Religiösen memory cultures in postsäkularen Kunst-, Pop- und Modewelten des 21. Jahrhunderts geht Elke Pahud de Mortanges nach und erkundet darin zugleich einen Beitrag zur Inszenierung von Geschlecht.[1]
Sie kommen daher auf nackten Körpern, Hauswänden oder Leinwänden. Sie hängen in Museen oder werden auf Kleidern durch das Jetzt getragen. Man muss sie gar nicht einmal vor Ort zu ihrer Zeit gesehen haben. Der digitale Raum des Internets hat sie längst entzeitlicht und virtuell verewigt und omnipräsent werden lassen. Sie werden auf Instagram, Facebook oder Pinterest geteilt.[2]
Ihre visuellen Codes und memorialen Zeichen kommen uns vertraut vor; zugleich machen sie uns stutzen, sind uns gar fremd. Da ist die Box-Ikone Muhammad Ali in Shorts und mit Pfeilen im Körper als Coverboy auf dem Titelblatt des Esquire. Da hängt die Grande Dame der Body Art, Marina Abramović, beim Theaterfestival in Avignon barbusig und mit ausgebreiteten Armen an einem kreuzartigen Etwas, mit einer Schlange in der Hand. Da grüsst die Fussball-Ikone Diego Maradona in Neapel als geflügelter Engel vom Blau eines gemalten Himmels. Da strahlt im Bildzentrum des Kunstwerks von Pierre et Gilles gülden die Pop-Ikone Kylie Minogue, umringt von Matrosen in blauen Medaillons.
1.
Annäherung an die Fragestellung
Icons: Iconic Turn/Pictorial Turn: Visual codes: Crossmappings
Diese und weitere künstlerische Artefakte und Performances bilden das konkrete Anschauungsmaterial des nachfolgenden itinerarium mentis. Es wird zu beschreiben sein, wie Personen, ikonische Bildmotive und memoriale Codes aus unterschiedlichen Communities sowie kulturellen und zeitlichen Kontexten in gegenwärtigen künstlerischen Projekten und Bildkonzepten dekonstruiert, transformiert und rekomponiert werden zu etwas Anderem und Neuem. Weshalb sich die nachfolgende Analyse in die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit visual memory cultures insgesamt einschreibt. Dieser Forschungszweig verdankt sich dem sogenannten iconic turn[3] respective pictorial turn[4] der 1980er und 1990er Jahre. Im Mittelpunkt dieser frühen Beschäftigung stehen Fragen wie: Was ist überhaupt ein Bild? Was macht dieses zur Ikone? Inwieweit kann man von Ikonen in Bezug auf unterschiedliche visuelle Kulturen sprechen? Welche Funktion haben diese in der (Medien-) Gesellschaft?[5]
Die Termini icon und Ikone möchte ich nachfolgend nicht in einem engen oder exklusiven Sinn eines religiösen Kunstwerkes oder heiligen Bildes (im Sinne der Repräsentanz des Göttlichen in ostkirchlichen Ikonostasen) verstanden wissen.[6] Vielmehr knüpfen wir an ihre alltagssprachliche Verwendung an: wo wir von Fussball-Ikonen, Pop-Ikonen oder Stil-Ikonen sprechen, um eine Person, ein Werk, ein Narrativ als selbsterläuternden, emblematischen Ausdruck einer Epoche, einer Bewegung, einer Kunst- oder Musikrichtung zu kennzeichnen.
Gleichzeitig beziehen wir uns auf das, was man im Kontext visueller Erinnerungskulturen memorial icons nennt: auf memoriale Zeichen und ikonische Bilder respektive short cuts, die im Rahmen einer bestimmten institutionalisierten Gemeinschaft – etwa einer Religionsgemeinschaft, einer Nation, einem Verein – das kulturelle Gedächtnis derselben einerseits repräsentieren und andererseits performieren. Die Funktion und Bedeutung, die eine ikonische Figur, ein memorial icon, ein visueller code hat, werden in diesem bestimmten kulturellen Kontext sofort verstanden; sie brauchen nicht erklärt zu werden, sie sind im Rahmen dieser Communities selbsterklärend. Und zwar deshalb, weil sie zentraler und indentitätsstiftender Bestandteil des collected memory sowie der memory cultures dieser Gemeinschaft sind. Die Gemeinschaft ist es, die den normativen Rahmen und die Parameter vorgibt, wie dieses collected memory gesehen, gelesen und eingeordnet wird.
In postsäkularen[7] Zeiten und Gesellschaften ist nun genau das nicht mehr der Fall. Religionen im Allgemeinen und das Christentum im Besonderen können für ihre religiöse Interpretation der Welt und der Wahrheit in postsäkularen Gesellschaften keine universelle Gültigkeit mehr beanspruchen, dies allein schon wegen der Tatsache, dass ihre visual codes und memorial icons nicht mehr selbstevident sind. Mehr noch: die verschiedenen konfessionellen Communities des institutionalisierten Christentums haben keine exklusive Deutungs- oder Verfügungsmacht mehr über diese codes und icons.
Was aber passiert, wenn Personen, ikonische Bildmotive und Codes aus unterschiedlichen Communities und kulturellen Kontexten in gegenwärtigen künstlerischen Projekten und Bildkonzepten verschmelzen? Bleiben die memorialen icons und codes davon unberührt? Verlieren diese durch diese Transformation bzw. Readaptation ihre (vermeintlich) ursprüngliche Bedeutung? Oder verlieren sie nur ihre normative und selbsterklärende Gültigkeit, die sie in ihren Gemeinschaften hatten? Inwieweit entsteht nun etwas völlig Neues und Ungesehenes? Sind dieses Neue und Ungesehene aus religiöser Sicht legitime Anpassungen? Oder handelt es sich, wie manche meinen, um Blasphemie? Ermöglichen diese künstlerischen Transformationen allenfalls gar eine kritische Relektüre des ursprünglichen religiösen Kontexts und der damit verbundenen Masternarrative? Diese Fragen können und sollen nicht abstrakt erfolgen, sondern ganz konkret in der Annäherung an und in Auseinandersetzung mit Künstler:innen und ihren Performances respektive Kunstwerken sowie den beiden Ausstellungen Heavenly Bodies. Fashion and the Catholic Imagination (MoMA, New York, 2018) und Saint Sebastian (London 2019).
Inwieweit und weshalb in unserer Analyse die von der Literaturwissenschaftlerin und Kulturkritikerin Elisabeth Bronfen (*1959) entwickelte hermeneutische Methode des Crossmapping zum Tragen kommt, wird im Fortgang genauer auszuführen sein. An dieser Stelle sei aber bereits vorweggenommen: die Methode des Crossmapping wird von Bronfen gebraucht, um Bildformeln ästhetischer wie theoretischer Natur und Couleur zu identifizieren und zu kartografieren. Ihr Augenmerk gilt dabei besonders der Schnittmenge und der Interaktion verschiedener kultureller Medien, um zeigen zu können, wie sich theoretische und ästhetische Zugänge zum kulturellen Gedächtnis gegenseitig bedingen. Sie verwendet dabei den Begriff des Crossmapping, um den wissenschaftlich-hermeneutischen Prozess zu beschreiben, der Texte, Bildformeln und visuelle Kulturen in ihrem Verhältnis zueinander analysiert. Das Crossmapping, so sagt sie, „schafft einen kritischen Denkraum, der wie die Kunst selbst im kulturellen Imaginären interveniert. […]. [Ich, Bronfen] vergleiche […] Texte unterschiedlicher Medialitäten entlang der Achse einer von ihnen geteilten Bildsprache, um die Visualität narrativer Texte wie kritischer Begriffe mit der erzählerischen Qualität von Bildern zu konfrontieren.“ [8]
2.
