Sollte Theologie im öffentlichen Diskurs mitmischen oder ist sie gar per se öffentlich? Lia Alessandro auf den Spuren theologischer Selbstverständigungsprozesse.
„Theologie ist blass geworden. Man hört von ihr kaum“.[1] Mit diesen Sätzen leitet Bernhard Grümme, Professor für Religionspädagogik und Katechetik, sein kürzlich erschienenes Plädoyer für eine Öffentliche Politische Theologie ein und macht dabei deutlich: In den öffentlich-rechtlichen Medien seien Theolog*innen kaum noch präsent. In Anbetracht der aktuellen kirchenpolitischen Geschehnisse verwundert es kaum: Nur noch zwei von zehn Menschen sprechen Religion/ Religiosität noch eine Bedeutung zu, so zeigt jüngst eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Aus der Außenperspektive säkularer (nicht-religiöser) Vorstellungswelten scheint es nicht mehr „up to date“ religiös, geschweige denn kirchenfreundlich gestimmt zu sein. Dass religiöse Subjekte in öffentlichen Debatten dabei oft als „Andere“ problematisiert werden und ihre Auffassungsperspektiven unerwünscht zu sein scheinen, bleibt oft unthematisiert. Angesichts dieser Entwicklungen drängt sich die Frage auf, inwiefern Theologie heute noch ihren öffentlichen Geltungsanspruch und gesellschaftliche Relevanz reflektieren kann. Eine mögliche Antwort bietet das Paradigma „Öffentliche Theologie“, insbesondere derjenigen nach David Tracy.
Öffentliche Theologie
Begriffsgeschichtlich lassen sich Auseinandersetzungen um den öffentlichen Geltungsanspruch von Theologie und Religion auf die US-amerikanische Debatte der 70er Jahre um eine Civil Religion sowie im deutschsprachigen evangelischen Raum um die Diskussion der Neuen Politischen Theologie zurückführen. Den US-amerikanischen Diskurs prägte maßgeblich der ehemalige Chicagoer Kirchenrechtler Martin E. Marty, der den Begriff der Public Theology von dem der Civil Religion abgrenzte. Mit dem Begriff des public theologian sprach er ersterer im Spannungsfeld von Religion und Öffentlichkeit eine gesellschaftskritischere Bedeutung zu.[2] Auch der röm.-katholische Theologe David Tracy reagierte auf die Tendenz der Privatisierung von Religion mit einem Versuch, partikulare Klassiker als Sinn- und Wahrheitsressource im Kontext pluralistischer Gesellschaften öffentlich zugänglich zu machen, um dabei bewusst und kritisch über die (göttliche) Realität nachzudenken und zu sprechen. Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich parallel dazu die Debatte mit einer stärkeren Akzentuierung auf der Diskussion um und Kritik an der Neuen Politischen Theologie.[3] Bis in die Gegenwart führte die Auseinandersetzung um eine öffentliche und politische Dimension von Theologie, Religion und Kirche zu einer Vielfalt und Offenheit an Ansätzen, die eine konkrete Definition des Paradigmas „Öffentliche Theologie“ erschweren. Dennoch kann laut des evangelischen Theologen Florian Höhne festgehalten werden: „Fast jede Theologie aus Gegenwart und Geschichte kann im weiteren Sinne auch als Öffentliche Theologie bezeichnet werden“.[4] Ausschlaggebend, trotz unterschiedlicher Definitionen und Schwerpunktsetzungen, sei die „Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in die Öffentlichkeiten der Gesellschaft hinein“, welches eine „orientierend-dialogische Partizipation an öffentlichen Debatten“ impliziere.[5] Ziel sei es, wirklichkeits- und traditionshermeneutisch den öffentlichen Charakter von Theologie zu bedenken und dabei sowohl am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als auch dessen Bedingungen zu reflektieren.[6]
„All theology is public discourse“
