Wie kann Katholizität als symbolische Ressource für eine plurale Öffentlichkeit betrachtet werden? Wie kann „Katholizität“ praktisch erlebt werden? Von Isabella Guanzini.
Auf den ersten Blick mag diese Frage wie eine Provokation klingen. Tatsächlich wird die Denomination katholisch in der allgemeinen bzw. säkularen Wahrnehmung zuallererst mit einem Gestus der Abgrenzung oder der Identitätsverteidigung assoziiert. Wie der Pastoraltheologe Franz Weber meint, gilt als „katholischer Typ“ in einer säkularen Gesellschaft „hierzulande nach gängiger Meinung, jemand, der engstirnig, engherzig und unbeweglich auf seiner kirchlich-religiösen, moralischen und weltanschaulichen Position beharrt und zu keinerlei Dialog mit Andersdenkenden und Andersgläubigen bereit ist“.[1] Eine solche Katholizität ist mit den Herausforderungen des Pluralismus oder der Heterogenität unserer Gesellschaften schwer zu versöhnen.
Katholizität und Evangelium
Katholizität atmete jedoch in der frühchristlichen Erfahrung in einer spirituellen Atmosphäre, die keine geographische, ethnische, geschlechtliche oder soziologische Grenzziehung kennt, da sie auf der schrankenlosen Heilszuwendung Gottes beruhte (vgl. Mt 8,5-13; Lk 7,1-10). Es ist das Versprechen, das wir im Timoteusbrief wiederfinden: Gott „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4).
Die abgrenzende und kontroverse Entwicklung dieses Begriffes in der Dogmatik der Gegenreformation und in der scholastischen Apologetik kann recht knapp mit einem Zitat des Kardinals Walter Kasper zusammengefasst werden: die „Tragik“, ja der Skandal der kirchengeschichtlichen Entwicklung bestehe darin, dass die Wesensbezeichnung von Kirche als katholisch „zum Kennzeichen konfessioneller Ausgrenzung und Spaltung geworden ist.“[2] Solche polemische Ausgrenzung führte dadurch zu einer Pervertierung der „Idee der Katholizität [als] Instrument der Universalisierung des Partikularen“.[3]
Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde diese stark konfessionalistische Sicht der Katholizität aufgegeben. Die Konzilsväter versuchten, zu den Quellen zurückzukehren, um den ursprünglich biblischen Charakter der Katholizität, verstanden als Vielfalt, Universalität und Einheit des Gotteswillens, wiederzuentdecken (man kann vor allem an Nostra Aetate und Dignitatis Humanae denken).
Katholizität heute: Zwischen culture wars und Exkulturation
Richtet man jedoch heute den Blick insbesondere auf die nordamerikanischen Landschaften, wird deutlich, dass Katholizität durch einen starken „Identitätsreflex“ geprägt und zu einer Art Kampfbegriff geworden ist, der in die sogenannten culture wars um die Themen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe tief verwickelt ist. Generell scheint die gegenwärtige ambivalente Wiederkehr des Religiösen, vor allem in populistischen Bewegungen und in der neotraditionalistischen und konservativen Rechten, von der Frage der Identität und der Werte besessen zu sein, die jedoch fast völlig von der Frage des Glaubens abgekoppelt ist.
Wie Christoph Theobald mehrmals beobachtet hat, ist die katholische Welt heutzutage durch eine Diasporasituation, eine Exkulturation des Glaubens und eine tiefgründige Glaubwürdigkeitskrise gekennzeichnet.[4] Denn obwohl „‚mikroklimatische‘ christkatholische Bedingungen“[5] in europäischen Gesellschaften noch lebendig sind, wird die Kluft zwischen Christentum bzw. Katholizismus und Kultur immer größer. Die Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger spricht von einer „Implosion“[6] des Katholizismus. Die tragische Missbrauchskrise, die enormen gesellschaftlichen Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und das Ausbleiben tiefgreifender Reformen in Mentalität und Praxis entfernen die Kirche von der heutigen Kultur und führen sie zu einem schmerzhaften Prozess der Delegitimierung.