Marina Abramović
Biography Remix (2005)
Beginnen wir das itinerarium mentis mit Marina Abramovićs Performance Biography Remix, wie sie 2005 auf dem Theaterfestival in Avignon zur Aufführung kam und in diesem Foto zur Momentaufnahme[9] geronnen ist. Bereits seit den 1970er Jahren lotet die Pionierin und Grande Dame der Performance und Body Art Marina Abramović (* 1946) die Abgründe „des“ Humanen in seiner Vulnerabilität aus.[10] Sie tut dies, indem sie ihren Körper und seine Gestalt zur existentiellen Bühne werden lässt, auf der sie Angst, Einsamkeit und Schmerz performiert.[11] Hierbei spielen Zeichen, Symbole, Ikonen und Codes, die im kollektiven kulturellen Gedächtnis der christlichen Communities verwurzelt und dort mit Be-Deutungen verwoben sind, eine signifikante Rolle.[12] So auch bei ihrer Performance Biography Remix[13], die an der 59. Auflage des Theaterfestivals in Avignon/Frankreich, das vom 7. bis 26. Juli 2005 stattfand.[14]
Es sind verschiedene icons und Motive, die in dieser biografischen Selbst-Rekonstruktion der Biographie (und des antizipierten Todes) der Künstlerin miteinander verschmelzen. (1.) Da ist das Gestell, welches die Ur-Gestalt eines Kreuzes evoziert: das nach dem griechischen Buchstaben Tau geformte memorial icon, das als visueller short cut und als pars pro toto die ganze Erzählung des Leidens und Sterbens der Gründergestalt des Christentums repäsentiert. (2.) Da ist die Präsenz der Hunde, der Knochen und der vielen Schädel, die auf dem Boden weit unter ihr liegen; sie verweisen ebenfalls in den Resonanzraum des Todes Jesu. Der Ort Golgatha, der in den biblischen Schriften „Ort der Schädel“ (Mk 15,22; Mt 27,33) genannt wird, war jener Ort, an dem dieser ans Kreuz gebunden sein Ende fand. (3.) Auch die entblössten Brüste und die Schlange(n)[15] in der Hand dürfen als Verweis auf das christliche Masternarrativ vom Beginn der Menschheit im Paradiesesgarten, auf Eva und auf die „Verführung“ durch die Schlange. (4.)
Zu denken ist aber auch an die eherne Schlange auf dem Stab des Mose (Num 21), die beim Auszug aus Ägypten und auf dem Weg durch die Wüste als apotrophäisches Idol den Schutz und die Zuwendung Gottes gewährte und später dann bei den christlichen Kirchenvätern mit dem Kreuz Jesu typologisch verknüpft wurde. (5.) Die Formgebung der Performance in dieser Momentaufnahme namentlich mit den ursprünglich beiden Schlangen eröffnen einen intervisuellen Dialog mit der minoischen Göttin der Schlangen, die in der kretischen Ikonologie ihre nackten Brüste zeigt und in jeder Hand eine Schlange hält. Der Schlangengöttin wird Lebens- und Schöpfungskraft zugeschrieben und obschon sie weiblich und matriarchal assoziiert ist, weist ihre Weiblichkeit Merkmale auf, die in heteronormativen Diskursen zumeist mit Männlichkeit verknüpft werden.[16] Zusammenfassend lässt sich sagen: Das visuelle Material der Performance transportiert christliche Master-Narrative, die durch Dekontextualisierung, Rekontextualisierung und Remediatisierung aktualisiert werden. Abramović integriert zwei ikonische christliche Gestalten, die im religiösen Ursprungsdispositiv als männlich/positiv und weiblich/negativ bewertet werden: Jesus, der Erlöser der Menschheit. Eva, die Verführerin hauptursächlich schuldig an der Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies. Indem sich Abramović beide auf den Leib schreibt, performiert sie diese unabhängig von den damit verbundenen Geschlechter- und Rollenbildern sowie deren moralischer Ab- oder Aufwertung. Durch das künstlerische intervisuelle Crossmapping der beiden Figuren von Jesus und Eva mit der kretischen Schlangengöttin öffnet Abramović den Diskursraum in Richtung Genderfragen und Inszenierung von Geschlecht.
3.
Pierre et Gilles
La Vierge aux Serpants (2008)
Das Kunstwerk La Vierge aux Serpants des französischen Künstlerduos Pierre et Gilles[17] aus dem Jahr 2008 illustriert den Titel Icon meets Icon unseres Beitrages par excellence. Leider war es trotz vielfältigster Bemühungen und Zusagen nicht möglich, die Rechte und einen File für den Abdruck des Bildes zu bekommen. Wir haben deshalb eine Skizze des Aufbaus des Kunstwerkes angefertigt und dieser einen QR Code beigegeben, mithilfe dessen man das Originalwerk aufrufen kann. Denn im letzten braucht es die Anschauung, um den Ausführungen folgen zu können.
Im Zentrum der fotografischen Inszenierung und malerischen Bearbeitung des Werkes ist die australisch-britische Sängerin Kylie Minogue (*1968), die als Princess of Pop und Stilkone gelten darf und die ganz besonders in den Gay Communities Kultstatus erlangt.[18] Indem das Kunstwerk zwei ikonische Frauenfiguren aus verschiedenen Communities inszenatorisch überblendet, wird ein neuer internarrativer und intervisueller Bedeutungsraum eröffnet. Dies kommt im Bild allein schon dadurch zum Ausdruck, dass die Silhouette eines bunten, leuchtenden Kirchenfensters angedeutet ist, welches in Rot-Braun-Tönen mit vielen golden funkelnden Sternchen gehalten ist. Was zugleich ein formales Indiz dafür sein könnte, dass dieser Bedeutungsraum womöglich gar nicht wirklich neu ist, sondern im christlichen Narrativ selber als unausgesprochener Subkontext bereits vorher da war.
Kylie Minogue mit ihrer Attitude, dem golden schimmernden Kleid und dem goldenen Herzen auf der Brust, sie verkörpert all jene visuellen Marker, die mit der zentralen Ikone der katholischen memory cultures verbunden sind: der Mutter Jesu. Diese wird in den christlichen Masternarrativen mit weiblicher Reinheit, Keuschheit und Jungfräulichkeit assoziiert und ist dort durchweg positiv besetzt. Die Schlangen, die Matrosen und die Engelsflügel hingegegen verweisen in andere Räume. Doch der Reihe nach. Kylie ist von fünf Schlangen sowie fünf runden Medaillons mit himmelblauem Hintergrund umgeben. Schlangen und Medaillons wechseln sich ab. Die fünfte Schlange steigt im Bild von unten nach oben. Sie wird von Kylie in die sich öffnenden Hände genommen, wodurch diese zum Symbol von phallischem Begehren und Penetration wird. In jedem der fünf Medaillons ist je eine männlich assoziierte Gestalt abgebildet. Obschon es fünf verschiedene Personen sind, die fotografiert respektive übermalt wurden, sehen sie aus wie geklonte, reproduzierte icons. Die großen weißen Vogelflügel verbreitern ihre Schultern optisch und lassen sie muskulös wirken. Die Form der Flügel erinnert an Engel, die in der christlichen Ikonographie meist als geschlechtslose Individuen wiedergegeben werden. Die fünf Kylie umgebenden Engel tragen weiße, eng sitzende Matrosenhosen. Ihre Oberkörper sind nackt. Auf dem Kopf tragen sie je eine Matrosenmütze. Diese visuellen Motive evozieren das Meer, die Welt der Seefahrt und der Matrosen.[19] Diese sind Bestandteil jener visuellen Zeichensysteme der Gay cultures, welche die Künstler Pierre und Gilles für ihre eigene Selbsterzählung verwenden. Das Künstlerduo hat sich immer zu seiner Homosexualität bekannt und sich in der Kunst wie im Leben als (romantisches) Paar abbilden lassen, so auch als Matrosenpaar. Die Farbe Blau, welche die Matrosen-Putten umgibt, greift jene kanonische Farbe der christlichen Ikonographie auf, welche dort der himmlischen Dimension der asexuellen Jungfrau Maria vorbehalten ist.
