Der Schriftsteller Reiner Kunze wird am 16. August 2023 90 Jahre alt. Erich Garhammer, seit Jahrzehnten mit Kunze befreundet, mit einer persönlichen Würdigung und einem Blick auf das Spätwerk Kunzes.
Nach seiner Ausbürgerung aus der DDR 1977 hat Kunze zusammen mit seiner Frau Elisabeth in Erlau, am Sonnenhang, in der Nähe von Passau ein neues Zuhause gefunden, die inspirierende Stille an der Unbeirrbarkeit des Wassers der Donau. Seine Wörter stammen nicht von den Wühltischen der Sprache, sie sind der Stille abgelauscht. Er hatte in diesen Empfindungen einen poetischen Gesinnungsgenossen, den mährischen Dichter Jan Skácel. In der Begegnung mit Skácel erfuhr er seine poetische Berufung. So hat er seinem mährischen Dichterfreund Jan Skácel das Gedicht „Dichter sein“ gewidmet. Es formuliert seine eigene Poetik genauso wie die seines Freundes:
Entlang dem staunen/siedelt das gedicht, da/gehn wir hin// Von niemandem gezwungen sein, im brot/anderes zu loben/als das brot1
Das Gedicht hat also einen Wohnort: es wohnt entlang dem Staunen. Unter Druck entsteht kein Gedicht. Es entsteht in einem anderen Auftrag. Das hat Kunze in aller Deutlichkeit Marcel Reich-Ranicki zu verstehen gegeben, als er ihn zu größerer und schnellerer Schreibproduktivität nötigen wollte:
Apfel für M.R.-R.
Höchste zeit kommt von innen//Höchste zeit ist, wenn die kerne/schön schwarz sind//Und das weiß zuerst//der baum2
Gedichte brauchen Zeit, Eigen-zeit, Reifungs-zeit. Deshalb hat es zehn Jahre seit dem Gedichtband „lindennacht“ (2007) gedauert bis zum Gedichtband „die stunde mit dir selbst“, der im Juli 2018 erschienen ist.
Meditation der Endlichkeit
Geprägt ist der letzte Gedichtband vom „Fehl“ der Sprache angesichts der grassierenden Wortdiarrhoe: es ist die Sehnsucht des Poeten nach Wörtern, die immer mehr im Geschwätz unterzugehen drohen: die menschheit mailt//du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt,/als daß es fehlt (31).
Auch die Spuren des eigenen Alterns werden nicht verdrängt: von den schwarzen Malen im Gesicht ist die Rede, die schon Vorzeichen des Staubs sind, zu dem der Mensch zurückkehrt. Das Verstummen wird genauso thematisiert wie das Aussetzen des Gedächtnisses. „Das soeben noch gewußte/verläßt dich auf dem weg ins wort./Die bühne ist nicht mehr dein ort,/stumm stehn am Ausgang die verluste.“ (50).
Meditation der Endlichkeit geprägt von einer zarten Transzendenz
Der Gedichtband ist Meditation der Endlichkeit geprägt von einer zarten Transzendenz, von der Leuchtspur erfahrungshaltiger Wörter, einer Mystik des Alltags, der sensiblen Poesie eines Dichters, der im Herzen barfuß ist und dem Staunen eines alten Mannes, der das Wort ehrt, das im Anfang war. Auch wenn er festhält, dass er vom Glauben nicht ergriffen sei, so ist das Staunen die diaphane Haltung aller Gedichte. Die Gedichte Kunzes haben einen Wohnort: entlang dem Staunen.
Er sagt von sich selbst, ihm sei keine Gotteserfahrung zuteilgeworden.