Auf der einen Seite den (irreligiösen) fundamentalistischen Forderungen ausgesetzt, die konservativ und populistisch sind, und auf der anderen Seite der säkularen Offensive, die für den einfachen Ausschluss der religiösen Sphäre aus dem öffentlichen Raum kämpft, d.h. zwischen Populismus und Säkularisierung gespalten, bleibt Europa jedoch ohne symbolische Ressourcen, ohne geistige Horizonte.
Nicht ohne den Anderen: Katholizität als Entgrenzungsprinzip
Deswegen ist Katholizität evangelisch neu zu denken. Denn wenn es der Kirche tatsächlich um das Evangelium geht, muss jeder beschränkte Horizont auf eine je größere Hoffnung hin aufgebrochen werden. Katholizität wird zum Glauben an den einen Gott der Hoffnung, der nicht der Gott einer Gruppe, einer Kirche, einer Religion, sondern der Gott aller Menschen ist.
Um die Verschlossenheit eines sektiererischen bzw. fundamentalistischen Schicksals zu vermeiden, ist deshalb die katholische Kirche dazu aufgerufen, Allianzen, Bündnisse mit den anderen Religionen und Kulturwelten zu schließen. Katholizität wird zu einem Entgrenzungsprinzip, das die Grenzen einer Kirche sprengt, indem es auf die Notwendigkeit des Anderen hinweist – allumfassend kann sie nur mit den anderen bzw. mit den anderen Konfessionen, Religionen, Weltanschauungen und der säkularen Welt von heute sein.
Dieses Angewiesen-Sein – dieses Nicht-Alles sein – lernt die Kirche tatsächlich von ihren eigenen Quellen. Denn sie hat nicht nur einen Code, sondern vier Evangelien und mehrere Sprachen, wenngleich es eine grundlegende Sprache bzw. „Glaubensregel“ des Neuen Testaments gibt. Zwischen Petrus und Paulus gab es konflikthafte Visionen der frühchristlichen Gemeinschaft, Markus hat nicht die Theologie des Johannes usw. Demzufolge ist die christliche Singularität schon strukturell immer plural. Wie es Michel de Certeau auf den Punkt bringt: „Die fehlende Identität ist die Weise, in der sich die Gemeinschaft entwickelt“.[7] Diese strukturell vielfältige Form des Christseins bedeutet, dass das christliche Ursprungsereignis „nirgendwo im Einzelnen gesagt“[8] wird, sondern uns nur gegeben ist „in der Form jener Inter-Relationen, die durch das offene Netzwerk der Ausdrucksgestalten gebildet werden, die nicht ohne es bestehen könnten.“[9]
Trauer um die Totalität
Darüber hinaus geht es um einen katholischen Stil, der Gastfreundschaft und Geschwisterlichkeit bzw. den Geschmack für die Unterschiede kultiviert und diese Anerkennung in ein kulturelles Bündnis umwandelt. Denn Geschwisterlichkeit stellt – vielleicht im Wesentlichen – die Erfahrung eines erzwungenen Teilens, eines Zustandes des Nicht-Alles-Seins dar. Geschwister müssen die Zuneigung und Fürsorge der Eltern, die Zeit und den Raum des Hauses, die Ressourcen und die möglichen Erfahrungen in der Familie teilen. Die Erfahrung der Geschwisterlichkeit setzt also ein Bewusstsein für die Unmöglichkeit der Totalisierung bzw. die Notwendigkeit der eigenen Selbstrelativierung voraus. Um zusammen zu sein, müssen wir diese Trauer, diesen Verlust der Beherrschung teilen. Papst Franziskus schreibt in Fratelli tutti: «Dieser Pakt bedeutet auch zu akzeptieren, dass man eventuell etwas für das Gemeinwohl aufgeben muss. Niemand wird die ganze Wahrheit besitzen oder alle seine Wünsche erfüllen können» (FT 221).
Es geht nicht zuletzt um den Eintritt in ein demokratisches Feld des Denkens und des Handelns und damit des Miteinanders der Verschiedenen, der Vergemeinschaftung, deren Grundelement die Erfahrung der Trauer bzw. der Bereitschaft, etwas zum Wohle aller aufzugeben, ist. Dies bedeutet vor allem, dass Katholizität als Entgrenzung eine durchaus kritische Instanz darstellt, welche die Überzeugung bekämpft, dass eine Kirche den ultimativen und exklusiven Schlüssel zum Leben in Fülle besitzt.
