Dieser Erfahrungsbericht von Thérèse Mema Mapenzi beschreibt die Arbeit in der psychosozialen Betreuung von Frauen im Kivu/Ostkongo, die von Gewalt traumatisiert wurden, und stellt Lösungsansätze für eine psychosoziale Wiedergutmachung an Überlebenden bewaffneter Konflikte in der Demokratischen Republik Kongo vor.
O. Einleitung
Ich bin Direktorin des Centre Olame in Bukavu, einer Einrichtung der Katholischen Kirche in der Erzdiözese Bukavu in der Demokratischen Republik Kongo, dessen Aufgabe die Förderung von Frauen und Mädchen ist. Im Folgenden berichte ich über meine und unsere Erfahrungen in der Arbeit am Centre Olame (http://www.olame-rdc.org).
Gewalt gegen Frauen in all ihren Formen ist in unserem Jahrhundert zu einer alltäglichen und sichtbaren Realität geworden: Sexismus, sexuelle Belästigung, sexuelle Zurschaustellung, Erpressung, verbale und nonverbale Belästigung, sexualisierte physische Gewalt, körperliche Belästigung, Vergewaltigung, Mord – die Liste ließe sich fortsetzen. In diesem Kontext bleibt es nicht aus, dass sexualisierte Gewalt in allen Teilen der Welt Opfer erzeugt, allerdings auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß.
Jeden Tag, ob zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf der Straße, zahlen Frauen den Preis. Sexualisierte Gewalt hat schwerwiegende Folgen: Sie untergräbt das Vertrauen zwischen Mann und Frau, zwischen Familienmitglieder und in der Gemeinschaft, sie erzeugt Gleichgültigkeit, verängstigt Menschen und schränkt die Freiheit ein. Sie verletzt die Rechte und die Würde von Menschen – in der Mehrzahl die Würde von Frauen – und festigt die männliche Dominanz. Sexuelle Gewalt geschieht nicht spontan und schon gar nicht ohne Grund. Sie vermittelt eine Botschaft und eine Ideologie, die darauf abzielt, die Frau zu erniedrigen.[1] Sie ist nicht Teil der „menschlichen Natur“ oder der „männlichen Natur“. Sie hat soziale und kulturelle Gründe und kann sich auf Grund von Gewohnheiten, vorgefassten Meinungen über die Sexualität oder über die Frau und auch auf Grund der Straffreiheit für Täter ausbreiten.[2]
Nicht alle Menschen sitzen im gleichen Boot; jedes Land hat seine eigenen Realitäten. Aber im Kongo verdient das Thema dieser Menschenrechtsverletzungen aufgrund des Ausmaßes der Schäden, die angerichtet werden, eine besondere Aufmerksamkeit. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass die Menschenrechtsverletzungen und die geschlechtsspezifische Gewalt, der viele Frauen zum Opfer fallen, im Kongo einem Feminizid gleichkommen.[3]
Die Gewalt gegen Frauen hat im Osten des Kongo, insbesondere in den Kivu-Provinzen, einen Höhepunkt erreicht. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit neuen Fällen von Entmenschlichung von Frauen, von grausamen und erniedrigenden Praktiken, denen Frauen zum Opfer fallen, konfrontiert werden. Was uns jedoch erstaunt, ist das Misstrauen, das uns entgegengebracht wird, wenn wir uns um diese Frauen kümmern. Es ist eine Art kulturelle Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Frauen entstanden: Die Gewalterfahrungen werden karikiert, sie werden als „Halluzinationen“ abgetan, als Seltsamkeit oder Abweichung. Aber der Feminizid ist in unserer Gesellschaft omnipräsent. Die kongolesische Frau und die Frauen im Kivu im besonderen leben gleichsam unter dem Gesetz des Dschungels und seiner unglaublichen Feindseligkeit und Bestialität. Frauenmorde geschehen an Individuen und an Gruppen von Frauen. Manchmal werden diese Verbrechen von Einzelpersonen begangen, in anderen Fällen aber auch von bewaffneten Gruppen.
In diesem Artikel möchte ich die Erfahrungen im Centre Olame in der Arbeit mit traumatisierten Frauen im Kivu vorstellen. Das Centre Olame ist eine Einrichtung der Erzdiözese Bukavu. Ich selbst bin Sozialarbeiterin, Psychologin und Direktorin des Centre Olame in Bukavu; ich arbeite seit 16 Jahren im Bereich Gender und sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt. Unsere Erfahrung im Centre Olame ist: die Narben verheilen – trotz vielfältiger Hilfsmaßnahmen – nur sehr langsam; im Laufe des Lebens werden sie schmerzhafter als die Wunden.
Heute engagieren sich zahlreiche Akteure für die Wiedergutmachung und Wiederherstellung von Opfern und Überlebenden von Vergewaltigungsverbrechen. Doch leider sehen die Opfer und Überlebenden nur langsam die vollständige Heilung ihrer Wunden und die vollständige Heilung und Wiedergutmachung, die sie benötigen. Wir stellen uns die selbstkritische Frage: Sind die Maßnahmen, die wir ergreifen, wirksam? Ist eine effektive Wundheilung überhaupt möglich?
Diese doppelte Frage begleitet uns humanitäre Helfer und Helferinnen, Gesundheitsfachkräfte, Menschenrechtsaktivisten und -innen und Forscher und Forscherinnen im Bereich der Gewalt gegen Frauen. Wir teilen sie auch mit Dr. Denis Mukwege, unserem Kollegen und Freund, der sein Krankenhaus zur Behandlung von traumatisierten und verwundeten Frauen ebenfalls in Bukavu betreibt und der im Jahre 2018 den Friedensnobelpreis für seine Arbeit erhalten hat.
Dieser Artikel enthält grundlegende Überlegungen, um die Debatte zur wirksamen Wiedereingliederung von Opfern sexueller Gewalt voranzubringen. Wir wollen dauerhafte Lösungen vorschlagen, damit Opfer eine Wiedergutmachung erhalten, die dem erlittenen Schaden angemessen ist und damit ihre Erinnerungen geehrt werden.
1. Die Wunden der Gewalt: Fünf Beispiele
Ich stelle im Folgenden einige erschütternde Geschichten aus unserer Arbeit vor; diese Informationen stammen aus den Gesprächen mit den Opfern, aus der Beratung von Einzelnen und von Gruppen, die wir betreut haben. Wir dringen damit gleichsam in die Tiefe und in das Innenleben des Bösen vor und begegnen unglaublichen Fällen menschlicher Barbarei gegenüber Frauen. Auf diese Geschichten zu hören ist ein erstes Mittel gegen die Gleichgültigkeit.
Frauen als Geiseln ihrer eigenen Geschichte: Frau Ntakwinja[4]
Frau Ntakwinja verlor ihren Mann Joseph im Jahr 2003. Er war auf dem Weg nach Shabunda, einem Ort im Landesinnern, wo er Handel treiben wollte, um für seine Familie das Überleben zu sichern. Er geriet in einen Hinterhalt der FDLR (Forces Démocratiques pour la Libération du Rwanda) und wurde ermordet. Als Frau Ntakwinja uns gegenübersaß, trauerte sie nicht nur um ihren geliebten Mann, sondern auch um denjenigen, der die Familie ernährt hatte und nach dessen Tod sie nun die Verantwortung für drei Kinder tragen mußte.
