Ein Erfahrungsbericht von Tobias Karcher SJ zum Engagement der kolumbianischen Jesuiten für Frieden und Versöhnung nach dem Friedensabschluss zwischen Regierung und der FARC-EP Guerilla 2016. Der Autor war dazu mit verschiedenen Beteiligten im Gespräch.
Nachdem ich Ende April 2023 die Leitung des Lassalle-Hauses Toni Kurmann SJ übergeben konnte, war der Weg frei für eine kleine, zehnwöchige Auszeit in Kolumbien. Neben Sprache, Land und Leuten interessierte mich insbesondere das Engagement meiner Jesuiten-Mitbrüder, in einem Land, das mir nur oberflächlich bekannt war, etwa durch die berüchtigten Drogenkartelle in Cali und Medellín.
Im Sprachunterricht studierten wir die junge Geschichte Kolumbiens. Die ersten Jesuiten kamen 1598 ins Land, auf den Schiffen der spanischen Eroberer. Im 19. Jahrhundert wurden sie dreimal des Landes verwiesen im Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen. Heute sind die 190 Jesuiten Kolumbiens, wie der Hauptteil der kolumbianischen Bevölkerung, Nachkommen zwischen Europäern und Indigenen.
erdrückende Ereignisse von Gewalt
Seit seiner Gründung 1810 ist das Land geprägt von schier endlosen und erdrückenden Ereignissen von Gewalt. In den vergangenen 50 Jahren sind es die blutigen Konflikte zwischen Guerilla-Organisationen, Paramilitärs, Drogenkartellen und dem Militär. Die Zahl der Toten wird auf über 450.000 geschätzt. Vor diesem Hintergrund erscheint der Friedenschluss im November 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC, der grössten Guerilla-Organisation Kolumbiens, als Meilenstein und als eine grosse Verheissung.
Bestandteile des Friedensvertrages
Dieser Friedensschluss inspiriert nach wie vor die Sehnsucht vieler Kolumbianer:innen, so wie dies eine aktuelle podcast-Serie des Radio Nacional de Colombia ins Wort fasst: «La paz se construye eschuchando nos» (Der Friede entsteht im Zuhören). Einige Bestandteile des Friedensvertrages seien erwähnt: Die zum grossen Teil noch immer ausstehende Landreform. Versöhnung und Umsetzung der Friedensarbeit, insbesondere in den ländlichen Regionen, Programme für Sicherheit und Schutz vor Gewalt und Willkür. Die Aufklärung der Ermordung und Verschleppung von Familienangehörigen.
Die Wahrheitskommission – Comisión para el Esclarecimiento de la Verdad, la Convivencia y la No Repetición – CEV[1]
Das einander Zuhören stand auch im Mittelpunkt der Wahrheitskommission, die nach dem Friedensabschluss eingesetzt wurde, ihre Arbeit aufnahm und im Sommer 2022 ihren Abschlussbericht vorlegte. Die Leitung der Kommission wurde dem für seine bisherige Friedensarbeit ausgezeichneten Jesuiten Francisco de Roux SJ anvertraut.[2] Zu Beginn des Berichtes formuliert er folgende Fragen:
«Warum hielt das Land nicht inne und forderte die Guerilla und den Staat auf, den politischen Krieg frühzeitig zu beenden und einen umfassenden Frieden auszuhandeln? Welche Institutionen verhinderten den bewaffneten Konflikt nicht, sondern förderten ihn? Wo war der Kongress, wo waren die politischen Parteien? Inwieweit kalkulierten diejenigen, die zu den Waffen gegen den Staat griffen, die brutalen und makabren Folgen ihrer Entscheidung? […] Wie konnten wir erlauben, dass das geschehen ist? Und wie können wir es wagen, es weiterhin zuzulassen?»
von einer traumatischen Vergangenheit in eine zivilisierte Zukunft
Der erschütternde Bericht beruht auf Aussagen von 28.562 Personen, 14.928 individuellen und kollektiven Interviews sowie 1.203 Berichten von Nichtregierungsorganisationen, öffentlichen und privaten Unternehmen und Opferorganisationen.
