Die Schweiz feiert am 1. August ihren Nationalfeiertag. In allen Städten und Kommunen halten Politiker:innen und andere Personen des öffentlichen Lebens an den Erst-August-Feiern Reden. Aus diesem Anlass hat feinschwarz.net Jacqueline Fehr, Regierungsrätin im Kanton Zürich, um eine religionspolitische Erst-August-Rede gebeten. Sie ist unter anderem für die Beziehung zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständig und hat sich als aktive «Religionsministerin» schweizweit profiliert.
Am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, erklingt sie tausendfach landauf, landab: unsere Nationalhymne. Viele singen an diesem Tag ihren Text, in dem es unter anderem heisst: «Betet freie Schweizer, betet! Eure fromme Seele ahnt […] Gott im hehren Vaterland». Und auch unsere Bundesverfassung ruft ihn an, gleich zu Beginn:
«Im Namen Gottes des Allmächtigen!»
Unser Land ist durch und durch religiös geprägt, so scheint’s. Wirklich? Und: Welchen Gott rufen wir da an, in Hymne und Verfassung? Die Antworten sind heute nicht mehr so selbstverständlich, wie auch schon. In der Schweiz von heute sind viele Menschen zuhause, die einen anderen Glauben haben als den christlichen. Und noch mehr Menschen, die gar nicht glauben.
Wie gehen wir religionspolitisch damit um? Im Kanton Zürich haben wir uns bereits intensiv damit auseinandergesetzt.
Kleiner Kreis von anerkannten Religionsgemeinschaften
Aber weiten wir den Blick zuerst nochmals: In der Schweiz sind, wie in vielen anderen Ländern, einige Religionsgemeinschaften rechtlich anerkannt. Der Kreis dieser Gemeinschaften ist hierzulande ziemlich klein. Dazu kommt: Die Anerkennung ist von den Kantonen geregelt. Deshalb ist die Situation in jedem Kanton etwas unterschiedlich – aber dennoch überschaubar: In keinem Kanton sind dies mehr als vier Religionsgemeinschaften. Und der Kreis beschränkt sich auf christliche und jüdische Gemeinschaften. In vielen Kantonen sind es nur die beiden grossen Kirchen, die anerkannt sind.
Neben der öffentlich-rechtlichen gibt es in einigen Kantonen eine sogenannte «kleine» Anerkennung. Damit sind teilweise etwas mehr Religionsgemeinschaften anerkannt, so zum Beispiel im Kanton Basel-Stadt. Die dortige «kleine» Anerkennung hat aber im Wesentlichen nur symbolische Wirkung.
Unsere deutschsprachigen Nachbarländer handhaben es ein wenig anders: Dort gehören viel mehr Religionsgemeinschaften zu diesem erlauchten Kreis. Österreich zählt 16 Religionsgemeinschaften dazu, inklusive der muslimischen. In den deutschen Bundesländern sind es ebenfalls deutlich mehr Gemeinschaften als in den Schweizer Kantonen.
Situation im Kanton Zürich
Im Kanton Zürich haben drei christliche Kirchen den Status als öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaft. Zwei jüdische Gemeinden geniessen die «kleine» Anerkennung. Ihr besonderer Status gibt den fünf Gemeinschaften diverse Rechte – auferlegt ihnen aber auch Pflichten. Diese fünf Gemeinschaften haben zum Beispiel das Recht, in öffentlichen Institutionen Seelsorge anzubieten.
Wichtig sind die finanziellen Wirkungen der Anerkennung. Diese Religionsgemeinschaften können Steuern erheben, und sie erhalten Staatsbeiträge. Aktuell belaufen sich letztere auf insgesamt 50 Millionen Franken pro Jahr. Mit diesen Beiträgen unterstützt der Kanton Tätigkeiten der Kirchen, die im Interesse der ganzen Bevölkerung sind.