Halten wir fest: Hier verschmelzen memorial icons und visual short cuts der christlichen Ikonographie mit solchen der Pop und Gay cultures des 20. und 21. Jhds. Durch dieses künstlerische Crossmapping werden Weiblichkeit und Männlichkeit, Begehren und Lust, in einer Weise verhandelt, die que(e)r zu den binären, heteronormativen Masternarrativen, Auslegeordnungen und Bildtraditionen der christlichen Communities zu stehen scheinen. Während Kylie’s geöffnete Hände die fünfte Schlange empfangen, stellt sich die Jungfrau Maria auf den Kopf der Schlange bzw. tritt sie mit beiden Füssen, um sie zu töten. Sie ist gemäss diesem ikonographischen Kanon das lichtvolle Gegenüber zur weiblichen Eva, die sich dem Begehr und Rat der Schlange hingegeben hatte. In Pierre und Gilles‘ Vierge aux Serpants verschmelzen diese beiden biblischen Figuren zur Ikone Kylie, welche nicht nur mit ihrer Geste des Empfangens (des phallischen Symbols) der Schlange queere Lust jenseits heteronormativen Begehrens inszeniert und feiert.
4.
Genderperformanz und christliche memory cultures
Die bisherige Annäherung an die Vierge aux Serpants könnte zu dem (Fehl-) Schluss verführen, dass allererst solche postsäkularen Inszenierungen in der Kunst einen „neuen“ non-binären, genderfluiden Kontext schaffen und bleibend in einem strengen Gegenüber zum christlich-restriktiven sexualitäts- und lustfeindlichen, binären Narrativ verharren, demzufolge Gott den Menschen als Mann/männlich und als Frau/weiblich geschaffen habe (Gen 1:27 ). Wer und was aber als Mann/männlich und Frau/weiblich zu gelten habe, das wird gemäss dem Lehramt der römisch-katholischen Kirche immer noch durch „die“ Biologie definiert.[20] Dass aber die memory cultures der christlichen Communities durchaus Narrative und Auslegungstraditionen, Zeichen, Motive und icons kennen, die quer zu diesem prädominanten, heteronormativ-binären Genderkonzept stehen, darauf haben mich allererst diese und andere postsäkulare Gender-Performances in Kunst und Popkultur gebracht.
Zu nennen ist die Gender-Performance von Conchita Wurst [21] (*1988), Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2014, die auf frapppante Weise an die genderfluide Körperinszenierung der christlichen „Gründergestalt“ Jesus auf Heiligenbildern erinnert.[22]
Vielleicht darf man diese Heiligenbilder – mitsamt vielen anderen Beispiele, auf die hier nicht eigens eingegangen werden kann – gar als innerreligiöse Heterotopien bezeichnen und die weitergehende These aufstellen, dass die Ikonographien der christlichen, katholischen Communities weniger heteronormativ, weniger prüde und deutlich queerer und vielfältiger sind, als gemeinhin erwartet wird. Dies zeigt etwa das Crossmapping zwischen der Gender-Performance der amerikanischen Popsängerin Madonna (Louise Ciccione, *1958) und der Darstellung der christlichen Madonna als „Gnadenspenderin für die armen Seelen im Fegefeuer“. Leider haben wir keine Rechte für das Foto Madonna mit Paul Gaultier bekommen, im Internet jedoch ist es via Google leicht an mehrere Orten zu finden. Als Madonna 1992 auf der Fashion Show zugunsten von AmFar in Los Angeles an der Seite des Modedesigners Paul Gaultier auftrat, trug dieser eine schwarze Hose, ein Oberteil mit bretonischen Streifen und dazu eine schwarze Weste, während Madonna einen schwarzen Overall mit kreisrunden Aussparungen an beiden Brüsten anhatte.[23] Angesichts der zur Schau gestellten nackten Brüste, welche man mit Pornografie assoziierte, ging ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit. Selbst dreißig Jahre später waren Student:innen schockiert, als ich ihnen dieses Bild in meinem akademischen Seminar an der Universität zeigte. Ihr Befremden wurde zum Staunen, als ich dieses mit dem christlichen Marienbild der Maria delle Grazie aus dem 16. Jahrhundert in Beziehung setzte.
Nicht nur Schnitt und Ausschnitt der Kleidung, auch die entblößten Brüste sind sich ähnlich, wenn nicht sogar identisch. Aus den Brüsten der katholischen Madonna spritzt die Milch der Gnade in die offenen Münder der armen Seelen im Fegefeuer, die in einem Wolkenmeer zu schwimmen scheinen.[24] In Anwendung der Bronf‘schen Hermeneutik des Crossmapping als diagnostischem Werkzeug darf festgehalten werden, dass in diesen beiden icons, selbst wenn sie historisch nichts voneinander wissen (sollten), eine signifikante thematische und ästhetische Verbindung offenkundig ist. Es ist auch nicht auszuschliessen, dass Popikone Madonna explizit diese Anknüpfung gesucht hat. Versteht sie es doch nachgerade meisterlich, ikonische Figuren, Motive und Erzählungen aus christlichen (und anderen religiösen) Erinnerungskulturen aufzugreifen, zu appropriieren und neu zu verhandeln.[25]
Vier Beispiele müssen hier genügen: (1.) Wenn sie 1990 ihr Musikalbum The Immaculate Collection nannte, dann war der Rekurs auf das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens [Immaculate Conception] aus dem Jahr 1864 unverkennbar, jedoch nur für diejenige:n, die mit den Codes der katholischen Community vertraut waren. Inhaltlich feiert das Album den Verlust genau dessen, was dort mit diesem Dogma gemeinhin assoziiiert wird: die weibliche Jungfräulichkeit. (2.) Ganz ähnlich ging Madonna 1984 vor, als sie auf ihrem zweiten Studioalbum den Song sang: „ Like a virgin, touched for the very first time, like a virgin, with your heartbeat next to mine.”[26] (3.) In ihrem offiziellen Musikvideo zum Album Like a Prayer aus dem Jahr 2009 inszeniert sie die Figur des peruanischen Heiligen Martín de Porres Velzquez (1579-1639) und wird von ihm geküsst.[27] Als sie dann sein Messer berührt, entstehen an ihren Händen stigmataähnliche Wunden. (4) Im Rahmen ihrer Confession Tours trat Madonna 2006 vor einem riesigen, vollständig verspiegelten Kreuz auf und sang das Lied Live to tell. An diesem Kreuz hing sie mit horizontal ausgebreiteten Armen, auf dem Kopf eine Dornenkrone tragend sang sie, während Blutstropfen über ihr Gesicht liefen.[28] Unterdessen zählte eine Digitaluhr in rasantem Tempo bis auf 12 000 000, jener Zahl von afrikanischen Kindern, die durch AIDS zu Waisen wurden. Am Ende der Aufführung wurden Bibelverse über das Kreuz auf den Boden projiziert: „I was naked and you gave me clothing/I was sick and you took care of me/And God replied/ Whatever you did for one of the least of my brothers/you did it to me.” (Matthäus 25,35).[29] Diese Inszenierungen lösten heftigen Protest bei Teilen der katholischen Kirche aus, die dies als gotteslästerlich und gottlos ansah.[30]
Zwar kann und darf nicht davon ausgegangen werden, dass die hier aufgezeigten internarrativen ikonischen Bezüge zwischen Conchita Wurst und dem Nazarener-Christus, zwischen der Pop Ikone Madonna und der katholischen Madonna della Grazie für zeitgenössische Betrachter:innen im 21. Jahrhundert selbstevident sind. Insofern aber diese postsäkularen Popkulturen leichter zugänglich sind für Menschen, die in diesen beheimatet sind und sich ihnen ohne hermeneutische Leseanleitung erschliessen, haben diese das Potential als eyeopener zu dienen und eine erstmalige Beschäftigung damit anzuregen oder aber wie hier, der Anlass für eine wissenschaftlich texturierte, detektivische Relecture des collected memory und des cultural memory dieser religiösen Community unter dem Aspekt der Genderperformance zu sein.
5.