Bekannt als der zweite „Gründungsvater“ der US-amerikanischen Public Theology rückte David Tracy Theolog*innen in ihrem Wirken in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Seine grundlegende Behauptung „All theology is public discourse“ unterlegte er dabei zunächst mit einer wissenssoziologischen Analyse und unterschied drei relevante Öffentlichkeiten – Gesellschaft, Akademie (Wissenschaft) und Kirche. Jede*r Theolog*in bewege sich in diesen unterschiedlichen Öffentlichkeiten und sei mit jeweilig unterschiedlichen Plausibilitätsstrukturen konfrontiert, welche wiederrum Rückkopplungseffekte auf die eigene Theologie hätten. Aus soziologischer Perspektive könne demnach jeder theologische Diskurs als öffentlich betrachtet werden, weil er Ausdruck eines bestehenden komplexen Wechselverhältnisses zwischen den Plausibilitätsstrukturen und den Öffentlichkeiten sei. In seinem theologischen Argument knüpfte David Tracy den Öffentlichkeitsanspruch von Theologie an den theozentrischen Charakter der Theologie selbst. Ein Drang zur Öffentlichkeit müsse im Nachdenken über die göttliche Realität in allen Theologien gegenwärtig sein, da jede ernsthaft theozentrische Realitätsdeutung Öffentlichkeit verlange und prinzipiell für jede Person vernünftig erschließbar sein müsse.[7]
Möglichkeiten und Grenzen
Jeder theologische Diskurs kann als öffentlich bezeichnet werden, weil er sich mit den fundamentalen Fragen und potenziellen Antworten menschlichen Daseins beschäftigt.[8] Stehen Theolog*innen dabei in der Verantwortung sich gegenüber Kirche, Gesellschaft und Wissenschaft an den öffentlichen Debatten zu beteiligen, dann erfordert dies eine Reflexion der eigenen Überzeugungen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft. Öffentliche Theologie kann hierbei einen Dialog zwischen Theologie und anderen Disziplinen ermöglichen und theologische Einsichten in aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen einbringen. Religiöse Perspektiven müssen dabei aktiv in öffentliche Diskurse integriert werden. Dies kann nur geschehen, wenn sich nicht nur Theolog*innen, sondern die Gemeinschaft aller Forschenden ihrer Wechselwirkungen der Plausibilitätsstrukturen bewusst werden und diese in den gesellschaftlichen Dialog miteinbeziehen. Um nicht der Gefahr einer Instrumentalisierung zu erliegen sind zwei Faktoren ausschlaggebend: das Einlassen aller Beteiligten auf die Pluralität der Perspektiven angesichts der Vielfalt von Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen sowie auf die kontextuellen Herausforderungen in ideologiekritischer Absicht. Sodann kann sich Öffentliche Theologie als eine Theologie formulieren, die in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten kritisch und produktiv-konstruktiv agiert und sich dabei „im Sinne einer den Gottgedanken bezeugenden Reich-Gottes-Praxis der Solidarität, der Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit und Gottesebenbildlichkeit, der Gerechtigkeit und geschenkten Identität“[9] aktiv einbringt.
Lia Alessandro, seit Dezember 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Fundamentaltheologie und Philosophische Anthropologie der Universität Freiburg i. Brsg.; seit 2022 Doktorandin der Religionsphilosophie an der Professur für Theologie in globalisierter Gegenwart der Goethe-Universität Frankfurt. Lia Alessandro hat Katholische Theologie, Philosophie und Germanistik studiert.
[1] Bernhard Grümme, Öffentliche Politische Theologie, Freiburg im Breisgau 2023, 11.
[2] Vgl. Staatslexikon Online, Öffentliche Theologie, verfügbar unter: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/%C3%96ffentliche_Theologie (Zugriff vom 22.11.2023).
[3] Für einen Überblick in die Begriffsgeschichte und Grundlagen der Öffentlichen Theologie siehe die Dissertation von Florian Höhne „Personalisierung in den Medien als Herausforderung für eine evangelische Öffentliche Theologie der Kirche“, Leipzig 2015.
[4] Florian Höhne, Öffentliche Theologie, Leipzig 2015, 11.
[5] Vgl. Florian Höhne, Öffentliche Theologie, in Ethik-Lexikon, verfügbar unter: https://www.ethik-lexikon.de/lexikon/oeffentliche-theologie (Zugriff vom 22.11.23).
[6] Vgl. Höhne 2015, 40.
[7] Vgl. David Tracy, Eine Verteidigung des öffentlichen Charakters der Theologie 1975, in: Floria Höhne/ Frederike van Oorschot (Hg.): Grundtexte Öffentlicher Theologie, Leipzig 2015, 37-49.
[8] Vgl. David Tracy, Religion im öffentlichen Bereich: Öffentliche Theologie, in: Ansgar Kreutzer und Franz Gruber (Hg.): Im Dialog. Systematische Theologie und Religionssoziologie, Freiburg 2016, 189-207.
[9] Grümme 2023, 220.
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