Gemäß der lokalen Kultur hat die Frau kein natürliches Recht auf das Erbe ihres Mannes, vor allem wenn kein Testament vorliegt. Die Familie des Mannes entscheidet, was mit der Witwe und ihren Kindern passiert. Frau Ntakwinja wurde misshandelt und allen Formen häuslicher Gewalt ausgesetzt, die von den Schwagern, Schwägerinnen und sogar den Schwiegereltern verübt wurden: öffentliche Beschimpfungen, Verunglimpfungen, Entzug von Land, Vertreibung aus dem Haus, Beschuldigung der Frau als Hexe. Frau Ntakwinja beschloss daher, zwei Jahre später zu ihrer eigenen Familie zurückzukehren. Aber auch dort wurde sie von ihren Brüdern nicht unterstützt, sondern als Bedrohung angesehen, die vom Familienbesitz wie der Bewirtschaftung der Felder und der Nutzung von Räumen im Haus profitieren wollte. Sie beschloss nach drei Jahren, wieder zu heiraten. Dann kamen die FDLR-Rebellen in ihr Dorf, plünderten ihr gesamtes Hab und Gut und erschossen ihren Mann. Als sie sich um ihren toten Mann kümmern wollte, wurde sie von einem Rebellen neben ihrem am Boden liegenden toten Mann vergewaltigt. Sie erzählte uns: „Die Jahre sind vergangen, aber jedes Mal, wenn ich mich an den Tod meines Mannes erinnere, erlebe ich die Gewalt immer wieder, als wäre es gestern gewesen. Die Bilder der Angreifer haben mich nie verlassen, der Schmerz ist immer noch enorm.“
Das Unglück, ein Kind aus einer Vergewaltigung zu haben: Frau Vumilia
Frau Vumilia wurde in Kahungu/Katana, im Kabare-Territorium in Südkivu/DRK geboren. Im Februar 2014, als sie sich gerade zum Schlafengehen vorbereitete, drangen drei Mitglieder der Interahamwe[5] in ihre Parzelle ein. Sie hatten die Tür mit einer Axt aufgebrochen. Die Kinder waren nicht im Haus, das sie die Umgebung sicherten. Ihr Mann konnte sich durch eine kleine Öffnung im Haus ins Freie retten.
Die Angreifer plünderten zuerst alles, was sie im Haus haben wollten; dann zwangen sie Frau Vumilia hinauszugehen und ihre Beute zu tragen. Draußen bemerkte sie, dass weitere Geiseln auf ihrem Hof waren: vier Mädchen und drei Frauen aus demselben Dorf, darunter Annunciata, M’ndaku, M’nyakaluzi und Charlotte M’lujuci. Gemeinsam marschierten sie vier Tage lang, bevor sie das Lager der Angreifer mitten im Wald erreichten.
Nach einer Woche und entgegen aller Erwartungen entschieden sich die Angreifer, ihre Geiseln freizulassen, weil sie selbst ihre Reise fortsetzen mussten. Vumilia und ihre Begleiterinnen entschieden, zu ihren Familien zurückzukehren, in der Hoffnung, dass es für diese eine Freude sein werde, sie trotz der erlittenen Vergewaltigungen lebend wiederzusehen. Die Frauen waren erneut vier Tage lang zu Fuß unterwegs, um ihr Heimatdorf zu erreichen.
Zu Vumilias Leidwesen verlief die Begrüßung ganz anders. Ihr Mann war verärgert und wandte sich von ihr ab. Die Situation wurde von Tag zu Tag schlimmer. Einen Monat später bemerkte Vumilia, dass sie schwanger war. Ihr Mann wollte nichts von der Schwangerschaft wissen, geschweige denn von dem Kind, das daraus hervorgehen würde. Vumila gebar einen Jungen, den sie Steeve nannte. Vumilias Mann schlug den kleinen Steeve jeden Tag, bevor er beschloss, seine Frau und Steeve’s Mutter zu verlassen.
Heute ist Steeve zehn Jahre alt und geht nicht zur Schule. Auf dem Kopf trägt er eine Narbe von den Folterungen, die ihm der Ehemann seiner Mutter zufügte. Sein seelisches Leiden ist noch schlimmer. Der Mann seiner Mutter nannte ihn „Interahamwe“, der Namen für die FDLR-Rebellen. Steeve denkt, dass er ein Interahamwe ist, da er auch von anderen Kindern im Dorf so genannt wird; er hat den Namen der Vergewaltiger seiner Mutter angenommen.
Der Krieg hat mich lebenslang verwundbar gemacht: Herr Oswald
Oswald war in seinem Dorf in Kayanja ein reicher Mann. Er hatte viele Kühe, Mühlen und sehr fruchtbare Felder. Eines Tages kamen die Angreifer, plünderten sein Haus und töten alle seine Kühe; ihm schossen sie ein paar Gewehrkugeln ins Knie. „Sehen Sie“, sagte Oswald, „ich bin nun behindert und verarmt. Ich hätte gern ein neues Leben begonnen, aber ich kann nichts mehr tun. Ich musste meine medizinische Versorgung allein bezahlen, ich konnte mir nicht einmal Krücken kaufen. Warum ich?“, schloss er seinen Bericht.
Ungerechtigkeit schreit nach Gerechtigkeit: Frau Cibalonza
Frau Chibalonza berichtet: „Ich lebte mit meinem Mann friedlich in Goma in Nord-Kivu. Wie es in unserer Kultur üblich ist, wollten wir in unser Heimatdorf zu gehen, um unseren Eltern ihre Enkelkinder zu zeigen. Dazu fuhren wir nach Kabamba (in der Provinz Süd-Kivu).
Zwei Tage nach unserer Ankunft kamen in der Nacht Rebellen in unser Haus; sie stahlen das gesamte Geld und alle unsere Besitztümer. Als sie mich vergewaltigten wollten, erschossen sie meinen Mann, der sich einmischen und mich verteidigen wollte. Dann machten sie weiter und vergewaltigten mich vor dem leblosen Körper meines Mannes, der neben mir auf dem Boden lag.
Dank der Betreuerinnen der Maison de Conseil hatte ich die Chance, mich im Krankenhaus von Panzi[6] behandeln zu lassen. Dort erfuhr ich, dass ich HIV/AIDS hatte. Was für ein Unglück! Welch Schmerz, das erfahren zu müssen! Ich ertrage nun nicht nur die Schmerzen der Krankheit, sondern auch die tägliche Stigmatisierung. Von der Schwiegerfamilie und den Menschen in meinem Dorf wurde ich verlassen, sie glauben, dass AIDS sogar durch einen Gruß und ein Lächeln, das sie mir schenken können, übertragen werden kann. Wie hart und beängstigend ist das!
Und was für ein Unglück: wir sehen und hören, dass diese Rebellen immer noch frei im Wald herumlaufen und immer noch weitere Frauen und Mädchen vergewaltigen. Unser Leben wird geopfert und jeder schaut uns mit einem mitleidigen, mitfühlenden Blick an, ohne wirklich mit unserem wahren Unglück mitzufühlen.“
Eine gestohlene und vergewaltigte Kindheit, die Narben hinterlässt: Frau Thérèse
Frau Thérèse erzählt: „Als ich neun Jahre alt war, vergewaltigte mich der Verlobte meiner Cousine, die bei uns wohnte. Er warnte mich, dass ich es niemandem erzählen durfte und drohte, er würde mich töten, falls ich das tun würde. Meine Cousine war ebenfalls verängstigt; sie hatte Angst vor der Bestrafung durch die Eltern, aber auch davor, ihren Verlobten zu verlieren, und hielt die Nachricht vor meiner Mutter geheim. Am Abend, als ich mich etwas beruhigt hatte, kam der Mann zurück und zwang meine Cousine, mich herbeizurufen. Er schüchterte mich wieder mit dem Messer ein. Meine Mutter, die in der Nähe war, überhörte das Gespräch.
Der Mann schlug mich vor meiner Mutter und sagte ihr, dass er mich dabei erwischt hätte, wie ich mit anderen Jungs zusammen war. In ihrer Naivität glaubte meine Mutter ihm und schlug mich ebenfalls. Ich glaubte, dass ich wirklich verantwortlich und schuldig für das war, was mir passiert war. Es folgten Misshandlungen, körperliche Bestrafungen, für die ich nicht einmal den Grund kannte, Stigmatisierungen in der Schule, die zur Isolation führten (…). Als ich älter wurde, begegnete ich vielen weiteren Fällen von Mobbing in der Schule, auf der Straße, im Krankenhaus und musste mich mehrmals schützen, um nicht missbraucht zu werden. Als ich erwachsen war und mich auf die Ehe vorbereiten musste, lernte ich nach und nach, dass eine gute Frau Jungfrau sein sollte, und ich verstand, dass ich eine Schande war, dass ich meine Würde verloren hatte. Immer wieder in meinem späteren Leben wurde ich gefragt: Bist du noch Jungfrau? Und wenn ich sagte, dass ich es nicht mehr bin, schauten mich einige meiner Mitschüler erstaunt an. Ich war eine Schande! Ich musste erklären, wie ich meine Unschuld verloren hatte. Immer wieder wurde ich an meine gestohlene Kindheit erinnert“.
