Ist es so fehl am Platz, das Kirche-Sein in den Mittelpunkt zu rücken? Im Meinungsaustausch unter Theologen-Kollegen bezieht Daniel Bogner eine dritte Position.
Eine neue Kirchenstudie erscheint, zwei Theologen versteigen sich zu allerlei Polemiken gegen die eigene Zunft, erklären das Thema «Kirche» für zentral – und lösen damit vehementen Widerspruch bei zwei weiteren Kollegen aus. Beide Seiten kämpfen mit offenem Visier: Polemiken gegen die angeblich notorischen Kritikaster aus der Theologenschaft hier, Absetzung vom «typisch katholischen Reflex» dort. Die Widerrede meiner beiden Feinschwarz-Kollegen zielt darauf, die «grundstürzenden Transformationsprozesse von Religion in (spät-) modernen Gesellschaften» würden von der Kirchenstudie, und dann auch von Jan-Heiner Tück und seinem evangelisch-theologischen Kollegen Ulrich Körtner nicht angemessen wahrgenommen. Was ist mit neuen Suchbewegungen, individueller Religiosität, religiösen Haltungen, Sinnfragen und den «Transzendenzdispositionen» der Menschen? Und vor allem: Kirche dürfe nicht auf die kirchlich verfassten Orte reduziert werden.
Kirche ist natürlich ein Thema!
Die Debatte löst in mir ein doppeltes Unwohlsein aus. Dass die Wiener Kollegen eine ganz bestimmte, etabliert-lehramtliche Gestalt von Kirche im Sinn haben, deren Rolle in der theologischen Arbeit sie betont sehen wollen – das mag vielleicht sein. Wenn das ungebrochen so ist, hielte ich es für problematisch, so wie die Autoren der Gegenrede das tun. Pauschale Polemiken zu streuen ist ja auch nicht gerade eine Geste der Gemeinschaftsbezogenheit, die Tück und Körtner so sehr betonen.
Aber bei aller notwendigen Kritik: Ich glaube, in einem wesentlichen Punkt haben Tück/Körtner recht. Man muss den Einspruch allerdings befreien von der lehramtlichen Einhüllung, mit der eine richtige Wahrnehmung überzogen ist. Der Punkt, um den es mir geht, ist die Kirchlichkeit der Theologie. Ich stehe dazu: Wenn die Theologie sich nicht bewusst und aktiv einschreibt in eine gemeinschaftliche Praxis und sich in Bezug auf eine solche begreift, dann hat sie ihre Rolle nicht gefunden.
In Geschichten verstrickt – kein Sinn ohne Erzählungen, ohne Gemeinschaft kein Erzählen…
«Wir sind in Geschichten verstrickt» – so erklären Philosophen wie Paul Ricœur oder Wilhelm Schapp Menschsein, menschliche Identität und die Prozesse der Sinnbildung. Wir leben in und aus Geschichten, und zwar in Form von wirklich erzählten und gehörten Geschichten, aber auch durch die narrative Tiefenstruktur von Alltag und Praxis selbst. Aufnehmend und empfangend, reagierend, Empfangenes verarbeitend und weitergehend – so bildet sich heraus, wie wir uns selbst sehen und verstehen, was wir tun und denken und wie wir diese Welt gestalten können.
Solche grundständige Narrativität ist immer leibhaft-körperlich. Manche sprechen von der «Geschichtenkonfiguration des Leibkörpers».[1] Gemeint ist: Nur weil wir Leib sind, können wir überhaupt Teil und Mitwebende des narrativen Textes sein, der die Wirklichkeit ausmacht. Der Leib und seine Sinne verbinden uns mit denen vor uns (Erinnerung und Gedächtnis), denen mit uns (Sprache und Kommunikation) und denen nach uns (als «fehlende» Körper, die Spuren hinterlassen). Spracherwerb, kommunikative Praxis und Narrativität sind per se auf Gemeinschaft angewiesen: Das Miteinandersein und der Austausch mit anderen sind der Modus, in dem überhaupt Sinn und (auch moralisch-ethische) Identität wachsen können. In Geschichten verstrickt zu sein bedeutet: sich der anderen nicht entledigen zu können, mit ihnen zu sein, auf sie verwiesen zu sein. Die anderen «sind» Geschichte, indem wir mit ihnen sind. Und zugleich setzen wir uns Geschichten aus, die uns prägen. Wir können mitentscheiden, welche Geschichten das sind.