Wenn wir diese Verteilung der finanziellen Mittel sehen und uns den Verfassungsgrundsatz vor Augen führen, der besagt, dass der Staat religiös neutral sei, dann sehen wir: Wir haben ein Problem.
Die nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften – zum Beispiel Muslime oder Orthodoxe – bekommen im Kanton Zürich keine staatlichen Beiträge. Sie müssen alles selbst finanzieren. Wen wundert’s, dass sie nicht über die vergleichbar professionellen Strukturen verfügen wie die grossen Kirchen… Genau das wird aber erwartet von ihnen. Und doch leisten sie schon heute unschätzbare Dienste zum Nutzen der Gesellschaft: Sie sind Ansprechpartner für staatliche Stellen – zum Beispiel in den Gemeinden, wenn es um Fragen wie Grabfelder oder Jugendarbeit geht. Sie bieten Moscheeführungen für Schulklassen an, engagieren sich als Seelsorgende, führen Jugendgruppen oder leisten Integrationsarbeit. Zudem sind sie im interreligiösen Dialog aktiv.
Gesellschaftlicher Wandel
Diese Situation trifft nun auf einen ziemlich starken gesellschaftlichen Wandel. Die christlichen Kirchen verlieren an Gewicht, und das relativ deutlich. Heute sind weniger als 50 Prozent der Zürcher Bevölkerung Mitglied in einer der grossen Kirchen. Zum Vergleich: 1970 waren das 95,5 Prozent, im Jahr 2000 76,2 Prozent.
Nichtchristliche Religionen dagegen haben an Bedeutung gewonnen. Man sprach lange noch von «fremden» Religionen – aber sie sind nicht mehr fremd, sondern etabliert. So leben im Kanton Zürich heute rund 100’000 Musliminnen und Muslime, das sind etwa sechseinhalb Prozent der Bevölkerung. Alle diese Menschen leben und arbeiten hier. Sie engagieren sich in Vereinen und in der Nachbarschaft. Sie haben als Pflegerinnen in der Corona-Krise Grosses geleistet, sie sind Bankangestellte, Mitarbeitende der öffentlichen Verwaltung oder stehen als Spieler für unsere Nationalmannschaft auf dem Fussballplatz. Und sie zahlen Steuern. All diese Menschen sind längst unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft.
Daneben stellen wir noch etwas Anderes fest: eine Distanzierung vom Religiösen.
Statistisch zeigt sich das besonders in der steigenden Zahl von konfessionslosen Personen: Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Im Kanton Zürich beträgt ihr Anteil heute über ein Drittel.
Wenn jemand 1980 in einen langen Schlaf gefallen wäre und heute aufwachen würde – er oder sie würde sich wundern, wie sich die Gesellschaft hinsichtlich der Religion verändert hat! Aus einer Gesellschaft, in der es im Wesentlichen zwei Konfessionen gab, wurde eine vielfältige, auch etwas unübersichtliche Gesellschaft.
Grosser Reformbedarf
Wir leben also in einer Gesellschaft, in der viele Religionsgemeinschaften aktiv sind. Alle von ihnen Minoritäten. Ja: alle, auch die christlichen. Und wir leben gleichzeitig mit einem religionspolitischen System, das einem relativ kleinen Kreis von anerkannten Religionsgemeinschaften eine besondere Stellung verschafft – und andere von diesen Rechten ausschliesst. Für mich ist in dieser Situation klar: Dieses System hat keine Zukunft.
Wir haben in der Schweizer Religionspolitik einen dringenden Reformbedarf. Die aktuelle rechtliche Lage wird der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr gerecht.
Was sind zukunftsfähige Eckpfeiler einer zeitgemässen Religionspolitik? Nun, aus meiner Sicht müssen sie sich an den Leitideen der Teilhabe und der Nichtdiskriminierung orientieren.