Diese Berichte schildern reale Erfahrungen von Überlebenden sexueller Gewalt. Diese Menschenrechtsverletzungen werden bewusst als Kriegswaffe eingesetzt, um eine ganze Generation von Männern und Frauen im Osten des Kongo zu töten und zu erniedrigen. Diese Erfahrungen geschehen nicht auf der Theaterbühne oder im Kino; sie sind keine Fiktion, sondern eine schmerzhafte Realität für so viele Frauen, die mit diesen schmerzhaften Narben leben müssen.
Neben den bewaffneten Konflikten leiden Mädchen und Frauen enorm unter der kulturell bedingten Gewalt. In den letzten Jahren haben humanitäre Helfer und andere Beobachter den Kongo als den „schlimmsten Ort, um ein Kind zu sein“ oder den „schlimmsten Ort der Welt, um eine Frau zu sein“ bezeichnet.[7] Es gibt so viele bekannte und unbekannte Opfer, die Mitleid und Mitgefühl hervorrufen. Wie lange wird dieses Unglück noch andauern?
2. Wer profitiert von diesen Verbrechen? Die Agressoren von gestern, die Herrscher von heute!
Diese Verbrechen kommen denjenigen zugute, die diese Konflikte für ihre eigenen Interessen anheizen und die Fäden in der Hand halten. Diese Profiteure geschlechtsspezifischer Gewalt agieren direkt und indirekt, aktiv und passiv, national und international. Es sind böse und bösartige Menschen, aber auch Gruppierungen und Staaten, die sehr strategisch vorgehen, wenn sie die Regeln dieses perfiden Systems aufstellen. Diese Kräfte des Bösen erreichen ihr Ziel mit der Hilfe von einheimischen und ausländischen Mächten.[8] Indem sie Frauen angreifen, wird deutlich, dass die Familie das Epizentrum dieses Konflikts ist und zugleich von Konfliktparteien gleichsam in Geiselhaft genommen wird.
Wenn man die Ursprünge sexueller Gewalt untersucht und Ross und Reiter nennt, muss man dies auch bei der Frage der Wiedergutmachung tun, wenn es um eine Behebung der Schäden geht, die von bewaffneten und unbewaffneten Banden an Frauen verursacht wurden.
Vergessen wir auch nicht die Rolle kultureller Praktiken und Gewohnheiten, die wir in bestimmten Strukturen beobachten. In Kirchen, Schulen, Familien, und im Arbeitskontext erleiden Frauen und Kinder oft Gewalt, die im Verborgenen bleibt.[9] Die Täter werden nicht verfolgt, sind frei oder werden sogar vom System geschützt. Wir kennen Beispiele in Schulen, wo in mehreren Einrichtungen der Primar-, Sekundar- und Tertiar- (Beruflichen) Bildung Vergewaltigungen und geschlechtsspezifische und sexueller Gewalt an Kindern (Mädchen und Jungen) verübt wurden, die von ihren „Erziehern“ begangen werden. Diese bleiben straffrei, weil die Opfer meist nicht den Mut haben, ihre Misshandlungen anzuzeigen.
Dasselbe gilt für die Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Kinder und Frauen, die von religiösen Führern missbraucht und ausgebeutet werden und deren Verbrechen wegen des absoluten Schweigens im kirchlichen Raum vertuscht werden. Solche Verbrechen haben schädliche psychologische Auswirkungen auf die Opfer, sie führen zu Schulversagen und zu Schäden im emotionalen Verhalten der Kinder; sie gefährden aber auch den sozialen Zusammenhalt in den Schulen und Gemeinden. Aus unserer Erfahrung und den Berichten so vieler Opfer, die wir im Centre Olame hören, können wir eine Bestandsaufnahme vornehmen, deren Ergebnisse die Basis zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt dienen können. Zur Verhinderung von Misshandlung gehört zuallererst, dass die Täter bestraft werden, um das Vertrauen in die soziale Gerechtigkeit eines Landes und einer Gesellschaft herzustellen. Damit sich diese Wunden schließen, ist aber auch eine allgemeine Mobilisierung nötig, eine individuelle und kollektive Bewusstseinsbildung, was eigentlich im sozialen und politischen System der Demokratischen Republik Kongo falsch ist. Und diese Bewusstseinsbildung muss jetzt geschehen.
3. Narben sind schmerzhafter als Wunden
Gewalt hinterlässt schwere traumatische Spuren bei den Opfern und erfordert eine Behandlung, die diesem Ausmaß entspricht. Sexualisierte Gewalt hat schwerwiegende Langzeitfolgen. Einige der Opfer, deren Geschichte wir dokumentiert haben, beschrieben das tiefe Leid, das sie erlitten hatten. Manchmal berichteten sie, wie auch andere Familienmitglieder von dem Geschehenen betroffen waren, nicht damit umgehen konnten und ihre Unfähigkeit in Gewalt umsetzten. So zum Bespiel ein Vater, der seinen Sohn gegen einen Löwen nicht verteidigen konnte, und seine Unfähigkeit in Wut über seinen toten Sohn ausdrückt.
Andere Opfer erlitten Verletzungen an den Genitalien, hatten wochenlange Blutungen oder hatten mit anderen medizinischen Folgen zu kämpfen. Trotz des Risikos einer HIV-Infektion haben sich nicht alle Opfer, mit denen wir arbeiten, auf HIV testen lassen. Diejenigen, die verheiratet waren, wurden oft von ihren Ehemännern verstoßen und verließen häufig ihre Häuser, wobei sie ihr Einkommen und den Großteil ihres Besitzes verloren. Andere waren aufgrund ihrer schlechten physischen oder psychischen Verfassung nicht in der Lage, ihre Arbeit fortzusetzen. Die durch Vergewaltigung geborenen Kinder bleiben ein ungelöstes Problem, da sie immer an das Unglück erinnern, das die Familie und die Gemeinschaft am Tag ihrer Empfängnis erlebt haben.
Im Blick auf die Beispiele, die wir im Centre Olame gehört haben und von denen einige in diesem Artikel vorgestellt wurden, wird das ganze Ausmaß des Schadens bewusst, der sowohl individuell als auch kollektiv angerichtet wurde. In einigen Fällen können wir die Rede von einem „Feminizid“ im Kivu bestätigen, in anderen Fällen werden auch Männer und ihre Angehörigen das Opfer unvorstellbarer Grausamkeiten. Stellen Sie sich das Drama vor! In einer Kultur, die Männer als stark und beschützende Personen wertschätzt, werden diese in ihrer Männlichkeit erniedrigt und zu verletzlichen hilflosen Wesen.
Wir haben es hier mit einer „Entnaturalisierung“ (dénaturalisation) sowohl des Mannes als auch der Frau zu tun, die jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Der Grad der Grausamkeit, den hier an Männern und Frauen ausgeübt wird, braucht eigentlich eine neue Kategorisierung. Selbst Traumaspezialisten haben es nicht geschafft, dieser Bestialität einen Namen zu geben, der diesen Paradigmenwechsel an Grausamkeit ausdrücken könnte.
