkeiten treffen.
Beim informed consent, bei Patientenverfügungen, bei gesundheitlichen Vorausplanungen (Advance Care Planning) und Zustimmungslösungen bei der Organspende trauen die Medizin und der Gesetzgeber den Menschen viel zu – um über ihr eigenes oder das Leben eines nahen An-/Zugehörigen zu entscheiden. Dem Respekt vor der Autonomie der Patient:innen folgt ein Zutrauen in deren Fähigkeiten auf dem Fuße. Zutrauen ist also mehr als nur das Anerkennen des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung. Vielmehr wird angenommen, der:die Entscheidungstragende wisse am besten, was zu seinem:ihrem persönlichen Wertekanon und Vorstellung von einem guten Leben passe. Dieses Zutrauen endet dort, wo Grenzen der Urteilsfähigkeit erreicht sind. Im medizinethischen Kontext baut also das Zutrauen in Entscheidungsfähigkeit auf der Vorannahme von psychischer Gesundheit, Mündigkeit und Urteilsfähigkeit auf. Doch niemand würde behaupten wollen, eine Schwangerschaft trübe die Urteilsfähigkeit ein und man könne den Betroffenen eine solch weitreichende Entscheidung nicht zutrauen.[4]
der:die Entscheidungstragende wisse am besten, was zu seinem:ihrem persönlichen Wertekanon und Vorstellung von einem guten Leben passe
Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich in den vergangenen 50 Jahren umfassend mit dem Phänomen des Vertrauens beschäftigt. Häufig geht es um das Vertrauen in Personen, mitunter um das Vertrauen in Institutionen, oder auch um das Vertrauen in Digitalität und KI. Vertrauen ist ein komplexes Phänomen, denn es transformiert die nicht zu vermeidende Unwissenheit (z.B. bei globalen Geschäften) in ein akzeptiertes Risiko. Vertrauen ist für unser globales wie lokales Handeln in der Gesellschaft eine zur Reduktion von Komplexität unverzichtbare Einstellung. Prozesse der Modernisierung und Globalisierung machen deshalb ausgereifte Vertrauensnetzwerke nötig.
Das Zutrauen ist dem Vertrauen verwandt, jedoch nicht identisch mit ihm. Beide gehen ineinander über. Am Beispiel des Trauens auf Professionen lässt sich das gut veranschaulichen: Wir haben ein Professionsvertrauen in die Ärztin, aber auch ein Zutrauen in ihre fachliche Kompetenz. Zutrauen in die Fähigkeit zur Entscheidung baut also auf Rationalität auf, z.B. dem Anerkennen von Fähigkeiten, wohingegen „echtes“ Vertrauen ohne rationales Kalkül auskommen muss. Ein Blick in die historische Wortverwendung zeigt, dass man einen sprunghaften Anstieg in den 1960ern, und dann noch einmal zwischen 1987 und 1995 verzeichnen kann. In Phasen, wo Autonomie und Selbstbestimmung, Individualisierung und Emanzipierung eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung spielten, wurde also häufiger vom „Zutrauen“ geschrieben resp. gesprochen.[5] Dort wo Autonomie und (Selbst)Verantwortung Priorität genießen, wo Freiheit und Selbstbestimmung zum Wertekanon gesellschaftlichen Zusammenlebens gehören – dort wird Menschen etwas zugetraut. Ob man ihnen vertraut, ist damit noch nicht gesagt.
Das Zutrauen ist dem Vertrauen verwandt, jedoch nicht identisch mit ihm.
Was bedeutet das nun im Hinblick auf die Debatte zum Zutrauen in die Entscheidungsfähigkeit von Personen in Schwangerschaftskonflikten? Betroffenen Personen das Angebot zu machen ihnen bei dieser Entscheidung beizustehen, sie zu begleiten, ihnen ggf. Ermutigung, Ermächtigung und Entlastung anzubieten – das ist ein wichtiges und legitimes Instrument, um Schwangeren Zutrauen, im Sinne des Empowerments zukommen zu lassen. Dies entspricht einer aus care-ethischer Überzeugung motivierten gesamt-gesellschaftlichen Sorge füreinander, sodass deren einzelne Mitglieder Entscheidungen, die ihren eigenen Vorstellungen eines guten Lebens und ihrem Wertekanon entsprechen, fällen können. Den betroffenen Personen die freie Entscheidung, ob sie ein solches Beratungsangebot annehmen wollen, zu nehmen, weist darauf hin, dass in diesem Falle dem staatlicherseits garantierte Schutz des (potenziellen) Lebens aktuell ein höherer Wert zugesprochen wird, als der Freiheit der Entscheidungstragenden zum Beratungsgespräch zu gehen. Man möchte so sicherstellen, dass Schwangere ihre Entscheidung frei von äußerem Druck und umfassend um Unterstützungsmöglichkeiten informiert, treffen können. Zu diskutieren bleibt, ob dahinter ein paternalistischer Gedanke des Misstrauens in Fähigkeiten von schwangeren Personen zu vermuten ist.
paternalistischer Gedanke des Misstrauens in Fähigkeiten von schwangeren Personen
Die dumme Augustine und der dumme August entscheiden sich am Ende des Kinderbuchs übrigens dazu, sich Care-, Haus- und Lohnarbeit zu teilen. Sie trauen einander die Bewältigung der Aufgaben zu und es keimt die Hoffnung auf, dass die Dinge in Zusammenarbeit noch besser gelingen könnten. Das Buch ist übrigens von 1972.
Schwangere auf ihrem Weg zur Entscheidung gesamtgesellschaftlich zu unterstützen und ihnen eine eigenständige Entscheidungsfindung zuzutrauen, aber auch sich die Herausforderungen einer Schwangerschaft und des „Kindergroßziehens“ ebenfalls gesamtgesellschaftlich zu teilen und „Kinder zu haben“ nicht länger mit einem stark erhöhten Armutsrisiko zu verbinden – das könnte man einer Gesellschaft ruhig zumuten und auch zutrauen.
Dr. Lea Chilian, evangelische Theologin, ist post-doc und Oberassistentin am Institut für Sozialethik des Ethik-Zentrums der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Medizin- und Care-Ethik sowie ethischen Fragen kirchlicher Handlungsfelder. Sie arbeitet an einem Habilitationsprojekt zur Hermeneutik des Ver- und Zutrauens.
Fotografin: Caroline Krajcir.
[1] EPD-Dokumentation 36/2022, 49f.
[2] Zur Geschichte des §218 vgl. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/290795/kurze-geschichte-des-paragrafen-218-strafgesetzbuch/
[3] Kohler-Weiß, Christiane (2003), Schutz der Menschwerdung. Schwangerschaft und Schwangerschaftskonflikt als Themen evangelischer Ethik (Öffentliche Theologie 17), Gütersloh, 371.
[4] Stattdessen wird Schwangeren in einer weiter fortgeschrittenen Schwangerschaft, bei der eine genetische Anomalie des Ungeborenen diagnostiziert wird, die Entscheidung zum Abbruch ohne externes Sozialberatungsgespräch zugetraut.
[5] Art. „Zutrauen“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Zutrauen>, abgerufen am 15.05.2023).
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