Lange Zeit waren Ehe, Sexualität und Fortpflanzung eng miteinander verbunden, nicht zuletzt aufgrund religiöser Vorschriften. Serena Bischoff und Frederik Ohlenbusch zeigen einige bis heute wirksamen Verflechtungen auf.
“The Book of Margery Kempe” ist die wohl erste Autobiographie in englischer Sprache. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die sich fast allen sozialen Normen für Frauen ihrer Zeit widersetzte. Kein Wunder, dass die Geschäftsfrau und Mystikerin aus dem 14. Jahrhundert noch heute diskreditiert wird. Ein beliebter Vorwurf: Kempe war eine schlechte Mutter. Sie gebar vierzehn Kinder, ihr Werk erweckt jedoch den Eindruck, sie habe nur zu ihrem ersten Kind ein intensiveres Verhältnis gepflegt. Anders gesagt: Kempe pflanzte sich fort, war aber kaum Mutter. Der Wert, der ihr persönlich am Herzen lag: ihre Jungfräulichkeit – trotz der vielen Schwangerschaften.
Jungfräulichkeit trotz vieler Schwangerschaften
Religiöse Ansprüche und Ideen prägen unsere Vorstellungen von Ehe, Sexualität und Reproduktion bis heute. Das betrifft unterschiedliche Formen von Beziehungen, Fragen von (Un)Reinheit und Begehren bis hin zu queeren Theologien und die Abtreibungsdebatte. Und es gilt für die verschiedenen religiösen Traditionen gleichermaßen. Deshalb versammelten sich unter dem Titel „Ehe / Sexualität / Reproduktion. Religiöse An- und Widersprüche“[1] Wissenschaftlerinnen* der islamischen, katholischen und evangelischen Theologie, sowie Forscherinnen* aus der Kulturwissenschaft, den transdisziplinären Geschlechterstudien und der Romanistik zu einem wissenschaftlichen Kolloquium, das den Anstoß zu den hier gemachten Überlegungen gab.
1. Ehe – am Ende oder doch nicht?
In ihrem Buch „Das Ende der Ehe“[2] plädiert Emilia Roig dafür traditionelle Ehe- und Partnerschaftskonzepte hinter sich zu lassen und nach neuen Formen von Liebesbeziehungen zu suchen. Damit werden auch die Vorstellungen von Ehe als der Form der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, wie sie die abrahamitischen Religionen teilen, in Frage gestellt. Was gilt eigentlich als Ehe? Welche Ansprüche verbinden sich damit? Ist sie ein Mittel zum Zweck der Familiengründung, der Reproduktion? Ist sie vor allem ein Vertrag oder doch das Abbild der Liebe Gottes zu den Menschen?
Ehe zwischen Vertrag, Reproduktion und emotionaler Verbundenheit
Für die Frage, was denn nun zum Beispiel das Wesen der nikāḥ, arabisch für Ehe, ist, wird oft das islamische Recht herangeführt: nikāḥ wird dann vor allem als Vertrag verstanden, der den Ehepartner*innen bestimmte Rechte und Pflichten zuweist. Dieses eindimensionale Bild erweitert sich aber, wenn neben dem islamischen Recht auch philosophische und mystische Texte sowie die sog. adab-Literatur herangezogen werden. Liebe und Barmherzigkeit treten dann als “stärkste Ursachen für die zwischenmenschliche Verbundenheit” (al-Mawardi) ans Licht. Je nach Textgattung variieren die Beschreibungen von Ehe und Liebe, ein breiter Blick lohnt sich.
Ein anderer Ansatz findet sich in der christlichen Tradition, etwa bei Paulus: Die Ehe ist für den Apostel ein Weg, dem sexuellen Begehren und vor allem sexuellem Fehlverhalten Einhalt zu gebieten. Für noch besser hält er den völlige Verzicht, aber falls das nicht gelingt, dann sei die monogame Ehe das Mittel der Wahl. In vielen Texten zeigt sich hier ein pragmatischer Blick auf Paarbeziehungen, gepaart mit einer kritischen bis feindlichen Einstellung zu Sexualität.
Ehe als Zähmung der Sexulität
Da nach wie vor Christ*innen eben diese paulinischen Texte und ihre Normen zum Maßstab für das eigene Leben (und das Leben anderer) machen, lohnt sich auch hier ein kritischer Blick auf die Entwicklung vom Bild der Ehe in den christlichen Traditionen. Was davon prägt bis heute – ob bewusst oder eher indirekt – die Vorstellung von Paarbeziehungen? Ist Ehe in religiöser Perspektive vor allem eine Strategie der Zähmung von Sexualität?
2. Reproduktion & Geschlechterbinarität
Und welche Rolle kommt dann der Reproduktion in dieser Diskussion zu? Ein Blick in einen Entwurf aus dem rabbinischen Eherecht zeigt etwa, dass dort das Gebot der Fortpflanzung stark gemacht wird: Jeder Mensch – in diesem Fall gleichbedeutend mit Mann – ist dazu verpflichtet, sich fortzupflanzen. Ob dies für Frauen gleichermaßen gilt? Charlotte Fonrobert zufolge sagt der Talmud: Nein – Frauen stehen nicht in der gleichen Weise wie Männer in der Pflicht, sich fortzupflanzen.