Eine Ausstellung im MoMA (2018)
“Heavenly Bodies. Fashion and the Catholic Imagination”
Das zeitgenössische Interesse an solcher Lektüre ist gross, wie die Ausstellung “Heavenly Bodies. Fashion and the Catholic Imagination” unter Beweis stellt. Sie fand 2018 im Museum of Modern Art in New York an den drei Orten The Met Cloisters, The Met Fifth Avenue und die Costume Institute Gallery statt. Das Ausstellungskonzept praktiziert genau das, was zuvor als Methode des Crossmappings zu beschreiben war: “Forged and fueled by stories and images, the Catholic imagination operates on a narrative level, which is where its power lies and its resonance is felt. Heavenly Bodies will express these narratives through a succession of conversations between medieval religious artworks and fashions of the twentieth and twenty-first centuries.“[31]
Die Ausstellung benutzte Originalobjekte – Kleidung von christlichen Nonnen, Mönchen oder Priestern sowie religiöse Bilder und Symbole – und zeigte, wie diese von berühmten Designer:innen des 20. Jahrhunderts bis heute reproduziert und neu definiert wurden. Interessant ist, dass die Mehrheit der in Heavenly Bodies repräsentierten Designer:innen in römisch-katholischen oder orthodoxen Glaubenstraditionen gross geworden sind. Auch wenn sie sich mittlerweile ganz von jedweder institutionellen Religion distanziert haben, so bilden christliche Zeichen, Symbole und Narrative die unausgesprochene Matrix ihrer Kreativität und Sensibilität.
Alle Exponate von Heavenly Bodies sind einen genaueren Blick und eine ausführliche Analyse wert. Hier möchte ich mich auf ein einziges Ausstellungsstück beschränken: ein Abendkleid aus der Kollektion des Fashion Labels Valentino aus dem Jahr 2014, welches jenes biblische Mastermotiv im Garten Eden zeigt, das wir bereits in Marina Abramovićs Performance Biography Remix sowie bei Pierre et Gilles‘ La vierge aux serpantes thematisiert haben. [32]
Als biblische Ur-Szene darf das Motiv des sog. Sündenfalls gelten, wo Eva auf das Flüstern der Schlange hin Adam einen Apfel vom verbotenen Baum der Erkenntnis zum Essen reicht. Der deutsche Renaissancemaler Lucas Cranach der Ältere (1472-1553) hat dieses Motiv in verschiedenen Variationen auf Leinwand gebannt. Seine Tafelwerke schmückten (ursprünglich) christliche Sakralräume aus Stein (Kirchen oder Kathedralen) um die Gläubigen an Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies zu erinnern.
Wenn eine dieser Variationen Lucas Cranachs nun vom Modehaus Valentio auf Stoff gedruckt wird, aus dem ein hochwertiges Abendkleid gefertigt wurde, was macht diese Ent-Kontextualisierung dann mit dem Motiv und dem Ursprungsnarrativ? Und wenn desweiteren dieses Kleid im MoMA unter dem Titel „Heavenly Bodies“ ausgestellt wird, was macht diese neuerliche Musealisierung dann mit dem Kleidungsstück? Die originären Themen der Reinheit, der Sünde, der sexuellen Keuschheit werden neu verhandelt, wenn diese Szene auf einen weiblich konnotierten Körper aus Fleisch und Blut gleichsam als zweite Haut geschrieben werden und nicht mehr den steinernen Körper eines Kirchenraums als Altarbild schmücken. Der weiblich konnotierte Körper wird gleichsam zu einer neuen Form von Kathedrale und sakralem Himmelsraum. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, nun zu sagen, dass hier das Masternarrativ lediglich ästhetisierend aufgelöst und als reines Zitat „gebraucht“ wird. Seine Präsentation auf dem Laufsteg und später im Museum kann doch auch als sublime und subversive Kritik und Relecture der Ursprungserzählung gelten.
6.
Herz Jesu, Regenbogen und der Heilige Sebastian
Selbstermächtigung von LGTBIQ+ Communities
Wie wir andernorts gezeigt haben, spielt das Heilige Herz Jesu in den visual memory cultures der katholischen Communities eine
zentrale Rolle .[33] Es fungiert dort als short cut und pars pro toto, das sich auf ein größeres Ganzes bezieht und dieses emblematisch – Dornenkrone, Lanzenstich, Kreuz – in und auf sich vereint: die Passion Jesu Christi. In post-säkularer Kunst, Pop- und Körperkulturen[34] sowie in der High-End-Fashion sind die Motive des Herzens Jesu (wie das seiner Mutter Maria) sehr präsent.
Neben dem vorwiegend ästhetisierenden, dekorativen Gebrauch im High-End-Fashion-Kontext durch die Modehäuser Gucci und Dolce und Gabbana[35] avancierte das Herz-Jesu-Motiv zu einem wichtigen (kirchen-) politischen Symbol der Selbstermächtigung von LGTBIQ+ Communities in Kirche(n) und Gesellschaften.
In Polen haben sowohl das Heilige Herz Jesu wie auch die Nationalheilige, die Schwarze Madonna von Tschenstochau, eine wichtige identitätsstiftende Funktion für die katholischen Gläubigen.[36]
Diese Verehrung wird auch von jenen Gläubigen geteilt, die sich der LGTBQ+ Community zugehörig wissen. Im Kampf für ihre politischen und religiösen Rechte tragen sie bei öffentlichen Kundgebungen in den Straßen Warschaus die Bilder beider bei sich und schmücken diese mit der Flagge in den Farben des Regenbogens. Damit werden diese Icons of faith zum Symbol des Widerstandes gegen jene Ultrakonservativen in der römisch-katholischen Kirche, die behaupten, dass Homosexuelle und Transgender-Personen die christlichen Werte von Ehe und Familie zerstören und des Satans sind.[37] Was hier geschieht kann als Prozess der Selbstermächtigung der LGTBQ+ Communties im Innenraum der christlichen Kirchen beschrieben werden, die christliche Botschaft von der umfassenden Liebe anders zu lesen als ‚die‘ Ultrakonservativen. Letztere wiederum sehen – so etwa America Needs Fatima – in der Aneignung der icons of faith durch die LGTBQ+ Communities nichts anderes als Blasphemie und rufen zur Verehrung des Herzens Jesu als Mittel zur
Bekämpfung des LGTBQ+ Prides auf.[38] „‘Pride’s’ radical ideology is built upon opposition to natural and spiritual life, a denial of natural reason and reality, and slavery to sin and death. ‘Pride’ month is truly the satanic response to the Church’s devotion to the Sacred Heart. The ‘Pride’ ideology opposes selflessness, purity, zeal for souls and conformity to the Divine Will of the Trinity.”[39]
7.
Der Heilige Sebastian: Gay icon und Queer Saint
Als Beispiel für eine subversiv-selbstermächtigende Appropriation eines christlichen icon of faith im Kontext homoerotischen Begehrens und queerer Identitäten darf der Heilige Sebastian gelten. Wie im März 2023 im Beitrag Verwundetes Begehren. Der Heilige Sebastian als Gay Icon und Queer Saint[40] gezeigt, wurde der Heilige Sebastian gerade nicht erst im 20. Jahrhundert als Emblem homoerotischen Begehrens gelesen, sondern bereits seit der Renaissance als schöner, junger, androgyner Mann dargestellt, der (homo-)erotisches Begehren repräsentiert und weckt. Doch erst im 20. Jahrhundert avancierte er zur expliziten Ikone verschiedener Gay Communities. Sie erst statteten ihn mit den visuellen Insignien von Meer, Seefahrt und Matrosen aus, die wir bereits oben im Werk von Pierre et Gilles La Vierge aux Serpants kennengelernt haben.[41] Als Folge der durch das HIV Virus ausgelösten Krankheit AIDS/SIDA, welche viele Menschen der Gay Communties in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts dahinraffte, wurde Sebastian in künstlerischen Performances und Objekten mehr und mehr zur ambivalenten Figur[42], um dann im 21. Jahrhundert namentlich von queeren Künstler:innen und LGTBIQ+ Aktivist:innen neu entdeckt zu werden. Das Londoner Kulturzentrum Horse Hospital wurde im Juli 2019 zur Plattform der Ausstellung Arrows of desire, wo Werke und Performances von 30 Künstler:innen gezeigt wurden.[43] In Gemälden, Textilien und Skulpturen, Performances und Videoinstallationen näherten sich die Künstler:innen der Figur Sebastians und versuchten seine Bedeutung an der Schnittstelle von Religion, Begehren und Verfolgung zu beleuchten. Sebastian wurde keineswegs nur “a subversive object of devotion for lots of queer artists and LGTB people, who are often rejected or abused by religious hierarchies”[44].