Die notwendige Erzählgemeinschaft im Glauben = Kirche
«Kirche» ist ein anderes Wort eben dafür: dass man – auch im Glauben – notwendigerweise mit anderen ist; dass wir uns den Geschichten vom gerechten und barmherzigen Gott, seinem* Befreiungshandeln, seinem* Bund, dem er* treu bleibt, aussetzen und davon prägen lassen wollen. Biblisch wird sichtbar: Gott wählt sich ein Volk, an das er sich bindet. Sein Wort fordert Antwort heraus, und dieses Antworten ist immer vielstimmig – weil es darum geht, ihm ein «Volk» zu sein, eben eine Gemeinschaft zu bilden, die füreinander sorgt, in der besonders auf die geschaut wird, die am Rande stehen, die um das angemessene Echo auf das erste Wort ringt. Biblischer Glaube kann nur kirchlich sein: gemeinschaftsbildend und als Gemeinschaft in der Nachfolge. «Der andere fehlt», so drückt es Michel de Certeau aus – aber dieses Fehlen fordert eben zu einer kommunitären Praxis heraus: Da kein einzelner Ausdruck als ein Echo auf das erste und gründende Gotteswort diesem ganz gerecht werden kann, braucht es der Vielfalt von Nachfolgegestalten, des stets neuen Sich-Erzählens, wie dieses gründende Wort zu verstehen ist und was es bedeutet.
Was ist das, der «typisch katholische Move»?
Ein Glaube, der narrativ ist und zum Erzählen auffordert, der Erzählgemeinschaften stiftet und der in dieser narrativen Gestalt kommunitär ist, bringt das Kirchenthema notwendig auf die Tagesordnung. Ich frage mich, wie diese Art von Gemeinschaftsbildung heute funktionieren kann – und das ist der erste Gedanke, wenn ich das Plädoyer von Tück und Körtner vernehme. Ich übernehme das Wort von Bucher/Schüssler, übertrage es allerdings und möchte fragen: Ist es nicht vielleicht der „typisch katholische Move“, wenn man das Christentum als biblisch verpflichtete Lese- und Lebensgemeinschaft begreift?
Das ist mein erster Gedanke, weil die Herausforderung so zentral ist, und keineswegs trivial: Wie kann es gelingen, in einer sich säkularisierenden Gesamtlage religiöse Gemeinschaftsbildung (= Kirche) überhaupt zu ermöglichen und zu initiieren? Schon klar, wir müssen differenziert über Säkularisierung reden und abnehmende Kirchenmitgliedschaft, die sich allein an institutionellen Zugehörigkeitsmerkmalen bemisst, ist nicht gleichzusetzen mit einer mangelnden Offenheit für das Religiöse. Aber christlicher Glaube ist eben nicht einfach «was mit Religion», sondern eine bestimmte Praxis. Zu dieser Praxis gehört, darüber gibt es keinen Zweifel, das diakonale Engagement, das nicht erst «christlich» genannt werden muss, um es zu sein. Zugleich aber gehört zu dieser Praxis eine Kommunikation darüber, wie sich diese und andere Engagements als Nachfolge erkennen und aus solcher Kommunikation erneuern können: Der Glaube will erzählt und er will miteinander gefeiert werden.
Was heute weniger wird: Orte, an denen verbindlich erzählt, versammelt und gefeiert wird
Das zuvor skizzierte Verständnis der narrativen Grundstruktur des biblischen Glaubens macht die Frage nach dem Kirche-Sein zur zentralen Frage, gerade wenn bisherige Orte solcher Kommunikation – aus unterschiedlichen Gründen – wegbrechen. Wer Kinder hat, kennt die Herausforderung: diesen Glauben weiterzugeben, und zwar im Modus einer erkennbaren Praxis (und nicht einer Gnosis), das ist bei den wegbrechenden und immer unmöglicheren Orten etablierter Kirchlichkeit wirklich schwierig. Wenn ich mit anderen Theologinnen und Theologen spreche, ist beinahe immer klar: Dieses Studienfach haben wir gewählt, weil wir selbst gute Erfahrungen mit einer eigenen Praxis an bestimmten, ja, kirchlichen Orten gemacht haben – die es immer weniger gibt. Und die Großeltern-Generation erzählt mir in den Veranstaltungen der Erwachsenenbildung (die quasi exklusiv nur noch von dieser Generation besucht werden), dass sie nicht mehr wissen, wie sie ein religiöses Wissen, das doch Praxis deutet und in dem sich solche wiedererkennen und inspirieren kann, vermitteln könnte. Was heute einfach weniger wird, sind Orte, an denen verbindlich erzählt, versammelt und gefeiert wird. Die braucht es und die werden von vielen sehr vermisst. Und deshalb muss Theologie darüber nachdenken.