Außerkraftsetzung jeder sakralen Ideologie und jedes Klerikalismus
Wenn man aber Katholizität mit dieser Kategorie des Bundes, der Geschwisterlichkeit und der Trauer um die Totalität denkt, muss man sich auch fragen, wie man der Kirche glauben kann, dass sie sich für die Würde der Menschen einsetzt, wenn sie selbst in ihrer eigenen Struktur bestimmte Menschengruppen diskriminiert.[10] Ein anti-sektiererisches Bewusstsein stellt das wichtigste Element gegen jede Ghettoisierung des Christentums dar und erfordert eine wesentliche Veränderung der katholischen Mentalität, die Außerkraftsetzung einer katholischen Pervertierung der Katholizität, die in den letzten Jahren entschieden an die Öffentlichkeit getreten ist, leider auch in ihren dramatischsten Auswirkungen.
Die Schwierigkeit des heutigen Katholizismus, mit der pluralen Öffentlichkeit zurechtzukommen und auf die Entwicklung der säkularen Welt um ihn herum zu reagieren, hängt nicht zuletzt von einem defensiven, klerikalen System ab, das dazu neigt, sich abzuschotten, um Bedrohungen von außen zu vermeiden. Genau diese „klerikale Sperre“ nährt sich von der Selbstbezogenheit, hierarchischen Macht und Sakralität einer Kirche, welche ihre eigene Sprache spricht, ihre Tradition in allen Dokumenten ständig zitiert, ausschließlich männlich, patriarchal und monarchisch ist und keine wahre Alterität anerkennt.
Deswegen besteht die einzige Möglichkeit, dieses geschlossene, sakrale und klerikale System aufzubrechen, darin, die anderen bzw. die Frauen in das religiöse Dispositiv bzw. in die volle Führung der Gemeinschaft einzubinden. Hierbei geht es nicht nur um die demokratische Anerkennung des anderen, sondern um die Sprengung der Sakralität des Systems, das auf der zölibatären Männlichkeit des Priesters und auf der nicht evangelischen Unterscheidung zwischen Reinem und Unreinem, die Jesus ausdrücklich ablehnte, beruht.
Nicht ohne die anderen – nicht ohne die Frauen – kann „Katholizität“ als symbolische Ressource für eine plurale Öffentlichkeit betrachtet werden.
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Univ.-Prof. DDr. Isabella Guanzini ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privatuniversität Linz.
Ausführlicher: Isabella Guanzini, Nicht ohne den Anderen. „Katholizität“ in pluraler Öffentlichkeit neu denken, (erscheint) in: Rainer Bucher/Rainer Krockauer/Johann Pock (Hrsg.), Theologie als Werkstatt. Offene Baustellen einer praktischen Theologie, Wien-Zürich 2023, 75-85.
[1] Weber, Franz, Dynamisch-spannungsreiche Katholizität. Beobachtungen zu aktuellen weltkirchlichen Lernprozessen, in: Hell, Silvia (Hg.), Katholizität. Konfessionalismus oder Weltweite? Innsbruck–Wien 2007, 115; Vgl. Telser, Andreas, Katholisch sein (… oder nicht sein)?, in: theophil 2013/2014, 7-8.
[2] Kasper, Walter, Katholische Kirche: Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg/Br.–Basel–Wien 2011, 241.
[3] Seckler, Max, Die schiefen Wände des Lehrhauses. Katholizität als Herausforderung, Freiburg/Br.–Basel–Wien 1988, 12.
[4] Theobald, Christoph, Christentum Als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg / Basel / Wien 2018, 21-33.
[5] Ebd, 24.
[6] Vgl. Hervieu-Léger, Danièle / Schlegel, Jean-Louis, Vers l‘implosion? Entretiens sur le présent et l’avenir du catholicisme, Paris: Seuil 2022.
[7] Certeau, Michel de, Der Fremde oder Einheit in Verschiedenheit, Stuttgart 2018, 43.
[8] Certeau, Michel de, GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009, 177.
[9] Ebd.
[10] Schambeck, Mirjam, Mittedebatten und anderen religionspädagogisch indizierten Fragen. Response zum Vortrag von Clemens Albrecht „Aktuelle Narrative zur Religion und Gesellschaft: Die neue soziale Spaltung und der Verlust des Dritten“, in: Theo-Web 20.2 (2021), 25.