Er wurde nun auch in den christlichen Communities selber als queerer Heiliger und queere Ikone gelesen und re_ integriert. Die kanadische lesbische Pastorin der Metropolitan Community Church, Kittredge Cherry, hat seit 2009 mehr als hundert queere Heilige porträtiert und darüberhinaus eine „queere Theologie der Heiligkeit“ entwickelt. Sie ist sich bewusst, dass die Bezeichnung queere:r Heilige:r für manche:n wie ein Widerspruch in sich selbst erscheinen mag. Für sie selber ist die Bezeichnung jedoch eine praktische Kurzformel, um zu zeigen, dass Heiligkeit und LGBTIQ+-Identität sowie Sexualität und Spiritualität sich nicht gegenseitig ausschließen; sondern dass es stattdessen gelte, alle sexualitätsfeindlichen und unterdrückerischen Kirchendogmen hinter sich zu lassen. Darüberhinaus hält sie fest, dass alle Heiligen in dem Sinne als queer gelten können, als sie eine Alternative zur verordneten Heteronormativität, zur weltlichen Macht und zum Business as usual repräsentieren.[45] Genau das scheint auch der queere britische Künstler Tony O’Conell im Sinn gehabt zu haben, als er die klassische Litanei der römisch-katholischen Liturgie in eine Litanei der Queer Saints (um)geschrieben hat. In dieser wird der heilige Sebastian wie folgt angerufen:
“St. Sebastian, who strengthens the persecuted Pray for us …
St. Sebastian empowered to protect from plague and AIDS, Pray for us …
St Sebastian, loved and then abandoned by the Roman Emperor, Pray for us.
St. Sebastian, loved and increasingly abandoned by the Roman Church, Pray for us
St. Sebastian, Loved by our people, Pray for us …
Glorious Martyr and undefeated warrior,
we ask that you protect the persecuted
from tyrants and enemies.
Use your unstoppable energy
not to punish but only to humble
those who dedicate themselves to oppression and evil.”[46]
8.
(K)ein Schluss
Das itinerarum mentis meiner Ausführungen hat hier sein Ende gefunden. Und so ist dieser Schluss ein wirklicher Schluss. Ohne dass allerdings das Gesamt der gewonnenen Einsichten im Einzelnen aufgelistet werden kann und soll. Zugleich aber ist dieser Schluss kein Schluss; denn am Ende dieses kulturwissenschaftlich motivierten Erkundungsganges stehen wir an einem neuen Anfang. Die gewonnenen Einsichten lassen sich zwar in vier Thesen zusammenfassen. Sie verlangen aber nach einem zweiten Durch- und Reflexionsgang, wo die gewonnenen Einsichten im Horizont der Fragen nach Intersektionalität, Hybridität und Queerness präzisiert werden müssen.
These 1. Icons sind verwurzelt in Communities und sind als visuelle Embleme Teil des collected memory und stehen bisweilen sogar als pars pro toto für das identitätsstiftende collective memory als Ganzes. Diese icons auch in dieser Funktion lesen und verstehen zu können, hat zur Voraussetzung, dass der/die Betrachter:in entweder zur Community gehört oder aber zumindest um und über sie weiss.
These 2. Das postsäkulare Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, dass wir alle nicht nur verschiedenen Communities gleichzeitig angehören können, sondern es auch faktisch tun. Diese einzelnen Communities, denen wir angehören, können weder universale Geltung noch alleinige Deutungshoheit für ihre memorial icons voraussetzen respektive durchsetzen. Dies gilt auch für die visuellen Erinnerungskulturen von religiösen, institutionalisierten Communities; und damit auch für christliche Communities in ihrer institutionalisierten Form namens Kirchen.
These 3. Die Analyse von konkreten Beispielen hat gezeigt, dass Crossmapping nicht nur ein wissenschaftlich praktiziertes hermeneutisches Verfahren ist, sondern zugleich und zuallererst eine primäre künstlerische Praxis, welche werkimmanent internarrative und intervisuelle Bezüge zwischen verschiedenen icons herzustellen vermag. Das künstlerische Oeuvre – sei es eine Fotografie, eine Performance oder ein gemaltes Bild – zitiert dabei keineswegs lediglich „die“ vermeintlich ursprüngliche Bedeutung bzw. prädominante Auslegung des icons ‚der‘ Ursprungscommunities. Vielmehr vermag die künstlerische Rekomposition und Transformation, die Ursprungs- und Masternarrative gegen den Strich zu bürsten und andere, alternative Lesarten freizulegen, namentlich in Bezug auf die Konstruktion von Genderidentitäten und Begehren.
These 4. Diese anderen Lesarten sind keineswegs vermeintlich von ausserhalb der Communities kommende, blasphemische und den Ursprungssinn verdrehende Lektüren. Vielmehr legen sie ein Potential frei, das es innerhalb der Auslegetraditionen der Communities allererst zu entdecken gilt. Die künstlerischen Dekonstruktionen, Transpositionen und Neuinterpretationen gerade in Hinblick auf Gender und Identität ermutigen christliche Communities, neu auf das eigene kulturelle Gedächtnis zu blicken. Anders gesagt: die Kunstwerke werden zum eyeopener und darüberhinaus Anlass für eine wissenschaftlich motivierte und texturierte, detektivische Relektüre des collected memory und des cultural memory einer religiösen Community. Diese Relecture, so war zu zeigen, beinhaltet die Entdeckung, dass die visuellen Erinnerungskulturen der christlichen Communities und die damit verbundenen Masternarrative viel weniger heteronormativ und viel queerer sind als bisher angenommen.
These 5. Mit der in These 4 formulierten, affirmativen Konklusion, dass die visuellen Erinnerungskulturen der christlichen Communities viel queerer seien als angenommen, setze ich mich einem Verdacht aus, der wie folgt formuliert wurde. Wer sage, das Christentum sei immer schon irgendwie queer gewesen, laufe Gefahr, sich gemein zu machen mit jenen Repressionsmechanismen, die kirchlichen und theologischen Positionsbildungen (nicht nur) in den Fragen von Geschlecht und Begehren inhärent sind.[47] Das ist aber weder meine Absicht noch meine Sachposition. Mit meinen Thesen möchte ich keineswegs die Ambiguitäten und widersprüchlichen, christlich-theologischen Traditionen weichzeichnen oder gar einebnen. Noch will ich die Ausgrenzungen und Diskriminierungen, die Menschen bis heute in Kirche und Theologie erfahren, die sich als queer outen, kleinreden oder verschweigen. Was ich möchte und was an der Zeit ist, das hat das Manifest[48] der queeren Bewegung #outINchurch [49] treffend formuliert: „Diffamierende und nicht zeitgemässe Aussagen der kirchlichen Lehre zu Geschlechtlichkeit und Sexualität müssen auf Grundlage theologischer und humanwissenschaftlicher Erkenntnisse revidiert werden. Dies ist besonders in Anbetracht weltweiter kirchlicher Verantwortung für die Menschenrechte von LGTBIQ+ Personen von höchster Relevanz“.[50] Die Präsenz und Performanz queerer Lebensrealitäten in Kunst, Popkulturen und zumindest Teilen der visuellen, christlich-religiösen Erinnerungskulturen unterstreicht diese Dringlichkeit und Notwendigkeit. Sie stellt zugleich unter Beweis, dass dem Christlichen die Möglichkeit einer solcher Revision inhärent ist. „Eine Kirche, die sich auf Jesus und seine Botschaft beruft, muss jeder Form von Diskriminierung entschieden entgegentreten und eine Kultur der Diversität fördern“.[51]
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[1] Dieser Beitrag geht zurück auf die gleichnamige Keynote, die ich am 27. November 2021 im Rahmen der Tagung Gender and Postsecularity. Tensions and transformations of knowledge production and popular culture (verantwortlich Doris Guth und Sabine Grenz) an der Akademie der bildenden Künste Wien/Universität Wien online gehalten habe. Die bereits für 2022 in Aussicht gestellte englischsprachige Publikation der Tagungsbeiträge verzögert sich weiter, weshalb hier vorab eine aktualisierte deutsche Fassung publiziert wird.