In ihrem Buch „Opfer-Täter. Das sexuelle Trauma und seine Entstehung“ stellen Éric Baccino und Philippe Bessoles verschiedene klinische Fälle vor; sie kommentieren die psychischen Folgen, das Körpererleben und die somatischen Beschwerden nach einer Vergewaltigung. Sie betonen, dass die „Vergewaltigung ein Mord ist, der das Opfer am Leben lässt“.[10] Die Vergewaltigung ist wie eine auf den Unterarm tätowierte Matrikelnummer, die der Folterer seinem Opfer einbrennt, nur mit dem Unterschied, dass die Frau durch Sex zu einer Rolle als Sklavin reduziert wird. Aber Vergewaltigung ist keine sexuelle Handlung.
Im Gegenteil, Vergewaltigung verunmöglicht die Entfaltung einer intimen Begegnung, sie verschärft im Opfer das Empfinden, die Gegenwart und die Dauer der Gewalterfahrung. Ähnlich wie die Überlebenden der Konzentrationslager wundert sich die Frau, dass sie lebend aus dem „Holocaust des Weiblichen“ zurückgekehrt ist, nur um Reue und Schuldgefühle dafür zu haben. Auch viele Jahrzehnte später dekliniert die vergewaltigte Frau ihr Trauma immer wieder durch und erlebt ihr Leiden in allen Dimensionen und Schattierungen.
Im Centre Olame erleben wir manchmal, dass schmerzhafte Erinnerungen erst nach 25 Jahren aufbrechen. Es ist eine ganze Generation von Säuglingen, Teenagern, jungen Mädchen und Frauen, auch älteren Frauen, die ihr ganzes Leben Leittragende und Opfer bleiben und gleichsam „geopfert“ wurden. Wie eine gekreuzigte Frau trägt die vergewaltigte Frau ihre schändlichen Wundmale – für immer. Wie Éric Baccino und Philippe Bessoles sagen: Vergewaltigung ist ein Mord, der geschieht, ohne dass er stattfindet. Die teuflische Wirkung der Vergewaltigung liegt in der Zerschlagung des primären psychischen Schutzes eines Menschen, dem Zusammenbruch des Grundvertrauens und dem Zerreißen des sozialen Gefüges. Unter diesen entmenschlichenden Bedingungen können sich die Wunden kaum schließen; im Gegenteil, sie bluten nach Belieben.
Im Letzten ist die Geschichte dieser Mädchen, Frauen und Männer aus dem Kivu, die Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind, unsäglich und unsagbar. Es sind Tausende, die an die Türen unseres Bewusstseins klopfen. Im Centre Olame haben wir therapeutische und psychosoziale Lösungsansätze entwickelt, um ihre Wunden zu heilen. Aber diese Menschen brauchen auch eine Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Familie, in die die Gemeinschaft, in die Gesellschaft und auch in die Wirtschaft. Eine ausgleichende Justiz ist unerlässlich. Die gesellschaftliche Dimension der Aufarbeitung halten wir für zwingend notwendig: denn das, was diesen Opfern widerfahren ist, hätte auch jedem und jeder anderen in der Demokratischen Republik Kongo oder anderswo widerfahren können.
4. Wirksame „Pflaster“ für Narben
Die Körper der Frauen im Kongo und vor allem der Frauen im Osten des Landes wurden und werden weiterhin als Schlachtfelder für die Machtkämpfe anderer missbraucht. Die Kivu-Provinzen waren und sind makabre Schauplätze für diese Form von Gewalt. Seit Beginn des Krieges, der fast zwei Jahrzehnte andauerte, wurden über 200.000 Vergewaltigungen gemeldet.[11] In dieser zerrissenen und gespaltenen Gesellschaft sind die Hoffnungen auf eine Wiedergeburt oder eine Neuanfang fast verschwunden.
Trotz allem halten wir im Centre Olame daran fest, dass es keine Wunden gibt, die nicht geheilt werden können. Wir schlagen den Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen und anderer Gewalt geworden sind, einige „Rezepte“ vor, um ihre Wunden zu verbinden und um die Narben zu heilen. Diese Vorschläge basieren auf unseren persönlichen Beobachtungen und berücksichtigen die dringenden Bedürfnisse der Opfer. Da viele von uns selbst Opfer sind und die Probleme beim „Verbinden von Wunden“ aus eigener Erfahrung verstehen, glauben wir, dass die Lösungen und „Therapien“ nur vor uns selbst vorgeschlagen werden können.
4.1. Wiedereingliederung – ohne Wenn und Aber!
Fälle von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt erfordern eine Wiedereingliederung – bedingungslos und ohne Ausnahme, ohne Wenn und Aber. Die verschiedenen Wiedereingliederungsmechanismen, die auf lokaler, nationaler, regionaler oder internationaler Ebene durchgeführt wurden, haben bisher zwar symbolisch einen Schritt nach vorne gemacht, aber es müssen noch weitere Anstrengungen unternommen werden.
Reintegration umfasst verschiedene Methoden, um Kranke, Behinderte, Straffällige und andere von der Gesellschaft ausgegrenzte Menschen wieder einzugliedern (Rehabilitation, Resozialisation). Dazu gehört auch die Bereitstellung der finanziellen Mittel für die Aufgaben. Diese Definition setzt aber auch voraus, dass man nur jemanden wiedereingliedern kann, der zuvor eingegliedert war. Bei der Reintegration von traumatisierten Frauen im Kongo entsteht ein Dilemma: Wie kann man eine Person wiedereingliedern, die vorher nicht eingegliedert war? Die meisten Frauen, denen wir in den Maisons de Conseil und den Bureaux d’Écoute zuhören, berichten uns, dass sie schon vor ihrer Vergewaltigung im Bürgerkrieg ausgegrenzt waren. Im Laufe ihres Lebens hatten diese Frauen bereits Gewalt in der Schule und in der Familie erfahren. Es ist daher notwendig, das Bild der Frau in ihrer Gemeinschaft wiederherzustellen, bevor wir über Reintegration sprechen können.
In der afrikanischen Gesellschaft und vor allem in den Bantu-Kulturen ist die Frau vor allem Mutter. Sie ist Mutter ihrer Familie, Mutter ihrer Kinder, Mutter in der Schwiegerfamilie und Mutter von allen und allem. Sie ist verantwortlich für die Erziehung ihrer Kinder, für den Frieden oder die Ruhe in ihrer Ehe und in manchen Haushalten ist sie sogar die Managerin. Sobald sie mit ihren Peinigern in Kontakt kommt, ändert sich ihr Leben radikal. Sie verliert ihr Selbstvertrauen, sie hält sich für nutzlos, egal wie alt sie ist; in ihrer Gesellschaft wird sie abgelehnt. Die erste Maßnahme, die auf dieser Ebene ergriffen werden muss, ist deswegen psychologisch-therapeutischer Natur. Man muss der Frau helfen, ihre Selbstachtung und ihr Selbstwertgefühl wiederzuerlangen. Ihr muss gezeigt werden, dass die Gewalt, die sie erlitten hat, ein „Unfall“ im Leben ist, der behandelt und geheilt werden kann. Das Opfer muss sich zunächst mit sich selbst versöhnen. Eine vergewaltigte Frau muss erkennen, dass sie unter allen Umständen „Frau“ ist und „Frau“ bleibt.
Die zweite Maßnahme ist die Förderung einer ausgewogenen Balance zwischen den Geschlechtern („promouvoir l’équilibre de genre“). Die Genderforschung geht davon aus, dass es keine „Weiblichkeit an sich“ gibt, sondern dass die von einer Frau sozial erwarteten Verhaltensweisen im Laufe des Lebens erlernt werden. Wir erinnern an den Satz von Simone de Beauvoir, dass man nicht als Frau geboren wird, sondern zur Frau wird. Die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau sind nicht das Produkt eines biologischen Determinismus sondern einer sozialen Konstruktion.