«Der Abschlussbericht der Wahrheitskommission enthält einen wichtigen Teil der Wahrheit, um von einer traumatischen Vergangenheit in eine zivilisierte Zukunft zu gelangen, in der Differenzen demokratisch gelöst und die Faktoren der Ungleichheit, Korruption und Unmenschlichkeit überwunden werden», heisst es in der Einleitung.
Die Zusammenfassung liefert einen detaillierten Überblick über das Leid, das paramilitärische Gruppen, die Farc und andere Rebellengruppen sowie staatliche Sicherheitskräfte der Zivilbevölkerung zugefügt haben. Sie dokumentiert Massaker, gewaltsames Verschwindenlassen, aussergerichtliche Tötungen, Entführungen, Erpressung, Folter, sexuelle Übergriffe, die Rekrutierung von Kindern und andere Menschenrechtsverletzungen.
ein aussergerichtlicher Mechanismus
Der Name der Kommission steht auch für einen aussergerichtlichen Mechanismus, der es ermöglicht hat, die Wahrheit über die Geschehnisse im Zusammenhang mit den bewaffneten Konflikten ans Licht zu bringen. Erst dank der Wahrheitskommission konnten viele Familien erfahren, was mit ihren Angehörigen in den Konfliktsituationen geschehen war. Über 100 Begegnungen zwischen den Familien der Opfer und den Tätern konnten ermöglicht werden. Die Dokumentationen dieser Begegnungen zählen für mich zu den bewegendsten Berichten der Kommission.
Zu den Empfehlungen für die Polizei und das Militär gehören eine verstärkte Aufsicht und Rechenschaftspflicht, eine Umstrukturierung der staatlichen Sicherheitskräfte, bei der die Nationalpolizei aus dem Verteidigungsministerium herausgelöst wird, und die Abschaffung von wirtschaftlichen Kooperationen zwischen dem Militär und privaten Einrichtungen. Bei dieser Art von Zusammenarbeit beauftragen Konzerne wie zum Beispiel Ölfirmen Militärs für ihren Schutz.
die Rolle der US-Regierung
Der Bericht könnte auch dazu beitragen, die künftigen Beziehungen Kolumbiens zu den USA zu gestalten. Zu den Themen, die in dem Bericht untersucht werden, gehört die Rolle der US-Regierung, die jahrzehntelang das kolumbianische Militär im Kampf gegen die FARC-EP und die Drogenwirtschaft finanziert und ausgebildet hat.
Die historische Untersuchung, die aussagt, dass der Staat einer der «Hauptverantwortlichen für systematische Morde» im Land ist, wurde inmitten des Übergangs von Präsident Iván Duque zu seinem gewählten Nachfolger Gustavo Petro veröffentlicht. Sie sei «der Einstieg in ein Gespräch ohne Angst über die Nation, die wir sind», sagte der Präsident der Kommission, Francisco De Roux, bei der Auftaktveranstaltung.
Jesuit Refugee Service (JRS)
Die Umsetzung des Friedensabkommens der Regierung mit der FARC von 2016 hat zu einem Machtvakuum sowie zu neuen territorialen Streitigkeiten von bewaffneten Gruppen geführt, die eine weitere Vertreibung zur Folge hatte, führt Juan Enrique Casas SJ, der Leiter von JRS Kolumbien aus. Man rechnet mit 6,8 Millionen Binnenflüchtlingen (2021). Zum Engagement für diese intern Vertriebenen, insbesondere in den ländlichen Regionen Kolumbiens, kommt die Unterstützung und Begleitung von 3 Millionen Flüchtlingen aus Venezuela.