[2] Lukas Laeilin, Andreas Telser, Ilaria Hoppe (Hg.), Bubbles & Bodies. Neue Öffentlichkeiten zwischen sozialen Medien und Strassenprotesten. Interdisziplinäre Erkundungen. (Bielefeld: transcript 2021); Wolfgang Beck, Ilona Nord, Joachim Valentin (Hg.), Theologie und Digitalität. Ein Kompendium. (Freiburg : Herder 2021); Viera Pirker, Paula Paschke (Hg.), Religion auf Instagram. Plattform-Content-User-Praxis. (Freiburg : Herder 2023); Cornelia Brantner, Katharina Lobinger, Gerit Götzenbrucker, Maria Schreiber (Hg.), Vernetzte Bilder. Visuelle Kommunikation in Medien. (Köln: Herbert von Halem 2020).
[3] Es war Gottfried Boehm (*1942), Kunsthistoriker an der Universität Basel (Schweiz), der den Begriff einführte und prägte. Gottfried Boehm, Was ist ein Bild? (München: Fink 1994); Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Das neue Buch zur Vorlesungsreihe. Christa Maar, Hubert Burda (Ed.). (Köln: DuMont 2004); Hubert Burda, Friedrich A. Kittler (al.) In medias res. Zehn Kapitel zum Iconic Turn. (Paderborn: Fink Verlag 2010). Dominic E. Delarue und Christoph Wagner (Hg.), Challenging the iconic turn. Positionen-Methoden.Perspektiven. (Berlin: De Gruyter 2023).
[4] Fast gleichzeitig tauchte im amerikanischen Wissenschaftskontext der von William John Thomas Mitchell geschaffene Begriff pictorial turn auf. William John Thomas Mitchell, Bildwissenschaft: Ikonologie, visuelle Kultur und Medienästhetik (Chicago, IL: University of Chicago 2015); William John Thomas Mitchell, Was wollen Bilder? Das Leben und die Liebe von Bildern . (Chicago, IL: University of Chicago 2005); William John Thomas Mitchell, Ikonologie: Bild, Text, Ideologie . (Chicago, IL: University of Chicago 1986); William John Thomas Mitchell, Die Sprachen der Bilder. (Chicago, IL: University of Chicago 1980).
[5] Boehm und Mitchell tauschten sich 2009 in zwei Briefen über die thematische Koinzidenz wie terminologische Varianz ihrer beider Schulen aus: Gottfried Boehm und William John Thomas Mitchell, Pictorial versus Iconic Turn: Two Letters. Culture, Theory and Critique , 50:2-3 (2009) 103-121.
[6] Vgl. Stephanie Rumpza, Phenomology of the icon: mediating God through the image. (Cambridge: Cambridge University Press 2023).
[7] Der Begriff Postsäkularität wurde 2004 vom Soziologen der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas, in einem Gespräch mit Joseph Ratzinger geprägt und sodann in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen übernommen und adaptiert. Man pflegt dort vom postsäkularen Zeitalter, der postsäkularen Wende, der postsäkularen Gegenwart, der postsäkularen Gesellschaft zu sprechen. Während für Jürgen Habermas (*1929), Postsäkularität in erster Linie die Verschiebung und die generische Unterscheidung zwischen „dem“ Religiösen und „dem“ Säkularen implizierte, richtete der kanadische Philosoph Charles Taylor (*1931) die Aufmerksamkeit auf die epistemologische Vielfalt und die Transformationen des Religiösen in zeitgenössischen postsäkularen Gesellschaften. Insofern der Begriff der Postsäkularität nachfolgend von uns verwendet wird, dann eher im Sinne Taylors, insofern es nachfolgend genau um den Aspekt der Transformationen und Wiederaneignungen des Religiösen geht, auf die sich Taylor konzentriert. Zum Gesamtkomplex siehe Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. (Frankfurt a. M./New York: Campus 2015).
[8] Elisabeth Bronfen, Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur (Zürich: Scheidegger & Spiess 2009), 8.
[9] Vgl. den 3-minütigen Videoclip der 1 ½-stündigenPerformance: https://festival-avignon.com/en/audiovisual/the-biography-remix-54948 (Aufruf 7. Juni 2022).
[10] Elke Pahud de Mortanges, Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums. (Zürich: TVZ, 2022), 100-111.
[11] Dies dokumeniert eindrücklich die derzeitige Abramović-Werkschau an der Royal Academy of Arts in London, die von Oktober 2024 bis Februar 2025 auch im Kunsthaus Zürich zu sehen sein wird. Vgl. Marion Löhndorf, Jetzt lässt sie andere leiden. Kunstschaffende stellen in einer Retrospektive die Performances der Schmerzensfrau Marina Abramović nach: Neue Zürcher Zeitung 21.Oktober 2023, S.39.
[12] Zu Abramović’s Verhältnis zu Religion und Religionen im allgemeinen und ihrer Verwurzelung im Orthodoxen Christentum vgl. Marina Abramović (mit James Kaplan), Durch Mauern gehen. Autobiographie. (München: Luchterhand, 2016).
[13]Marina Abramović/Michael Laub, Biography-Remix. Programmheft , https://festival-avignon.com/en/edition-2005/programme/the-biography-remix-27198#section-documents (Aufruf 6. Juni 2022). Entretien mit Marina Abramović, https://festival-avignon.com/en/edition-2005/programme/the-biography-remix-27198#section-documents (Aufruf 6. Juni 2022).
[14]Siehe https://festival-avignon.com/en/edition-2005/program; „Die Kunst der Marina Abramović.“ Die Welt (https://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/gallery128099336/Die-Kunst-der-Marina-Abramovic.html, Aufruf 31. Mai 2022); Rachel Gagnon, „Unapologetic: Künstlerinnen und Macht durch Vulnerability“, Art21 Blog (https://magazine.art21.org/2016/08/31/unapologetic-women-artists-and-power-through-vulnerability/ (Aufruf 31. Mai 2022).
[15] Was das Foto nicht zeigt: zunächst hielt sie in jeder (!) Hand eine Schlange, später dann nur mehr eine in ihrer rechten.
[16] Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Minoan_snake_goddess_figurines; https://artedea.net/schlangengoettin/; https://de.wikipedia.org/wiki/Minoische_Kunst; https://brefmagazin.ch/kolumne/kuratiert-von-beat-schneider/ (Aufruf alle 1. September 2023).
[17] Im Werk von Pierre Commoy (*1950) und Gilles Blanchard (*1953) spielen Mystik und Religion(en) eine zentrale Rolle. Ihren „öffentlichen Durchbruch“ hatten sie mit Porträts von Andy Warhol, Mick Jagger und Iggy Pop. Englische Wikipedia- Version (Aufruf 26. Juni 2022); Geschichte des Kitschs. Pierre und Gilles. Ein kleines, ehrenvolles Personal für zwei Géants der zeitgenössischen Fotografie, vgl. https://tutuxme.tumblr.com/post/150957900624/religion (Aufruf 25. Oktober 2021).
[18] Kylie Ann Minogue. Englische Wikipedia- Version (Aufruf 31. Mai 2022).
[19] Auf das Motiv der Seefahrt/Matrosen kommen wir rund um den Heiligen Sebastian weiter unten zu sprechen. Siehe bereits Elke Pahud de Mortanges, „Verwundetes Begehren“. Der Heilige Sebastian als gay icon und queer saint: Neue Wege 3 (2023) 11-15.