Die Wiedereingliederung von Opfern sexueller Gewalt erfordert daher Maßnahmen, die die sozialen und kulturellen Probleme der Frauen vor und nach der Gewalt berücksichtigen. Dies wird dazu führen, dass die Gesellschaft, Dorfgemeinschaften und alle Bürgerinnen und Bürger verinnerlichen und anerkennen, dass Frauen auch nach einer Vergewaltigung noch über alle ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, auch wenn sie traumatisiert sind. Denn was Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, am meisten schmerzt, ist die Tatsache, dass sie von der Gesellschaft, die sie eigentlich unterstützen sollte, stigmatisiert werden. Das ist die zentrale Herausforderung für den Staat und für Menschenrechtsorganisationen, die Reintegrationsmaßnahmen in Angriff nehmen.
4.2. Keine Straffreiheit für Täter!
In welcher Lebenssituation man sich auch befinden mag, Gleichgültigkeit tötet menschliches Miteinander und ist die erste Stufe in der Verrohung der guten Sitten. Sie wird durch ein Schweigen verstärkt, das entsteht, wenn sich das Trio Misstrauen, Mitschuld und Schuld mit der Gleichgültigkeit verbindet.
In einem von Missio Aachen finanzierten Projekt, das wir unter dem Dach der Diözesankommission Justitia et Pax in Bukavu und im Rahmen des Programms Sexuelle Gewalt durchführten, konnten wir mehrere Fälle vor Gericht bringen. Es kam vor, dass Opfer ihre Peiniger kannten. Und manchmal hörten wir von unseren Anwälten, dass auch dann, wenn ein Gericht ein Urteil in einem Vergewaltigungsfall fällt, nicht unbedingt eine Strafe gegen die Verantwortlichen des Verbrechens folgen würde. Die Durchsetzung einer Strafe bleibe hypothetisch und die Entschädigung der Opfer noch mehr. Wenn die Personen, die die Opfer schützen sollen, selbst nicht davon überzeugt sind, dass die Justiz die Sache zu Ende bringen wird, wie können wir dann die Opfer dazu ermutigen, vor Gericht zu gehen?
Wir stellen immer wieder fest: Einige Täter von gestern werden vom Staat mit Freiheit belohnt. Sexuelle Missbrauchstäter genießen eine milde Behandlung oder zumindest eine unvorstellbare Nachlässigkeit. Einige „Warlords“ erhielten Straffreiheit, weil ein Konsens über einen Waffenstillstand oder eine ausgehandelte Entwaffnung erzielt wurde. Sie wurden sogar ausgezeichnet und sind in die sogenannten „loyalen“ Streitkräfte, die Force Armée de la RDC (FARDC) und in die kongolesische Polizei eingetreten, einige sogar in die Regierung. Einige andere wurden „demobilisiert“, d.h. sie wurden zu politischen, wirtschaftlichen und geschäftlichen Akteuren oder einfach zu freien Menschen.
Seit der massiven Anwendung sexualisierter Gewalt beobachten wir mit Besorgnis, dass es kaum Fälle gibt, in denen den abscheulichen Verbrechen auch Täter zugeordnet werden. Wenn wir die Gefängnisse besuchen, finden wir dort nicht die gleiche Anzahl an Tätern im Vergleich zu den registrierten Fällen von sexualisierter Gewalt. Wo sind die Täter dieser Gewalttaten? Wer sind sie wirklich? Kann man von einer impliziten (stillschweigenden) Komplizenschaft der Gesellschaft und des Justizsystems sprechen? Was geschieht mit all den Opfern, die sich selbst überlassen werden?
Das sind die Fragen, die wir uns stellen. Einige Opfer berichten, dass Täter der Vergangenheit sich nun – als ihre Beschützer verkleidet – sogar in Entscheidungsgremien für sexualisierte Gewalt finden. Wurden sie dafür belohnt, dass sie Frauen vergewaltigt haben?
Diese menschliche Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit sind der eigentliche Grund für den Mangel an rechtlicher Aufarbeitung und fehlender Wiedergutmachung. Gleichgültigkeit befördert die schleichende Aushöhlung der menschlichen Würde. Tatsächlich ist diese eine Art Bindeglied zwischen den Übeln, unter denen Frauen leiden, und der stillschweigenden oder offensichtlichen Komplizenschaft derjenigen, die Autorität besitzen, um diesen Übeln ein Ende zu bereiten. Öffentliche Autorität, und sei es noch so klein, kann die Dinge in die richtige Richtung lenken. „Das Beunruhigende ist nicht die Perversität der Bösen, sondern die Gleichgültigkeit der Guten“, so das bekannte Zitat aus dem Munde Martin Luther Kings. Damit die Opfer vollständig geheilt werden können, darf es keine Straflosigkeit für Täter geben!
4.3. Befreiende Sprache und Öffentlichkeit
Um den Missbrauch und die Gewalt öffentlich zu machen, müssen Männer und Frauen, aber auch Jungen und Mädchen ihre Stimme erheben, um zu versuchen, das Tabu und die damit verbundene Angst zu brechen. Auch dies ist eine wichtige Bedingung, wie der Schmerz der Narben gelindert werden kann. Selbst wenn die sexuelle Gewalt heute zurückginge, würde es eine lange Zeit dauern, um die Gräuel der Vergangenheit aufzuarbeiten. Deswegen ist eine permanente Öffentlichkeit zu diesem Thema wichtig.
Da ist zunächst das Problem der Verfügbarkeit von spezialisierten Experten und Expertinnen für Traumabehandlung. Anders als in Ruanda gibt es in der Demokratischen Republik Kongo und speziell im Osten nur sehr wenige klinische Psychologen und Psycholginnen. Daher muss man im Kivu andere alternative Methoden entwickeln, die von den gegebenen menschlichen Ressourcen ausgehen bzw. den Einsatz von Experten realistisch einschätzen. Wir brauchen ein spezielles Programm zur finanziellen Wiedergutmachung der Folgen dieser Kriege und eine rechtliche Rehabilitierung der Opfer.
In den Familien wird nicht oder zu wenig über das Thema Gewalt und Vergewaltigung gesprochen. Das „Problem“ von Kindern, die aus Vergewaltigungen hervorgegangen sind und von den Ehemännern ihrer Mütter oft nicht akzeptiert werden, ist ein besonderes Problem. Dies sollte in den Familien, aber auch öffentlich diskutiert werden. Denn nicht darüber zu sprechen führt dazu, dass Haushalte auseinanderbrechen und sexuelle Gewalt in den Familien weiter andauert. Sexuelle Gewalt kann viele Formen annehmen: häusliche Gewalt, bei der der Ehemann seine Frau zum Objekt macht oder umgekehrt; sexuelle Gewalt, die von verheirateten Frauen erlitten wird, deren eheliche Beziehungen eingeschränkt sind oder die von ihrem Ehemann vertrieben werden; Frauen, die von religiösen Führern missbraucht werden und Angst haben, ihren Ehemännern davon zu erzählen.
Körperliche Übergriffe in der Partnerschaft kommen nicht plötzlich. Lange bevor es zu körperlichen Übergriffen und Schlägen kommt, gibt es eine Eskalation von missbräuchlichem Verhalten und von Einschüchterungen. Die schlimmste Gewalt ist nicht immer die sichtbarste. Wenn Frauen bei häuslicher Gewalt nicht weggehen, geraten sie in eine Falle, aus der sie sich immer weniger befreien können.
Es ist absurd und tragisch, dass die meisten Frauen so lange warten, bis ihnen das Schlimmste passiert, bevor sie anfangen, um Hilfe zu bitten. Wir erleben oft, dass Frauen nicht in die Offensive gehen, sondern es auf Biegen und Brechen vorziehen zu schweigen. In der Zwischenzeit nutzt der Täter alle Mechanismen der Macht und der Rache, um sich ihrer entledigen zu können. Häusliche Gewalt findet in dieser Spirale von Schweigen und stets neuer Gewalt statt. Geduldig führt der Täter sein lähmendes und mörderisches Werk weiter. Sein Opfer lässt sich nach und nach in diese Falle locken, die zu einem andauernden Martyrium wird.