In meines tauben ohres innenwelt/läutet in der ferne mir ein kirchlein,/das sich an keine uhrzeit hält//So weiß ich nie,/ist´s spät, ist´s früh?/Das kirchlein läutet, wann es ihm gefällt//Ich weiß, wer dort das seil in händen hält3
In all meinen Begegnungen mit Reiner Kunze, die stets absichtslos waren und seiner großartigen Lyrik galten, in den vielen gemeinsamen Lesungen in Würzburg, Passau, Regensburg oder Freising war bei ihm gute Vorbereitung und Präsenz – er steht immer bei seinen Lesungen, um damit die Zuhörenden zu würdigen – Offenheit und Herzlichkeit zu spüren. Seine Buchwidmungen drückten stets Dank und empfundene Ermutigung aus. In den Band „die stunde mit dir selbst“ schrieb er mir: „dem treuen Freund und Ermutiger, mit großem Dank“. In den Band „lindennacht“ schrieb er eine Widmung, über die ich lange nachdenken musste: „Für Erich Garhammer von einem unverbesserlichen, aber sehr dankbaren Reiner Kunze“ (9. Juli 2007). Was mochte mit unverbesserlich gemeint sein? Er benannte damit wohl seine Haltung dem Glauben gegenüber. Er sagt von sich selbst, ihm sei keine Gotteserfahrung zuteilgeworden. „Ich achte den Glauben anderer, mir selbst aber ist Gotteserfahrung bis heute nicht zuteilgeworden. Sollten Sie allerdings darin, daß ich für jedes Erwachen dankbar bin, auch wenn ich nicht weiß, wem, ein religiöses Empfinden erblicken, so habe ich dagegen nichts einzuwenden.“
Sein Gewährsmann in diesen Fragen ist Albert Camus. Dieser hatte im Dominikanerkloster von Latour-Maubourg einen Vortrag gehalten, in dem er fast mit den gleichen Worten wie Kunze auf die Frage nach dem Glauben reagierte. Er fühle sich nicht im Besitz irgendeiner absoluten Wahrheit oder einer Botschaft, werde aber deshalb niemals vom Grundsatz ausgehen, die christliche Wahrheit sei eine Illusion, sondern nur von der Tatsache, dass er ihrer nicht teilhaftig zu werden vermochte. „Ich werde also nicht versuchen, mich vor Ihnen als Christ zu gebärden.“
Poesie ist die gestaltete Leerstelle für eine Wirklichkeit jenseits aller sichtbaren Wirklichkeit.
Die Poesie von Kunze ist von sanfter Transzendenz geprägt, das zeigen seine Gedichte auf Schritt und Tritt – gerade auch das Gedicht „Zerfall“. Das zunehmende ertaubende Gefühl in seinen Ohren ist dem Alter geschuldet, eine Erfahrung von Zerfall. Und doch weiß er die Taubheit seines Ohres und die darin hörbaren Geräusche als Läuten einer Glocke zu deuten. Er weiß, wer das Seil in Händen hält. Poesie ist die gestaltete Leerstelle für eine Wirklichkeit jenseits aller sichtbaren Wirklichkeit. Für Kunze ist Poesie mit Meditation zu vergleichen: sie lebt aus der Versenkung. Wie die Meditation ist sie absichtslos. Sie hat gerade dadurch die Kraft, in einer nichtpossessiven Sprache über das Unverfügbare zu sprechen.
Die besten Wünsche zum 90. Geburtstag gehen heute nach Erlau bei Passau an den Sonnenhang.
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Erich Garhammer, Prof. Dr., war Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg von 2000 bis 2017, Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ (2004-2021) und Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.
Aktuelle Veröffentlichung: Erich Garhammer, Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird Joseph Ratzinger/Benedikt XVI, Würzburg 2023.
Bilder: privat (Garhammer)
Zitierte Werke von Reiner Kunze:
Kunze, Reiner, Das weiße Gedicht. Essays, Frankfurt a.M. 1989.
Kunze, Reiner, lindennacht. Gedichte, Frankfurt a.M. 2007.
Kunze, Reiner, die stunde mit dir selbst. Gedichte, Frankfurt a. M. 2018.
Kunze, Reiner, gedichte, Frankfurt a. M. 2001.
Kunze, Reiner, Zerfall, in: Lebendige Seelsorge 67 (2016) 87.
Zu Reiner Kunze vgl. Erich Garhammer, Verwandlung der Welt. Vom inspirierenden Potential der Poesie, in: Erich Garhammer, Erzähl mir Gott. Theologie und Literatur auf Augenhöhe, Würzburg 2018, 55-71.