[20] Die nachfolgenden Bemerkungen spiegeln nicht meine Sicht wieder. Ich referiere lediglich die Binnenlogik einer bestimmten Lesart, welcher das Konzept einer ontologisch-naturalistisch gedachten Biologie zugrundliegt, wonach gilt: Ein Mann ist ein Mensch mit einem Penis. Eine Frau ist ein Mensch mit einer Vulva. Wer biologisch ein Mann ist, muss sich wie ein Mann fühlen (psychologische Rolle) und wie ein Mann verhalten und kleiden (soziale Rolle). Es gibt nur eine legitime und natürliche Form des Begehrens, des Liebens und der Ehe (Mann liebt Frau, Frau liebt Mann). Die offizielle römisch-katholische Lehre sieht diese heteronormative Binarität in der Schöpfungsordnung Gottes verankert. Gleichgeschlechtliche Liebe und Ehe gelten als widernatürlich und sind bis heute verboten. Diese Logik spiegelt sich auch im Ausschluss von Frauen vom Priesteramt. Vgl. Jacci Maraschin. “Worship and the Excluded”. Liberation Theology and Sexuality, ed. By Marcella Althaus-Reid. (London: SCM Press 20092), 163-177, besonders 174-175. Maraschin spricht von der phallozentrischen Hierarchie der katholischen Kirche, die sie auf die zugespitzte Formel bringt: “no penis, no priest”. “If any candidate for holy orders did not have a penis he could not be a priest (…).” Siehe dazu auch Elke Pahud de Mortanges, Bodies of Memory and Grace (wie Anm. 10), 142-146.
[21] Tom Neuwirth (*1988) trat 2011 als Kunstfigur Conchita Wurst in die Öffentlichkeit. Nach dem Gewinn des 59. Eurovision Song Contest in Kopenhagen (2014) war das öffentliche Interesse an ihm/ihr groß. Als er/sie 2018 erpresst wurde, gab er/sie öffentlich bekannt, dass er/sie seit Jahren mit HIV infiziert sei. 2019 verabschiedete sich Conchita Wurst vom bisherigen Konzept, als Drag Queen aufzutreten. Sie/er nannte sich fortan WURST, trug ihre/seine Haare kurz und betonte ihr/sein maskulines Aussehen mit dem Namen. Im Jahr 2021 erschien eine neue Single mit dem Titel Malebu unter dem Namen Conchita WURST, Wurst geschrieben in Majuscula. Siehe „Conchita Wurst“. Wikipedia , deutsche Version (Aufruf 1. Juni 2022). Vgl. auch Conchita Wurst. Ich, Conchita – Meine Geschichte. Wir sind nicht aufzuhalten (München: LangenMüller 2015).
[22] Elke Pahud de Mortanges. “Be a somebody with a Body. Christus-Heterotopien in Kunst und Kommerz des 20. und 21. Jahrhunderts.“ Orte und Räume des Religiösen (19. – 21. Jahrhundert), ed. Franziska Metzger and Elke Pahud de Mortanges (Paderborn: Schöningh Verlag 2016), 99–109.
[23] Leider war auch diese Fotografie nicht für diesen Beitrag verfügbar. Sie ist aber bei Daisy Murray, Jean Paul Gaultier’s Most Iconic Moments. From Madonna’s Cone Bra To All Things Breton. January 22, 2020 einsehbar; ebenso auf https://www.elle.com/uk/fashion/g30595582/jean-paul-gaultier-most-iconic-moments/ (Aufruf 7. Juni 2022), slide 13. Ebenso Lucy O’Brien, Madonna. Like an icon. The Definitive Biography. (London: Bantam Press 2007), 222-223.
[24] Elke Pahud de Mortanges, „Body@Performance und Gedächtnis. Zur Anatomie des Heils in den Erinnerungskulturen des Christentums.“ Zeitschrift für Kirchliche Zeitgeschichte, 31 (2018): 348-362, 358.
[25] Georges-Claude Guilbert. Madonna als postmoderner Mythos. Wie die Selbstkonstruktion eines Stars Sex, Geschlecht, Hollywood und den amerikanischen Traum neu schreibt . (Mc Farland & Co: Jefferson/North Carolina 2002); Dieter Wunderlich. Unerschrockene Frauen. Elfenporträts. (München: Piper 2013), 253-276.
[26] „Madonna, der Popstar, erschien als herausforderndes Abbild einer antiken Ikone des 20. Jahrhunderts. Wo die traditionelle Jungfrau Bescheidenheit und Reinheit symbolisierte, predigte diese Madonna sexuelle Ermächtigung und Spiritualität […]. Die Bedeutung einer Frau namens Madonna, die die Worte ‚Like a Virgin‘ singt, konnte nicht heruntergespielt werden, ebenso wenig wie die Wirkung kleiner Mädchen auf der ganzen Welt, die mit ihr mitsingen.“ Lucy O’Brien. Madonna. Like an Icon (London: Bantam Press 2007), XIV.
[27] Siehe das offizielle Video (27.10.2009), https://www.youtube.com/watch?v=79fzeNUqQbQ Minute 1:43 bis 2:05 (Aufruf 7. Juni 2022)
[28] Madonna Confession Tours (17.05.2015), https://www.youtube.com/watch?v=liXbh4lZRmk, Minute 26:23 – 29:50 (Aufruf 7. Juni 2022); Lucy O’Brien. Madonna. Wie eine Ikone. Die endgültige Biographie . (London: Bantam Press 2007), 286-287.
[29] Ebd. „Ich war nackt und du hast mir Kleidung gegeben/Ich war krank und du hast dich um mich gekümmert/Und Gott antwortete/Was auch immer du für einen der Geringsten meiner Brüder getan hast/Du hast es mir angetan“.
[30] Madonna takes cross show to Rome, BBC News, August 7, 2006, ws.bbc.co.uk/2/hi/entertainment/5251614.stm (Aufruf 7. Juni 2022). “The pop star says the section of her Confessions show when she wears a crown of thorns and is raised on a cross is part of an appeal for Aids charities. But Father Manfredo Leone of Rome’s Santa Maria Liberatrice church said it was ‘disrespectfull’ and ‘in bad taste’. […] Vatican Cardinal Ersilio Tonino, who spoke with the approval of the Pope, called the concert ‘a blasphemous challenge to the faith’ and a ‘profanation of the cross’. He also called for Madonna, who raised as a Catholic, to be excommunicated.” See as well Madonna begeistert Römer mit Kreuz und Krone, 7th August 2006, https://rp-online.de/kultur/musik/madonna-begeistert-roemer-mit-kreuz-und-krone_aid-17356007 (Aufruf 7. Juni 2022): “Von Seiten der katholischen Kirche hagelte es Proteste […]. Allen Protesten zum Trotz erschien sie vor einem verspiegelten Kreuz und mit einer Dornenkrone auf der Bühne des Olympia-Stadions. […] Zu ihrem Konzert hatte Madonna den Papst eingeladen, um auf die harsche Kritik der katholischen Kirche zu reagieren. Benedikt XVI. war nicht erschienen.“ See as well Gotteslästerung. Madonna gekreuzigt (7th August 2006), n-tv Archiv, https://www.n-tv.de/archiv/Madonna-gekreuzigt-article194300.html (Aufruf 7. Juni 2022).
[31]Andrew Bolton/Wendy Yu. The Metaphorical Nature of Creation: Fashion and the Catholic Imagination. (April 23, 2018). https://www.metmuseum.org/blogs/now-at-the-met/2018/heavenly-bodies-fashion-catholic-imagination-introduction (Aufruf 20. November 2021).
[32]Siehe die Abbildung im Ausstellungskatalog Andrew Bolton, Fashion and the Catholic Imagination . (New York: Metropolitan Museum of Art 2018), II, 254-255.