Verheiratete Frauen, die vergewaltigt wurden, werden oft von ihren Verwandten geächtet, weil sie „Schande“ über die ganze Familie gebracht haben. Die Verwandten nutzen deren Verletzlichkeit aus, um sie weiter zu missbrauchen. Manche Männer begehen unter dem Deckmantel der Kultur („c‘est notre culture“) verletzende und bösartiger Praktiken gegenüber den eigenen Frauen und nutzen bestehende Tabus, um diese entwürdigenden Praktiken gegen Frauen anzuwenden; andere rechtfertigen diese Gewalt sogar unter Berufung auf biblische oder andere religiöse Texte. Diese Haltungen sind vor allem in ländlichen Gebieten anzutreffen, wo sich diese Barbarei an Frauen mit der Gewalt der bewaffneten Kräfte und Gruppen vermischt. Junge Menschen, die kriminell werden und viele Drogen nehmen, werden oft in diese Milizen und Banden aufgenommen – eine Vergewaltigung ist der „Initiationsritus“ in diese Gewaltgruppen.
4.4 „Ein lebender Hund ist besser ist als ein toter Löwe“ – Hoffen gegen die Hoffnungslosigkeit
Ein Mantra unsere Arbeit lautet: „Wir sind nicht verantwortlich für die Verletzungen, die wir erleiden. In diesem Sinne sind wir Opfer. Aber wir übernehmen Verantwortung, wie wir mit ihnen umgehen“. Leider wissen wir oft nicht, was wir am besten tun oder was wir lassen sollen.
Im Hinblick auf die Integration von weiblichen Vergewaltigungsopfern sind wir überzeugt, dass die Opfer ihr Leben neu gestalten können. Wir setzen auf das Prinzip Hoffnung. Es gibt Hoffnung, weil es Grund zur Hoffnung gibt. Es ist möglich, ein besseres Leben als das vorherige zu haben. Ängste und Hoffnungen werden oft durch die Umstände genährt. Umstände ändern sich. Das Unglück von heute muss nicht zwangsläufig das Unglück von morgen sein. Eine unglückliche Situation kann sich in eine bessere verwandeln, vor allem, wenn man sich entschließt und den Willen aufbringen kann, seiner Verletzlichkeit nicht das letzte Wort zu geben und aus der Opferrolle herauszutreten.
Man darf und man muss gegen jede Hoffnung hoffen! Abgesehen von den Bemühungen auf lokaler, nationaler, regionaler und sogar internationaler Ebene, die Wunden der Vergewaltigungsopfer zu heilen, müssen die Opfer selbst verstehen, dass sie noch hoffen können. Auch wenn die Gesellschaft ihnen keine ausreichenden Garantien für Hoffnung geben kann, ist der Gott, der sie erschaffen hat, für sie verfügbar. Er liebt jeden und jede, er beschützt und ist in der Lage, einem Opfer zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. in ihrem Glauben an Gott können diese Frauen glauben, denn es immer Hoffnung gibt für diejenigen, die leben. Mit den Worten der Bibel glauben sie, „dass ein lebender Hund besser ist als ein toter Löwe“ (Koh 9,4).
Selbst wenn die Gesellschaft Verlassenen keine Hoffnung geben würde, selbst wenn Hilfsorganisationen ihre Forderungen nicht erfüllen können – die Frauen können sich auf Gott und sein Wort verlassen. Das Wort Gottes ist die beste Unterstützung für die Hoffnung eines verzweifelten Menschen. In ihm erfahren wir von Frauen und Männern, die ähnliche und vielleicht sogar noch größere Probleme hatten, aber durch Gottes Gnade wieder auf die Beine gekommen sind. Durch den Glauben und die eigene Erfahrung hatten wir gelernt, unsere Sorgen und die Last des Lebens dem zu überlassen, der stärker ist als wir. Er ist der Herr über Zeit und Raum, der unser Unglück in Glück und unseren Schmerz in Freude verwandeln kann. Man muss das erfahren haben, um es bezeugen zu können.
Das Johannesevangelium berichtet von der Geschichte einer verzweifelten und in Not geratenen Frau, die durch Gottes Wort Hilfe und Befreiung fand. Jesus spricht zu ihr: „Frau, wo sind die, die dich angeklagt haben? Hat dich niemand verurteilt? Sie antwortete: Nein, Herr. Und Jesus sprach zu ihr: Auch ich verdamme dich nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr“ (Joh 8,3-11).
Die arme Frau war schon fast verurteilt, aber Jesus verwandelte ihren Schmerz in Freude; sie, die eigentlich sterben sollte, erhielt ihr Leben zurück und wurde gerettet. Was für eine Wende in ihrem Leben! Das Gesetz, das diese Frau verurteilte, war die „Kultur“ des jüdischen Volkes. Was die Gesellschaft dieser Frau nicht geben konnte, gab ihr Jesus: Würde und Leben. Sie wurde gegen alle Hoffnung gerettet. Das Wort Gottes ist allen Frauen zugänglich, die zurückgewiesen werden. Sie dürfen und können auf ein besseres Leben hoffen, sie können ihre täglichen Aktivitäten wieder normal aufnehmen, sie können immer noch ein gutes Zuhause haben. Denn Gott hat die Fähigkeit, auf alten Ruinen Neues zu bauen.
Wenn ihre Hoffnung wiederhergestellt ist, kann auch eine vergewaltigte Frau ein neues Leben beginnen. Ein neues Leben zu beginnen bedeutet nicht, einfach so weiterzumachen. Es gibt Situationen, die wir Menschen nicht mehr kontrollieren können, aber wir können sie als solche akzeptieren und zulassen, dass der Stärkere und Mächtigere das Blatt wenden kann. Die Tatsache, dass wir Opfer eines Vergewaltigungsverbrechens sind, bedeutet nicht, dass Gott uns nicht liebt. Auch nach solchen schrecklichen Erfahrungen kann man sich mit Gott und mit dem eigenen Leben wieder versöhnen. Es ist unsere Aufgabe im Team Centre Olame, auch diese geistliche Betreuung durch gut ausgebildete Seelsorger und Seelsorgerinnen bereitzustellen, damit die inneren Wunden dieser Frauen geheilt werden können.
4.5. Versöhnung mit sich selbst
Wie können Opfer von Gewalt sich mit sich selbst versöhnen? Es geht um eine Haltung, sich selbst und die eigene Lebensgeschichte zu akzeptieren; sozusagen die „Kehrseite“ einer schrecklichen Erfahrung zu suchen und zu finden, in der man das eigene Trauma nicht aus seiner Biographie abspaltet, sondern so integriert, dass man „post factum“ und in der Verarbeitung des Schrecklichen auch „positiv“ damit zurechtkommt und diese Erfahrungen für das weitere Leben nutzen kann. Denn in jeder Lebenssituation, egal wie negativ sie auch sein mag, gibt es immer auch „gute“ Seiten. Wenn sich vor dir eine Tür schließt, kann sich eine andere Tür öffnen.
Die Opfer oder Überlebenden von geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt sind nicht für die Verletzungen verantwortlich, die sie erleiden, aber sie müssen lernen, Verantwortung dafür zu übernehmen, wie sie damit umgehen. Viele wissen in den meisten Fällen nicht, was sie tun oder nicht tun sollen. Um mit ihrem Trauma und ihren Verletzungen umzugehen, beschreiten sie oft schnell, ohne große Reflexion und oft auch unbewußt, nicht den richtigen Weg, um ihre inneren Verletzungen zu heilen. Stattdessen bauen sie falsche Überlegungen und negative Gedanken auf, die ihr Leben weiter zerstören und sogar zum Selbstmord führen können.
Unsere Erfahrung ist: Niemand ist dazu bestimmt, in der Gesellschaft unglücklich zu sein. So verstehen wir den Satz: Gott ist Liebe. Wenn es dem Opfer gelingt, sich mit sich selbst zu versöhnen, kann er wieder mit erhobenem Haupt durch die Welt gehen. Auch die Bereitschaft, denjenigen zu vergeben, die uns Unrecht getan haben, kann – zum richtigen Zeitpunkt – ein Teil des Heilungsprozesses werden. Wir haben erfahren, dass den Peinigern zu vergeben und für sie zu beten, Schritte auf dem Weg zur Heilung und Versöhnung mit sich selbst sein kann – ein „starkes Pflaster“ für unsere Wunden.