Teilhabe bedeutet, dass zu unserer Gesellschaft alle dazu gehören, die teilhaben wollen; dass wir alle willkommen heissen, die mitmachen und sich engagieren wollen. Teilhabe heisst, dass die Politik auf die Menschen hört und ihre Ideen und Vorstellungen nutzt, um das gemeinsame Leben gut zu organisieren.
Auch bei der Religionspolitik geht es um diese Teilhabe. Bezüglich unserer religiösen Vielfalt heisst Teilhabe fördern daher, Chancengleichheit zu ermöglichen.
Und hier kommt das zweite Prinzip ins Spiel: Chancengleichheit hat auch eine Gegenspielerin – die Diskriminierung. Unsere Religionspolitik muss sich auch daran messen lassen. Sie muss Diskriminierung vermeiden. Der Staat muss alle gleich behandeln und darf deshalb auch keine Religionsgemeinschaft diskriminieren.
Vielmehr muss der Staat garantieren, dass alle Religionsgemeinschaften gleichberechtigt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können.
Der Weg dahin ist noch weit. Im Kanton Zürich haben wir bereits eine erste Wegstrecke geschafft. Der Zürcher Regierungsrat hat in seinen religionspolitischen Leitsätzen unter anderem festgelegt, dass im Bereich der nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften Grundlagen für eine verbindlichere Zusammenarbeit geschaffen werden sollen. Sprich: Der Staat soll aktiv werden.
Wir tun dies, zum Beispiel mit dem Projekt Muslimische Seelsorge: Zusammen mit der muslimischen Gemeinschaft haben wir ein Angebot an muslimischer Seelsorge in Spitälern und ähnlichen Institutionen geschaffen. Ein zweites Projekt heisst «Zürich-Kompetenz». Dabei werden muslimische Imame und Betreuungspersonen weitergebildet. Ein weiteres Projekt widmet sich der Professionalisierung des muslimischen Dachverbands.
Ich bin überzeugt: Ein System, das alle etablierten Religionen gleich behandelt, ist legitimierter als das heutige. Denn die gesellschaftlichen Realitäten machen klar: Eine reine Kirchenpolitik können wir als religionsneutraler Staat heute nicht mehr machen.
Ein geklärtes Verhältnis zwischen Staat und Religionen ist für eine liberale Gesellschaft wichtig. Einerseits weil – wie es der Verfassungsrechtler Böckenförde klar formuliert hat – der moderne Staat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht garantieren kann. Und andererseits, weil kein anderes ausser dem religiösen System den Staat in seiner gesellschaftlichen Ordnungsautorität historisch so stark herausgefordert hat und es vielerorts noch heute tut.
Der Staat tut also gut daran, sein Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften verbindlich und rechtsgleich zu organisieren – mittels einer inklusiven und zeitgemässen Religionspolitik.
«Betet, freie Schweizer, betet!», fordert uns die Nationalhymne auf. Eine ziemlich weitgehende, persönliche Forderung, welche die Hymne an uns richtet. Ich möchte eine etwas sachlichere Aufforderung zum Nationalfeiertag formulieren:
Achten wir unsere Verfassung und die darin festgeschriebene Religionsfreiheit. Machen wir deshalb nicht länger Kirchenpolitik – machen wir Religionspolitik.
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Jacqueline Fehr wurde am 12. April 2015 in den Regierungsrat des Kantons Zürich gewählt und ist Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern. Von Mai 2021 bis Mai 2022 amtete sie als Regierungspräsidentin. Ihre politische Karriere begann 1990 als Mitglied des Grossen Gemeinderates Winterthur und anschliessend mit einer langjährigen Mitwirkung im Kantonsrat Zürich. Von 1998 bis 2015 war sie Mitglied des Nationalrats. Von 2008 bis 2015 war sie zudem Vizepräsidentin der SP Schweiz. 2015 schloss sie einen Executive Master of Public Administration MPA an der Universität Bern ab.
Titelbild: Daniel Kosch