[33] Elke Pahud de Mortanges. “The Sacred Heart as Memorial Body. An Analytic Approach to its Somatic Presentations and Bodily Appropriations in Devotion and Art” in Memory, Body, Image, Text. Continuities and Discontinuieties, ed. Franziska Metzger and Stefan Tertünte (Köln: Böhlau Verlag, 2020), 61-87.
[34] Zur Bearbeitung des Motivs in spätmodernen Körperkulturen vgl. Paul Henry Campbell. Tatoo & Religion. Die bunten Kathedralen des Selbst (Heidelberg: Wunderhorn, 2019), dazu die Besprechung auf https://www.feinschwarz.net/paul-henri-campbell-tattoo-religion-die-bunten-kathedralen-des-selbst/ (Aufruf 24. Oktober 2023).
[35]Dolce und Gabbana haben in ihrer 2018 lancierten Kollektion Devotion Bag verschiedene Sacred Heart Bags entworfen: Taschen in Form eines Herzens, mit dem Sacred Heart Motiv bedruckt oder einem herzförmigen Verschluss mit den Initialen des Modehauses DG. https://www.elle.com/uk/fashion/a22088125/dolce-gabbana-devotion-bag-things-to-know/ (Aufruf 26. September 2023).
[36] Die polnischen Bischöfe weihten das Land erstmals im Jahr 1920 dem Heiligen Herzen Jesu; 1951, 1976, 2011 und 2021 wurde diese Weihe explizit erneuert.
[37] Ultrakonservative religiöse Fanatiker:innen versuchen in Polen alle Regenbogenmanifestationen in der Öffentlichkeit zu unterbinden, indem sie sogar sogenannte LGTBQ+-freie Zone ausrufen. Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/LGBT-free_zone (Aufruf 7. September 2022).
[38] „Instead of focusing on LGBT distortions of love, a devotion to the Sacred Heart allows us to turn to God as the proper end of all endeavors and our highest good. Devotion to the Sacred Heart and the Immaculate Heart of Mary can be the remedy for our postmodern society that hardens its heart by practicing every imaginable vice to the point of blaspheming God and killing the innocent unborn. We desperately need devotion to the Sacred Heart if we are to have any hope of turning back to God.” America Needs Fatima, Devotion to the Sacred Heart is one of the Best Ways to Combat the LGTB Ideology (May 24, 2022), https://americaneedsfatima.org/blog/sacred-heart-vs-pride-month (Aufruf 20. September 2023).
[39] Ebd.
[40] Elke Pahud de Mortanges, „Verwundetes Begehren“. Der Heilige Sebastian als Gay Icon and Queer Saint”. Neue Wege 3/4 (2023), 11-15; siehe auch den grundlegenden Beitrag von Irene Ulrich, “Der heilige Sebastian: vom christlichen Märtyrer zur homosexuellen Utopie,“ in: Orte und Räume des Religiösen im 19.-21. Jahrhundert, ed. Franziska Metzger und Elke Pahud de Mortanges (Paderborn: Schöningh 2016), 207-222. Die religiöse Erzählung geht auf das 3. Jh. n.Chr. zurück. Sebastian war ein römischer Soldat und Märtyrer, der die Stadt Rom im 7. und 14. Jahrhundert vor der Pest und anderen Seuchen geschützt haben soll. In der christlichen Ikonographie wird er stets mit Pfeilen im Körper dargestellt, die im ursprünglichen Kontext auf die Art und Weise hinweisen sollen, wie er vermeintlich (!) wegen seines christlichen Glaubens zu Tode kam.
[41] So im Werk des französischen Malers Alfred Courmes (1898-1993) wo der Matrose Sebastian keine Hosen trägt und seine Genitalien entblößt: Alfred Courmes, Saint Sébastian, 1934, Centre Pompidou © Photo https://saint-sebastien.net/tableau/137-alfred-courmes-saint-sebastien-autoportrait© https://www.centrepompidou.fr/en/ressources/oeuvre/LlZobtn. An genau diesen Matrosen-Code knüpfen Pierre und Gilles in ihrem Kunstwerk La Vierge aux Serpants an.
[42] So zum Beispiel in der Kunstperformance von Ron Athey (*1961) auf der Borderline Biennale 2001 in Lyon. Seine Performance „Sebastian Suspended“ ist eine neue Version dessen, was zuvor als Solostück in Clubs und Kunstsituationen präsentiert wurde. ronatheynews.blogspot.com/2011/07/ron-athey-at-borderline-bienalle.html (Aufruf 16. Juni 2022). The American performance artist “explores challenging subjects like the relationships between desire, sexuality and traumatic experience. Many of his works include aspects of S&N in order to confront preconceived ideas about the body in relation to masculinity and religious iconography.” Ron Athey. Wikipedia, English version ( Aufruf 16. Juni 2022).
[43] Arrows of desire, https://www.thehorsehospital.com/events/arrows-of-desire’Arrows of Desire‘ (Aufruf 15. Dezember 2022).
[44] See https://qspirit.net/saint-sebastian-gay-icon/ (Aufruf 15. Dezember 2022).
[45] “Naming someone a ‘queer saint’ may seem like a contradiction in terms to some, but it is a liberating act in two ways: The most obvious one is that revealing the hidden queer sexual orientation or gender identity of traditional saints can liberate people from sex-negative, oppressive church dogmas. Secondly revealing the unseen ‘saintliness’ of seemingly secular LGBTQ people can liberate people from the tyranny that says sexuality must be separate from spirituality. Phrases like ‘queer saint’ become a handy shorthand — neatly challenging the assumption that sainthood and LGBTQ identity are mutually exclusive. All saints are queer in the sense that they are counter-cultural, presenting an alternative to compulsory heteronormativity, worldly power, and business as usual.” Kittredge Cherry, Why we need LGTBQ saints: A queer theology of sainthood, November 1, 2022. https://qspirit.net/why-we-need-lgbtq-saints/ (Aufruf 15. Dezember 2022).
[46] https://qspirit.net/saint-sebastian-gay-icon/ (Aufruf 15. Dezember 2022). Vgl. dazu Elke Pahud de Mortanges, “Verwundetes Begehren. Der Heilige Sebastian as Gay Icon und Queer Saint”. Neue Wege 3/4 (2023), 11.
[47] Andreas Krebs. Gott queer gedacht (Echter : Stuttgart 2023), 12-15.
[48] Das sieben Punkte umfassende Manifest ist abgedruckt bei Michael Brinkschröder/Jens Ehebrecht-Zumsande/Veronika Gräwe/Bernd Mönkebüscher/Gunda Werner (Hg.), #outINchurch. Für eine Kirche ohne Angst. (Freiburg i. Br. : Herder 2023), 26-27.
[49] Am 24. Januar 2022 outeten sich 125 Mitarbeiter:innen der römisch-katholischen Kirche als schwul, lesbisch, bi oder queer und veröffentlichten ein sieben Punkte umfassendes Manifest: „Wir sind’s! Es wurde viel über uns gesprochen. Nun sprechen wir selbst.“ Mittlerweile sind viele Unterstützer:innen dazugestossen. 2023 hat sich die Bewegung die Rechtsform eines Vereins gegeben. Alle Informationen auf der Website https://www.outinchurch.de. Martin Niekamper hat Menschen, die zur Bewegung gehören, im Rahmen eines Fotoprojektes porträtiert. (Gut.Katholisch.Queer. Eine Porträtserie zu #outINchurch. Pliezhausen 2023). Darin Elke Pahud de Mortanges. Innenansichten aus dem Da_Zwischen. Im Gespräch mit Martin Niekaempers Porträtserie. Ebd. (keine Paginierung).
[50] Manifest Punkt 6, in: Michael Brinkschröder/Jens Ehebrecht-Zumsande/Veronika Gräwe/Bernd Mönkebüscher/Gunda Werner (Hg.). #outINchurch. Für eine Kirche ohne Angst. (Freiburg i. Br. : Herder 2023), 26.
[51] Ebd. 27.
Porträtbild: Elke Pahud de Mortanges, Foto: © Ruben Hollinger.