6,8 Millionen Binnenflüchtlinge
Bewegend ist für mich die Begegnung mit alleinerziehenden Müttern und Kindern, die neben einer Schule in einem Armutsviertel von Cartagena Unterkunft und eine neue Heimat gefunden haben. Mit Unterstützung des JRS können sie eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und ihre Kinder regulären Unterricht.
CINEP – Centro de Investigación y Educación Popular
CINEP dokumentiert seit den 1970er Jahren Gewalt und Friedensprozesse in Kolumbien. Dort begegne ich dem wissenschaftlichen Mitarbeiter Yebrail Alvarez. Seine Hauptaufgabe ist die Aktualisierung einer umfassenden Datenbank für Menschenrechtsverletzungen und politische Gewalt in Kolumbien. Dank dieser akribischen Arbeit kann eine breite Öffentlichkeit regelmässig über Opfer, Täter und verantwortliche Strukturen informiert werden.
eine kolumbianische Zivilgesellschaft aufbauen
Langsam gelinge es, so Yebrail, gemeinsam mit anderen NGOs eine kolumbianische Zivilgesellschaft aufzubauen, die unabhängig von den polarisierten politischen Parteien an einem dauerhaften Frieden in Kolumbien interessiert ist. Dem zähen Widerstand dieser NGOs ist es zu verdanken, dass die Wahrheitskommission nicht von der konservativen Regierung Duque (2018 – 2022) aufgelöst, sondern ihre Arbeit unabhängig von der politischen Couleur der Regierenden fortsetzen konnte.
Die Universität Javeriana
Die Javeriana ist die grösste Universität der Jesuiten in Lateinamerika, mit 23.000 Studierenden. Fernando Munera SJ, der Rektor der Universität, nennt in unserem Gespräch das Thema der Versöhnung als eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Die Javeriana greift das Thema der Versöhnung auf in den Bereichen des Rechts, der Politik sowie der Umweltwissenschaften. In der pastoralen Arbeit mit den Studierenden der Universität werde auf berührende Weise deutlich, wie fast alle Familien dieser jungen Menschen Opfer von Gewalt, Erpressung oder Vertreibung wurden.
Anregungen für Europa?
Was ich für das Engagement der Jesuiten in der Schweiz mitnehme? Der soziale Frieden, den wir in der Schweiz erleben dürfen, ist ein hohes Gut. Umso mehr verpflichtet er, uns für Frieden und Versöhnung auch international zu engagieren. Das einander Zuhören, ist dabei wohl immer der erste, wichtige Schritt.
Dialog mit dem globalen Süden zur sozial-ökologischen Transformation
Mit der internationalen Konferenz «environmental justice», die das Lassalle-Institut, gemeinsam mit der Georgetown-University, sowie weiteren Universitäten organisiert, steht der Dialog mit dem globalen Süden zur sozial-ökologischen Transformation im Vordergrund, an dem sich auch internationale Schweizer Unternehmen beteiligen, die in einem geschützten Raum ihre Erfahrungen und Erwartungen ins Gespräch bringen.
Tobias Karcher SJ, geb. 1961, Studium der Philosophie, Theologie und der Gesellschaftswissenschaften in Freiburg/Br., Paris, Frankfurt und München. 1989 Eintritt in den Jesuitenorden. Von November 2009 bis April 2023 war Tobias Karcher Direktor des Lassalle-Hauses, seit 2016 ist er Leiter des Lassalle-Instituts.
Beitragsbild: Tobias Karcher SJ, Projektbesuch in Kolumbien
[1] Vgl.: http://comisiondelaverdad.co; https://amerika21.de/2022/07/258879/kolumbien-frieden-wahrheitskommission; https://www.fdcl.org/
[2] Francisco de Roux SJ hatte in den Jahren 2010 Friedensprojekte in der Region Magdalena Medio geleitet, verbunden mit wirtschaftlichem Wiederaufbau und Rückkehr der intern Vertriebenen. Dafür wurde ihm der nationale Friedenspreis verliehen.