Ikonen auf Munitionskisten geschrieben – eine Kunstform im Ukrainekrieg, die herausfordert. Regina Elsner hat sie gesehen und reflektiert, wie der Ukrainekrieg einfache Friedensparolen infrage stellt.
Es war im Frühling 2019, als Freunde in Kyjiw mir empfahlen, eine Ausstellung mit besonderen Ikonen zu besuchen. Die Künstler Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko schreiben seit 2014 Ikonen auf die Reste von Munitionskisten von der Front im Osten ihres Heimatlands, der Ukraine. Die Ausstellung war in einem kleinen Raum auf dem Gelände der Sophienkathedrale, nicht so leicht zu finden, und es war menschenleer und still. Mein erster Eindruck war: Verunsicherung. Mit Ikonen verband ich Gebet, Ruhe, Liturgie, eine heilige, gesegnete Atmosphäre. Aber da waren die groben Munitionskästen, als Grundlage der Ikonen, als ihr Material. Da waren Fahnen mit militärischer Symbolik. Kriegssymbolik in Kirchen war mir immer fremd; Waffen, Munition, Tarnfarben – all das war mir schon immer zuwider. Mich hat die gewaltlose Friedensbewegung in der DDR über mein Elternhaus geprägt, später das ökumenische „Schwerter zu Pflugscharen“. Christentum und Waffen – ein unüberwindbarer Widerspruch.
Verunsicherung
Und nun stand ich da. Draußen die lebendige Weltstadt Kyjiw, Musik, Kastanienblüte. Davor zahlreiche Gespräche über den Krieg, der seit 2014 den Alltag der Menschen prägte, auch wenn er weit weg, im Osten, tobte. Auch darüber, was dieser Krieg mit den Kirchen, und mit dem Glauben der Menschen machte. Und dann war da noch diese Mystik orthodoxer Liturgie, in die diese Ikonen scheinbar reingehören, die Bewunderung vor der Ästhetik von Gottesdiensten. Und nun also diese Ikonen, mit ihrer Präsenz des Heiligen, und mit den Resten von Tod bringenden Waffen. Und meine Verunsicherung.
„Imperiale Mächte und Frauen. Trauma, Widerstand und Resilienz“
Vor wenigen Tagen fand die Internationale Konferenz der European Society for Women in Theological Research statt. Sie musste erst verschoben werden und dann hybrid stattfinden, denn sie wurde von Kolleginnen in der Ukraine durchgeführt. Russlands Krieg erschwert seit 19 Monaten einen großen Teil der wissenschaftlichen Kooperationen und Feldforschung, auch in der Theologie. Der Titel „Imperiale Mächte und Frauen. Trauma, Widerstand und Resilienz“ schlug den Bogen von der aktuellen Erfahrung des Krieges in der Ukraine zu den Erfahrungen aus anderen Kontexten der traditionell sehr internationalen ESWTR. Am Ende der Tagung war für mich nicht klar, ob dieser Brückenschlag wirklich gelungen war, denn am letzten Tag sorgte der Vortrag von Tamara Martsenyuk für Aufregung – zumindest im Zoom-Chat unter den nicht-ukrainischen Teilnehmerinnen.
Beteiligung von Frauen am militärischen Kampf
Tamara Martsenyuk untersucht die Beteiligung von Frauen in den ukrainischen Streitkräften. Der Anteil von Frauen in den Streitkräften ist weltweit am höchsten, besonders seit den Protesten des Maidan wuchs die Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen der Armee, der russische Angriffskrieg hat den Anteil noch einmal erhöht. Nach zwei Tagen mit hervorragenden Vorträgen über das Potential christlicher Theologie zur Stärkung der Frauen besonders in Krieg und Bedrängung schien dieser Vortrag für viele Theologinnen aus den europäischen Ländern eine Überforderung. Widerspricht eine Beteiligung von Frauen am militärischen Kampf grundsätzlich Ideen von Feminismus – als Beteiligung am zutiefst kapitalistischen und sexistischen System des Militärs? Oder ist es gerade ein Akt feministischen Emanzipation, dass Frauen dieses System aufbrechen und Streitkräfte – da sie gerade in so einem Krieg überlebenswichtig für eine Gesellschaft sind – zu mehr Verantwortungsbewusstsein und weniger Sexismus transformieren? Was nach einer komplexen Frage feministischer Forschung klingt, wurde durch den Chat zu der sehr verkürzten Frage nach Militarisierung.
„If only not everyone always wanted to win.”
Hier die ukrainischen Teilnehmerinnen vor Ort in Lviv, wo erst vor wenigen Wochen russischer Beschuss ein Wohnhaus in der direkten Nachbarschaft der Universität getroffen hatte. Dort die internationalen Teilnehmerinnen in unterschiedlicher Entfernung an ihren Schreibtischen. Im Chat das Zitat von Judith Butler „If only not everyone always wanted to win.” „Verstehen Sie,“ sagte Tamara Martsenyuk, „es ist ein unglaubliches Privileg, über die theoretischen Möglichkeiten einer Welt zu sprechen, in der es kein Militär mehr gibt und in der die Kritik der Siegeslogik ein feministischer Akt ist. Aber jetzt brauchen wir Waffen, um zu überleben.“ „Man kann anders überleben, als sich an der Waffengewalt zu beteiligen,“ lautet eine der Antworten im Chat. Eine wirkliche Diskussion, eine persönliche Begegnung der verschiedenen Positionen kann – wie leider so oft – nicht stattfinden, es bleibt bei kurzen schriftlichen Kommentaren.
Die Ikonen irritieren.