Dennoch kann die Fortpflanzung nicht als exklusiver Zweck der Ehe betrachtet werden. Vielmehr hat die Ehe ihren Wert in sich selbst. Das rabbinische Eherecht (re)produziert dabei ein Bild des Mannes als dem Aktiven, derjenige, der die Frau heiratet. Die Frau bleibt dabei passiv, also die, die verheiratet wird. Derartige Zuweisungen von aktiv-passiv, öffentlich-privat, vernünftig-unvernünftig zu einzelnen Geschlechtsidentitäten prägen unsere Wahrnehmungen bis heute. Und allzu oft wurden sie als natürlich und Teil einer gottgewollten Schöpfungsordnung festgeschrieben.
(nicht) Nachweisbarkeit der Vaterschaft als Triebfeder des Partiachats
Das gilt auch für die westliche Geschlechterkonzeption von Mann – Kultur bzw. Frau – Natur. Die Frau sei als an ihre Mutterschaft gebunden zu verstehen, weswegen ihr die Sphäre der Natur, nicht die der Kultur zukäme. Die Frau wird dabei auf ihre Reproduktionsmöglichkeiten reduziert. Ihre Mutterschaft steht in der Regel außer Zweifel. Die biologische Vaterschaft hingegen kann erst seit etwa vierzig Jahren und mit Hilfe der Möglichkeit einer DNA-Analyse sicher festgestellt werden. Die strenge Koppelung von Ehe und Sexualität und damit von Ehe und Reproduktion soll garantieren, dass die Vaterschaft geklärt ist. Reproduktion wird damit zum Ursprung des Patriarchats. Es ist eng verbunden mit dem Mangel an Nachweisbarkeit einer naturalisierten Vaterschaft. Das zumindest zeichnete Christina von Braun im Blick auf die europäische Kulturgeschichte nach. Religionen haben diese Sicherung der Patrilinearität mit ihren Regelungen von Ehe und Sexualität über lange Zeit mitgetragen.
3. Und nun bitte queer!
Religiöse Vorstellungen und Normierungen verlieren für immer mehr Menschen an Plausibilität – so auch in Fragen von Sexualität und Partnerschaft. Dennoch sind viele der ehemals religiös begründeten Ansprüche, Vorstellungen und Logiken bis heute wirksam und prägen unser Verständnis von Ehe, Sexualität und Fortpflanzung. Diese Zusammenhänge sichtbar zu machen, lohnt sich nicht nur für die Theologie, sondern auch für andere Wissenschaften, nicht zuletzt die Gender Studies. Darüber hinaus braucht die Theologie das Gespräch mit den anderen Wissenschaften gerade auch, um die in den eigenen Diskursen immer wieder reproduzierte Geschlechter-Binarität aufzubrechen. Viel zu leicht verfallen theologische Betrachtungen zu Ehe und Familie in das Schema von Mann-Frau, verbunden mit vielfach beinahe essentialistischen Zuschreibungen. Queere Perspektiven bleiben meist ein Randthema, auch wenn Beispiele wie das von Margery Kempe zeigen, wie sehr queere Positionen durch die Jahrhunderte hindurch Teil der Theologie und des religiösen Lebens waren und sind.
Geschlechter-Binarität aufbrechen
Im theologischen Diskurs wird dem noch nicht ausreichend Rechnung getragen. Zwar werden immer wieder Tagungsbeiträge „gequeert“ – der Titel also um die Bezeichnung queer ergänzt. Diese Aneignung erweckt den Anschein, jede*r könne jegliches als queer bezeichnen, ohne bestimmten Kriterien entsprechen zu müssen. Inhaltlich verbleiben diese gequeerten Debattenbeiträge dann aber doch vielfach in einer bipolaren Logik. Dabei liegt in einer queeren Perspektivierung ein großes Potential. Linn Tonstad, Professor*in für Theologie Religion und Sexualität in Yale, formulierte das so: „‘Queer’ is whatever is at odds with the normative; with the dominant. ‘Queer’ offers an openness of possibilities.”
Was für ein Subversionspotential! Dieses gilt es für und in den Theologien zu heben, gerade auch in Fragen zu Ehe, Sexualität und Reproduktion.
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[1] Das Kolloquium fand im Dezember 2023 in Berlin statt. Das Programm zur Tagung können Sie hier einsehen: https://www.gender.hu-berlin.de/de/veranstaltungen/ztg-kolloquium-ehe-sexualitaet-reproduktion.
[2] Roig, Emilia: Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe, Ullstein: 2023.
Bildnachweis: Ausschnitt aus Tagungsfolder
Serena Bischoff (dey/mensch) studiert Evangelische Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin und ist dort als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Praktische Theologie am Institut für Katholische Theologie tätig.
Frederik Ohlenbusch (er/ihn) studiert Evangelische Theologie an der Humboldt-Universität und ist dort studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie.