In dieser Nacherzählung des ersten Schöpfungsberichts, inspiriert von Irmtraud Fischers Buch „Liebe, Laster, Lust und Leiden: Sexualität im Alten Testament“, eröffnet Juliane Link eine queertheologische Perspektive auf die hermeneutischen Zwischenräume der Schöpfungserzählung.
Die gesamte Anlage des Textes ist polar. Gottes Schöpfung wird über die äußeren Pole strukturiert, die explizit genannt werden. Sie sind Orientierungspunkte, zwischen denen sich ein Raum der Vielfalt aufspannt. Die Phänomene und Lebewesen zwischen den Polen bleiben größtenteils unerwähnt, sind aber Teil des Ganzen. Dies gilt auch für den Menschen, der von Gott als männlich und weiblich geschaffen ist. Auch zwischen männlich und weiblich gibt es einen weiten Raum von Möglichkeiten, die nicht benannt, aber mitgemeint sind. In diesem Zwischenraum dürfen wir uns mit unserer Genderidentität verorten, auch wenn sie nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, und in diesem Zwischenraum ist Platz für die Vielfalt sexueller Orientierungen, die in uns genetisch angelegt sind.
Zu Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Zu Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Aber die Erde war Chaos und Wüste. Dunkelheit lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht. Und es wurde Licht.
Am ersten Tag schuf Gott auf diese Weise Tag und Nacht.
Aber Gott schuf auch die Dämmerung und den Sonnenaufgang und die blaue Stunde.
Und Gott fragte nicht, ob die blaue Stunde zum Tag oder zur Nacht gehört.
Am zweiten Tag schuf Gott Himmel und Erde.
Aber Gott schuf auch die Berge, die in den Himmel ragen und den Regen, der vom Himmel auf die Erde fällt. Gott schuf den Nebel und das Flimmern der Sommerhitze am Horizont. Gott schuf den Schnee und den Morgentau.
Und Gott fragte nicht, ob der Tau zum Himmel oder zur Erde gehört.
Am dritten Tag schuf Gott das Festland und schied es von den Meeren.
Aber Gott schuf auch die Inseln auf den Flüssen und die Seen im Landesinneren, das Wattenmeer und die Sandbänke, den Sumpf und das ewige Eis.
Und Gott fragte nicht, ob das ewige Eis zum Wasser oder zum Land gehört.
Am gleichen Tag schuf Gott das Gras und das Kraut und die Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen. Aber Gott schuf auch die Blumen, die zwischen den Gräsern auf der Wiese wachsen, die Kletterpflanzen, die sich an den Bäumen emporwinden, das Getreide auf dem Feld und die Kakteen. Gott schuf das Schilf, den Dschungel und das Gebüsch.
Und Gott fragte nicht, ob das Gebüsch zu den Gräsern oder zu den Bäumen gehört.
Am vierten Tag schuf Gott Sonne, Mond und Sterne. Aber Gott schuf auch die Zwergplaneten und die Kometen, die schwarzen Löcher und die Sternschnuppen und zwischen den Himmelskörpern den Weltraum.
Und Gott fragte nicht, ob die Lichtjahre zwischen Sonne und Mond zu dem einen oder zu dem anderen Gestirn gehören.
Am fünften Tag schuf Gott die Fische und die Meerestiere und die Vögel. Gott sprach, dass es im Wasser wimmeln soll vor Vielfalt und die Vögel fliegen sollen in aller Freiheit. Gott sprach: seid fruchtbar und vermehrt euch, erfüllt das Wasser mit eurer schillernden Anwesenheit und die Erde mit eurem Gesang.
Und angesichts ihrer Schönheit stellte Gott keine Fragen zu den fliegenden Fischen und den schwimmenden Enten und den tauchenden Kormoranen. Gott fragte nicht einmal, ob der Pinguin zu den Meerestieren oder zu den Vögeln gehört.
Am sechsten Tag schuf Gott die Landtiere: das Vieh und die Kriechtiere und das Wild der Erde, ein jedes nach seiner Art.
Und Gott sah, dass es gut war und er haderte nicht mit den Landtieren, die sich zum Wasser hingezogen fühlten und den flugunfähigen Vögeln. Gott mochte auch die Krokodile, die Schildkröten und den Vogelstrauß.
Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, etwa in unserer Gestalt. Und Gott schuf die Menschen zu seinem Bilde, Gott schuf sie als männlich und weiblich.
Und manche waren eindeutig männlich oder eindeutig weiblich und fühlten sich hingezogen zum anderen Geschlecht. Aber Gott schuf auch Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlten oder zu beiden Geschlechtern. Gott schuf männliche und weibliche Menschen, aber auch solche die trans oder inter waren. Und Gott fragte nicht, ob sie zu den weiblichen oder zu den männlichen gehören, denn sie alle glichen etwa der göttlichen Gestalt.
Stattdessen sprach Gott: Seid fruchtbar und vermehrt euch, seid zärtlich zueinander und kümmert euch um alles, was ich euch anvertraut habe.
Und dann sah Gott, dass es sehr gut war.
Und Gott segnete sie. Alle.
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Juliane Link ist Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin und Systemische Supervisorin und Coach.
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