4.6. Wir sind alle Brüder und Schwestern – in Jesus Christus
„Ich bin Centre Olame sehr dankbar, dass sie mir das Leben gerettet haben, nachdem mich die gesamte Gemeinde als Hexe beschuldigt hatte. Ich hatte bereits alle Hoffnung verloren, nachdem mir einige Mitglieder meiner Gemeinde Gewalt angetan hatten. Ich wurde betreut, mir wurde zugehört und das Centre Olame hat Anwälte geschickt, um mich zu unterstützen, obwohl ich als Witwe keine Möglichkeit hatte, die Gerichtskosten zu bezahlen“.
Dieses Zeugnis einer vergewaltigten Frau belegt, dass wir beim Heilungsprozess dringend auf die Nächstenliebe anderer Menschen angewiesen sind. Nur so können wir überleben! Es ist unabdingbar, dass auf medizinischer Ebene ausreichende Anstrengungen unternommen werden, um die körperlichen Wunden zu heilen. Angesichts der wenigen Experten, die zudem nur in Städten wie Bukavu zur Verfügung stehen, sind die Möglichkeiten einer professionellen medizinischen Betreuung von traumatisierten Frauen im Kivu sehr beschränkt und wir mussten an der Schnittstelle von medizinischer und psychosozialer Betreuung neue Methoden und Therapieformen entwickeln. Durch die Geschichten, die wir in den Beratungsstellen hören, und durch unsere Hausbesuche, bei denen wir die Überlebenden der Gewalt trösten, sind wir Augenzeugen dieser schrecklichen Taten geworden und sehen die sichtbaren Wunden und Narben. Aber es geht um mehr: es geht um Pflege, menschliche Wärme, Nächstenliebe und Mitgefühl, um auch die Seele und den Geist zu heilen.
Zur Heilung von Verletzungen – gleich welcher Art – brauchen wir andere Menschen. Der Rückgriff auf die Ressourcen der eigenen Resilienz ist nur möglich, wenn ihn liebende Menschen unterstützen. Dann kann die Verarbeitung einer schrecklichen Erfahrung auch eine Gelegenheit sein, Gott und seine heilende Liebe und die der Mitmenschen zu entdecken. Es ist leicht, das Schlagwort von der „inneren Heilung“ zu verwenden, wenn man nicht direkt Opfer barbarischer Taten ist, wie das so viele Frauen und ihre Familien erfahren haben. Aber hier spricht nun nicht das Gefühl, sondern der Verstand in einer reflektierenden Retroperspektive. Deswegen unser Plädoyer für eine barmherzige und liebende Begleitung von Opfern sexualisierter Gewalt. Menschen zu haben, die uns lieben und uns zuhören, ist ein unglaubliches Glück, denn es ist die Liebe, die innere Wunden heilt.
4.7. Politische Lobbyarbeit für Traumaopfer – Ein Plädoyer zur Heilung der Wunden vergewaltigter Frauen im Kivu
Das tragische Schicksal vergewaltigter Frauen darf in einem Staat, der sich als einheitlich und solidarisch versteht, nicht unbemerkt bleiben. Aber nur wenige Menschen im Kongo sind sich des Ausmaßes und der Schwere dessen bewusst, was seit Jahrzehnten im Land geschieht. Hier sind deswegen einige Ideen für eine öffentliche und politische Lobbyarbeit zu Gunsten der Opfer sexualisierter Gewalt.
Ein erster Vorschlag ist die Errichtung einer würdigen Gedenkstätte, auf der die Namen aller Opfer von Gewalt, Kriegen und bewaffneten Konflikten verzeichnet sind. Ein solches Denkmal sollte an einem zentralen und symbolischen Ort errichtet werden: Das Motto könnte lauten: „Jeder Verschwundene ist ein Märtyrer für die Republik, eine Erinnerung für das Vaterland, ein Samen für die Nation“. Diese Gedenkstätte ist mehr als notwendig!
Ein zweiter Vorschlag ist die Einrichtung von Beratungsstellen für missbrauchte Frauen. Ihnen zu helfen ist eine dringende Notwendigkeit, auch um Störungen in der öffentlichen Ordnung zu verhindern. Neben Massenvergewaltigungen, die oft in ländlichen Gebieten begangen werden, kommt es auch in städtischen Gebieten täglich zu sexistisch motivierter Gewalt. Ihre Behandlung mit staatlicher Unterstützung ist ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung und zur Vermeidung der Stigmatisierung misshandelter Frauen.
Drittens muss man öffentlichen Diskursen der Bagatellisierung von sexualisierter Gewalt mit aller Kraft entgegentreten. Die Verharmlosung besteht meist darin, dass selbst eine Vergewaltigung gleichsam „mit einem blinden Auge“ wahrgenommen wird, ohne wirklich zu versuchen, Klarheit über die Fakten zu schaffen. Man hört giftige und abwertende Äußerungen wie: „Nur ein, zwei oder zehn Opfer, im Vergleich zu dem, was die Leute hier und da erzählen, sind das nicht genügend Opfer, um sich wirklich aufzuregen, usw.“ Man will nicht verstehen, dass jeder Fall von Vergewaltigung oder das damit zusammenhängende Verbrechen ein Fall zu viel ist. Und genau das ist das Drama: eine Duldung und stillschweigende Akzeptanz der Gräueltaten und ihres Fortbestehens, die Straflosigkeit und die Ermutigung zu neuen Verbrechen zur Folge haben.
Ein vierter Appell ergeht an die internationale Justiz, die versucht, die mit diesen Massenverbrechen verbundenen Taten zu ahnden. Ihre bisherigen Befassungen und Urteile erwecken den Eindruck, dass der Internationale Strafgerichtshof eher politisch als juristisch agiert. Immerhin finden symbolische Prozesse statt, mit dem Ziel, die Kriegsparteien zu „entmutigen“, mit diesen Praktiken fortzufahren. Nach innen hat der juristische und politische Umgang mit Kriegsverbrechen einen direkten Einfluss auf das Befinden der Traumatisierten. Wenn die Täter unbehelligt bleiben, verstärkt bzw. re-traumatisiert das die Opfer und erhöht gleichsam den Schmerz der Narben.
Es ist ein Skandal, dass so viele Täter, Mittäter oder Komplizen auf mehreren Verantwortungsebenen nie behelligt werden. Einige Staaten, internationale Organisationen, multinationale Konzerne und NGOs sind in dieser Vertuschungsstrategie verstrickt. Man muss nur die entsprechenden Berichte lesen, um sich dessen klar zu werden. Der Internationale Strafgesetzhof hat die Grenzen seiner Effektivität nur zu deutlich gezeigt, wenn es darum geht, Fälle aufzuarbeiten und Täter zu verfolgen, um sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Trotzdem und dennoch: Juristische Aufarbeitung und Verurteilung der Täter sind ein wichtiger Baustein in dem Prozess, die Wunden der Opfer zu heilen.
Ein fünfter Appel richtet sich an die politisch Verantwortlichen im Kongo. Es ist kein Geheimnis, dass die Demokratische Republik Kongo in jeder Hinsicht ein „failing state“ und ein „geologischer Skandal“ ist. Angesichts seines Reichtums an natürlichen Ressourcen ist es untragbar, dass dieser Kontinentalstaat zu den ärmsten Ländern der Welt zählt. Einer der Gründe für dieses Paradoxon ist zweifellos in der permanenten Staatskrise begründet, die sich in der Ineffizienz der Politik, der Institutionen und der Verfassungsorgane ausdrückt. Diese Krise hat Instabilität in allen sozioökonomischen und finanziellen Prozessen zur Folge, mit negativen Folgen für den internen, regionalen und internationalen Handel.