Zur Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe 2022 habe ich eine Ausstellung der Ikonen von Sonia Atlantova und Oleksand Klymenko organisiert. Sie fand keinen Platz im offiziellen Gelände der Vollversammlung, die meisten angesprochenen Organisator*innen schienen mit dem Konzept überfordert. Wir stellten in der Altkatholischen Kirche aus, die Künstler waren vor Ort, es gab sehr intensive Gespräche. Weitere Ausstellungen gibt es auch aktuell in verschiedenen Städten in Deutschland und der Schweiz. Im Juni 2023 eröffneten wir gemeinsam eine Ausstellung in der Immanuelkirche in Berlin. Die Künstler schrieben die Namen von getöteten Menschen aus zwei Dörfern bei Irpin auf die Ikonen der Deesis, eine Tradition, die es seit Jahrhunderten gibt, immer dann, wenn die Worte ausgingen, um die Trauer zu beschreiben. Die Ikonen irritieren die meisten genauso, wie mich vor vier Jahren. Es kamen wenig Menschen.
Die Herausforderung, mit der wir … konfrontiert sind.
Der Krieg macht müde. Die Debatten machen müde. Es war so einfach, als wir uns spannungsfrei über das Übel von allen Waffen und die Abschaffung der Wehrpflicht austauschen konnten und Friedensethik ein zu vernachlässigender Bereich der Theologie werden konnte. Das Spannungsverhältnis, was ich 2019 bei meiner ersten Begegnung mit den Ikonen gespürt habe, illustriert für mich die Herausforderung, mit der wir hier im „Westen“ seit inzwischen schon fast 19 Monaten angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine so konfrontiert sind. Alle kennen die Debatten, haben sie vielleicht sogar mitgeführt, um Waffenlieferungen, um Friedensverhandlungen, Deeskalation. Diese Fragen gehen an die Substanz unserer Gesellschaft, aber vor allem auch an die Substanz unserer Kirchen und unserer Theologien. Sie zeigen unsere gesellschaftliche – und theologische – Verunsicherung zwischen „Nie wieder Krieg!“, „Frieden schaffen ohne Waffen!“, dem Mystischen, dem Ästhetischen, der Friedensbotschaft – und dem realen Krieg. Den Toten, den Gequälten, den Verschleppten. Den Geflüchteten. Hier „Den Frieden wagen“ – da das gnadenlose Morden und Quälen einer Armee, die unter christlicher Flagge kämpft – und Tod und Zerstörung bringt.
Die Munitionskisten sind Ausdruck des Alltags meiner Kolleg*innen, ihrer Familien, ihrer Freunde.
Die Ikonen auf Munitionskisten sind für mich eine Art Antwort auf diese Verunsicherung geworden. Sie sind ein sozialethisches Statement. Dieser Krieg ist real, und ich kann dieser Realität nicht ausweichen. Die Materialität des Krieges ist real. Es ist keine abstrakte Idee, erst recht keine Verherrlichung von Krieg. Dieser Krieg zerstört jeden Tag ganz konkret Menschenleben und Lebensgrundlage – Schöpfung. Die Munitionskisten sind nicht Ausdruck von Militarisierung und Bellizismus. Sie sind Ausdruck des Alltags meiner Kolleg*innen, ihrer Familien, ihrer Freunde, sie ermöglichen Leben – und ja, sie bringen auch Tod. Dieser Krieg lässt sich nicht weg- oder schönreden. Dieser Krieg hört nicht auf, wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen.
Die Ikonen bringen … auch das Mehr, das Grössere zum Durchscheinen.
Die Irritation der Ikonen auf Munitionskisten ist der Auftrag, die Komplexität dieses Krieges nicht zu vereinfachen – in die eine, oder die andere Richtung. Denn die Ikonen bringen eben nach der Intention der Künstler auch das Mehr, das Größere zum Durchscheinen. Das Kämpfen, der Tod haben nicht das letzte Wort. Es sind Soldaten, die die leeren Kisten zu den Künstlern bringen, um an mehr, als am Krieg beteiligt zu sein, um den eigenen „Mehr-Wert“ nicht zu vergessen. Die Gelder der verkauften Ikonen finanzieren medizinische und psychologische Rehabilitation der Soldat*innen. Der Kampf ist kein Selbstzweck, die Waffen dienen nicht der Lust am Kämpfen – sie sind auf tiefe Weise mit dem Leben verbunden. Es braucht die ganz persönliche, materielle Begegnung mit Ukrainier*innen, mit den Ikonen aus der Ukraine, um die Dramatik dieses Zusammenhangs zu spüren – und auszuhalten. Wie Ikonen das Heilige in das Leben der Menschen tragen, so tragen diese Ikonen auf Munitionskisten den Krieg mit all seinen Facetten in unser Leben. Sie sind Zeugen des Lebens in diesem Krieg, Zeugen der Hoffnungen, der Verzweiflung. Sie sind kein Kriegssymbol, wie die Ikonen auf den Flaggen der russischen Armee. Sie sind aber auch keine Friedenstauben, die man sich auf Flaggen bei Demonstrationen schreiben kann. Sie tragen die ganze Dramatik des Krieges, seine Vielschichtigkeit, sein Dilemma in sich, um die wir nicht drumrum kommen, und auf die ein einfaches „Frieden schaffen ohne Waffen“ keine Antwort gibt.
Regina Elsner ist seit Januar 2024 Professorin für Ostkirchenkunde und Ökumenik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, und affiliierte Wissenschaftlerin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin.
Beitragsbild und Foto: Regina Elsner
Porträt der Autorin: Sarah Röttger