Um ein ‘Wir’ wissen – darum geht es doch
Das alles zumindest wahrzunehmen, scheint mir eine wichtige Aufgabe der Theologie zu sein. Es bedeutet, von der Haltung her, zumindest hintergründig, die Rolle eines «Wir» einzunehmen, um eine Zugehörigkeit nicht nur im Stillen für sich zu wissen (wie das bei sehr vielen Theolog:innen der Fall ist), sondern solches Zugehören – oder vielleicht nur das Zugehören-Wollen – auch mitzuteilen und in das eigene Arbeiten einzupreisen. Ich erkenne darin eine Geste, die gerade nicht zu einer «ekklesiologischen Verschlüsselung der Gottesrede» führt. Denn es muss nicht eine bestimmte lehramtlich überdefinierte Kirchengestalt als Horizont haben, sondern überhaupt um die Instanz des Kirche-Seins als kommunitärem Glaubensvollzug und dessen Bedeutung wissen.
Nur weil man danach fragt, wie denn Kirche-Sein und damit die notwendig kommunitäre Form des Glaubens heute gehen könnte, ist man nicht schon ein Apologet der monarchistischen Kirchengestalt, in der sexuelle Gewalt gedeihen und vertuscht werden konnte und die heute so reformbedürftig ist. Aber zu erkennen, dass «Kirche» in ihrer überlieferten Form immer weniger das erfüllt, wozu sie eigentlich da ist, und dann zu fragen, wie das denn konkret gehen könnte, ist eine vordringliche Aufgabe der Theologie. Und die ist nicht damit erledigt, dass man sagt: «Gott ist kein Privateigentum der Kirche, die Botschaft kann auch anonym gelebt werden und überhaupt gibt es viel mehr Formen von Religiosität als eine kirchlich gebundene».
Heil und Unheil – an kirchlichen Orten paradox verwoben…
Noch ein Wort zu einer heiklen Frage, nämlich zum Verhältnis von «dieser» Kirche und dem theologisch erwogenen Kirche-Sein an sich. Viele, die die Kirche heute verlassen, stehen ja auch vor dieser Frage und sie sollten in den oft schmerzhaften Abwägungsprozessen bei so einer existenziellen Frage jeden Respekt für ihre persönliche Entscheidung bekommen. Meine Position hierzu ist: Ja, an der existierenden römisch-katholischen Kirche ist vieles grundfalsch, das müssen wir erkennen – und es ist tragisch und bestürzend, dass erst die sexuelle Gewalt offenkundig werden musste, um das zu sehen. Sehr viele sprechen mittlerweile von «systemischen Ursachen» für solches Unheil. Innerhalb des formalen Rahmens «dieser» Kirche gibt es allerdings ein Kirche-Sein, das auch Heil erfahrbar werden lässt, in sich den Keim der Erneuerung trägt und vielleicht das Potential, die Unheilsgestalt eines monarchisch vorgetragenen, real existierenden Katholizismus von innen her zu überwinden oder doch zumindest subversiv zu unterwandern. Es werden sich neue Formen der Nachfolge finden, manchmal in den Ruinen der alten Gebäude, manchmal auch auf ihren Trümmern, und sogar hier und da innerhalb der alten Formen. Ausgang offen.
Deshalb glaube ich, kann man beim Thema «Braucht es die Kirche» theologisch noch mehr sagen als auf die vorhandenen Sackgassen ausschließlich mit dem politisch-gesellschaftlichen Prophetismus der Politischen Theologie zu antworten. Auch ein Johann Baptist Metz hat nach der Möglichkeit von Gemeinschaftsbildungen gefragt (Ders., Zeit der Orden. Zur Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg 1977), auf die der Glaube als wesentlich interaktives Geschehen angewiesen ist.
Wer so denkt, gerät schnell in die «Dann-geh-doch-rüber-Falle», ein Vorwurf, diesmal vielleicht von links her kommend. Wer will das schon aktiv verteidigen – diese Kirche?! Das muss man nicht und das geht ja auch gar nicht. Aber dennoch bleibt die Frage nach der Möglichkeit des Kirche-Seins ein zentrales Thema und ist nicht einfach der restaurative Reflex einer nostalgischen Gegenwartsverweigerung. Aufs Ganze gesehen waren die Kirchen die grossen Tradierungsmotoren und wenn es sie immer weniger gibt, hören ganz schön viele Geschichten auf erzählt zu werden.
[1] Dies arbeitet in seiner demnächst erscheinenden Dissertationsschrift Nicolas Matter auf eine brilliante Weise heraus: Nicolas Matter, Verleiblichte Geschichten. Studien zur Schnittstelle von Leiblichkeit und Narrativität als Prolegomena zu einer ekklesialen Pädagogik, Diss. Univ. Fribourg, 2023, 430 S.
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Daniel Bogner, Professor für Theologische Ethik an der Universität Fribourg/Schweiz und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.
Bild: Harald Schotter – pixelio.de