Bisher mussten sich nur wenige Täter für ihre Taten verantworten; nur sehr wenige wurden verurteilt. Den Schaden, den sie angerichtet haben, haben sie nie wieder gutgemacht. Alles deutet darauf hin, dass der Weg zur Bestrafung der politisch Verantwortlichen mit immer neuen Hindernissen versehen wird. Wenn es zu einer Verurteilung einer Einzelperson, die eine Vergewaltigung an einem Mädchen oder einer Frau begangen hat, kommt, wird zwar hart vorgegangen. Aber diejenigen, die zur Massengewalt aufgerufen haben, laufen frei herum!
Unser Plädoyer lautet deswegen: Diejenigen, die die menschliche Würde im Allgemeinen und die weibliche Würde im Besonderen missbrauchen, müssen mit äußerster Härte bestraft werden. Täter sexualisierter Gewalt verdienen eine exemplarische Bestrafung, auch zur Abschreckung. Nie wieder Straflosigkeit! Ende der öffentlichen Gewalt! Die Wiedergutmachung des Schadens muss Priorität bekommen!
Die Medizin kennt das sogenannte Lazarus-Symptom. Ein Patient mit Kreislaufstillstand wird vom Notfallarzt wiederbelebt. Das Herz schlägt nicht mehr, es sind keine Lebenszeichen mehr vorhanden, das EKG zeigt eine Nulllinie oder Kammerflimmern an, die Wiederbelebung ist erfolglos. Nach 20 bis 30 Minuten Reanimation setzt der Notarzt die Wiederbelebung den Richtlinien entsprechend ab. Plötzlich, Minuten später und ohne Zutun von außen, zeigt der Patient wieder ein Lebenszeichen, atmet, hat Puls. Dieses als „Lazarus-Phänomen“ bekannte Ereignis haben laut publizierten Umfragen viele Intensivmediziner schon beobachtet. In Analogie zur Behandlung von sexualisierter Gewalt sagen wir: Es müssten all diese äußeren Bedingungen erfüllt sein, damit die Wunden der Opfer heilen könnten und die Schmerzen gelindert werden. Dann kann das Wunder des Lazarus geschehen, wo ein tot geglaubter Mensch seine eigene Resilienz wachrufen und den Heilungsprozess in Gang setzen kann.
5. Zusammenfassung
Sexuelle Gewalt und ihre Ursachen sind kein unabwendbares Schicksal; sie sind eingebettet und auch Ausdruck des sozio-kulturellen und politischen Kontextes. Es ist deshalb wichtig, jene „kulturellen“ Elemente zu identifizieren, die als Rechtfertigung und Nährboden für diese Taten dienen, um Wege vorzuschlagen, die es ermöglichen, ihnen ein Ende zu setzen.
Im Blick auf die vielen Familien, deren Herzen durch diese Gewalttaten gebrochen wurden (oder noch gebrochen werden), ist es höchste Zeit, ihnen ihre Würde zurückzugeben, indem man die Schwere der Verbrechen und ihren Opferstatus öffentlich anerkennt.
Wir alle stehen in der Schuld dieser Frauen, ihrer Familien und ihrer Angehörigen und müssen uns diesen Kampf zu eigen machen. Wir müssen das Leid der Überlebenden jeglicher Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten anerkennen und sie ganzheitlich in ihrem Heilungsprozess unterstützen. Nur so können wir sie für das erlittene Unrecht entschädigen und ihnen Genugtuung verschaffen, damit sie ein neues Leben beginnen können. Das ist unser Beitrag zur Stärkung ihrer Resilienz.
Narben sind schmerzhafter als die Wunden! Es ist schwer zu vergessen, dass es in der Stadt Massengräber gibt, wo Frauen verscharrt wurden, es ist schwer zu vergessen, dass sexuell übertragbare Krankheiten auf Frauen, Mädchen und Babys übertragen wurden. Es ist schwer, diesem Kreislauf der Gewalt weiterhin tatenlos zuzusehen. Möge dieser Bericht dazu beitragen, dass Menschen aufwachen, um die großen Verbrecher der Geschichte zur Rechenschaft zu ziehen, die immer noch von den großen Entscheidungsträgern der Welt geschützt werden.
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Übersetzung aus dem Französischen von Dr. Martin Ott.
Thérèse M. Mapenzi ist die Direktorin des Centre Olame in Bukavu in der Demokratischen Republik Kongo. Das Centre Olame ist eine Einrichtung der Caritas in der Erzdiözese Bukavu und fördert die sozioökonomische Entwicklung von Frauen und deren Familien und unterstützt Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt. Thérèse M. Malpenzi hat einen Master in Friedensforschung (Coventry University, Großbritannien) und Spezialisierungen in Konflikttransformation (Akademie für Konfliktransformation, Köln), Traumabehandlung (Kigali) und Genderstudien (Folke Bernadotte Academy, Schweden). Für ihr langjähriges Engagement hat Thérèse M. Mapenzi mehrere Preise erhalten, u.a. den Preis für Frieden und Versöhnung (Coventry/Großbritannien) und den Shalom-Preis (Eichstätt).
[1] Vgl.: Violence contre la femme. Manuel pour l’animation, Eastern and Central Africa Women in Development Network, Paulines 2001.
[2] Vgl.: Human Rights Watch, Les soldats violent, les commandants ferment les yeux. Violences sexuelles et réforme militaire en République démocratique du Congo, 2009.
[3] Vgl.: Adelard Bashimbe M.-B., Denis Mukwege, Homme social ou politique? Entre ambivalences, nuances et équivalences, Edilivre, Saint-Denis 2017.
[4] Alle Namen der im Folgenden genannten Frauen sind zu ihrem Schutz Pseudonyme.
[5] Die Interahamwe (Kinyarwanda: „diejenigen, die zusammenhalten“ oder „zusammen kämpfen“) war eine ursprünglich paramilitärische Kampforganisation der Staatspartei Ruandas MRND, die etwa 1990, in der Regierungszeit des Staatschefs Juvénal Habyarimana, gegründet wurde, sich später jedoch zu einer der wichtigsten Kräfte innerhalb der extremistischen Gruppen entwickelte, die die Ermordung aller Tutsi propagierte. Nach dem Ende des Völkermords 1994 flüchtete die Interahamwe mit erheblichen Teilen der Hutu-Bevölkerung in den Osten der Demokratischen Republik Kongo, wo sie Basen in den Flüchtlingslagern errichtete. Von dort aus ging sie gegen Tutsi und Banyamulenge (eine Ethnie in DRK) vor und war für etliche Massaker an ihnen verantwortlich. (Erläuterung des Übersetzers Martin Ott)
[6] Das Panzi Hospital in Bukavu, der Hauptstadt der Provinz Süd-Kivu in der Demokratischen Republik Kongo, ist auf die Behandlung von Überlebenden von Gewalt spezialisiert, von denen die meisten sexuell missbraucht worden sind. Sein Direktor ist der Gynäkologe und Nobelpreisträger Dr. Denis Mukwege.
[7] Colette Braeckman, L’Homme qui répare les femmes. Violences sexuelles au Congo. Le combat de Denis Mukwege, Grip, Bruxelles, 2012.
[8] Vgl.: Marie France Hirigoyen, Abus de faiblesse et autres manipulations, Le Livre de Poche, 2013.
[9] Robert Cario, Enfant exposé aux violences familiales: vers un statut spécifique ? Editions L‘Harmattan, Paris, 2012; Alain Bernard/Robert Cario (Hrsg.), Les politiques publiques interministérielles d’aide aux victimes, Editions L‘Harmattan, Paris, 2001; Robert Cario/Benjamin Sayous (Hrsg.), Tabous et réalités du crime au féminin, Editions L‘Harmattan, Controverses, Paris, 2010; OCDE, États de fragilité (2018), Editions OCDE, Paris, 2018.
[10] Éric Baccino/Philippe Bessoles, Victime-Agresseur. Bd. 1: Le traumatisme sexuel et ses devenirs, Champ social, 2001, 63-72.
[11] Vgl. Braeckman, L’Homme qui répare les femmes.