Auch Papst Franziskus scheut auf frappierende Weise davor zurück, zu seiner pastoralen Unfehlbarkeit zu stehen. Die antimodernistische Aufgabelung von Dogma und Pastoral setzt sich so in neuem Gewand fort. Von Hans-Joachim Sander.
Der Präfekt des Glaubensdikasteriums hat der deutschen Kirche über ein Interview mit der TAGESPOST ausgerichtet, der jetzige Papst sei kein liberaler Reformer, auch wenn das dort ständig eingefordert würde.[1] Dieser sehr deutschen Erwartungsavantgarde schob er recht rüde einen Riegel vor. Man sähe sich auf dem Synodalen Weg so „besonders ‚erleuchtet‘“, dass von seinen Reformierungsideen die ganze universale Kirche „von den alten Schemen befreit wird“, besonders „die anderen armen Tröpfe“ mit verschlossener oder mittelalterlicher Identität. Das sei ebenso naiv wie hermeneutisch überheblich. Die Naivität ergibt sich aus dem Glauben an Befreiung, die Arroganz aus Herabsehen auf andere.
Die deutschen Besserwisser: naiv und arrogant
Beides macht mich ratlos. Dieser Papst und sein Spindoctor gelten doch eigentlich als hochhierarchische Repräsentanten der Befreiungstheologie, wie deren lateinamerikanische Vertreter uns hier in Europa immer wieder wissen lassen. Noch nicht einmal vier Monate in Rom und bei Víctor Manuel Fernández verfallen Befreiungsutopien. Das ist mal eine Halbwertszeit römischer Sozialisation. Man kann zum anderen dem deutschen Synodalen Weg viel vorwerfen, aber nicht Herabsehen auf andere. Er schaute beschämt in den Abgrund, den der eigene Missbrauch in der deutschen Kirche gerissen hat; man schaut nicht auf andere herab, sondern hinunter auf die eigene Schuld. Aber dazu ließ der Kardinal ausrichten, dass die Missbrauchskrise nicht zu lösen sei mit Entscheidungen, „die der Lehre der universalen Kirche entgegenstehen“.
Die Große Erzählung: Alle Probleme sind vom Papst lösbar
Dieser Hinweis macht mich noch ratloser. Was hat man im 19. Jahrhundert nicht alles angestellt, um den Papst mit Unfehlbarkeit auszustatten! Ein ganzes Konzil wurde eigentlich nur dafür einberufen, widerspenstige Bischöfe ständig mit diesem Thema genötigt und danach gaben die römischen Behörden dem Dogma der Unfehlbarkeit genau jenen spin, die seine direkte Formulierung und die Relatio des Bischofs Gasser eigentlich verhindern sollten. Das war doch die Große Erzählung: Was immer es an Problemen in der Kirche gibt, gleich auf welchem Niveau, wir Katholik:innen können beruhigt sein, der Papst kann und wird es mit seiner Unfehlbarkeit richten. Und jetzt soll die Lehre der Kirche gegen den Missbrauch nichts tun können, weil der nicht mit lehrmäßigen universalen Entscheidungen gelöst werden kann? Nichts anderes besagt dieser binäre Code doch. Hier ist der Missbrauch, dort ist die Lehre. Und sie kommen nicht zusammen, jedenfalls nicht bei diesem Papst.
Wozu ist dieses Amt eigentlich mit Unfehlbarkeit ausgestattet worden? Steht die bloß in der katholischen Auslage, aber ihre reine definierte Wahrheit darf von solchen kirchlichen Abgründen nicht gestört werden? Eine so marginale Krise kann der sexuelle Missbrauch, seine bischöfliche Vertuschung und seine spirituelle Ausweitung durch Seelenführer doch nun wirklich nicht sein, dass er nichts für ein päpstliches Lehren mit unfehlbarer Rückversicherung ist. Und dass diese päpstliche Lehrautorität den Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Ordensfrauen durch ihre schiere singuläre Potenz verhindert hat, wird auch der ultramontanste Bischof nicht behaupten wollen.
Wann, wenn nicht jetzt?
Wann, wenn nicht jetzt, schlägt die Stunde der Wahrheit dieser Lehrposition? Dieser Papst sagt doch immer, die Hirten sollen nach den Schafen riechen, was in den Missbrauchsfällen tatsächlich eine fürchterliche Metonymie ist. Jetzt könnte er doch zeigen, dass er damit nicht übergriffigen Körperkontakt meint, sondern die Glaubensgemeinschaft zum Heil auf Augenhöhe von Lehre und Leben.
Der Papst habe aber ein ganz anderes Problem und das verstünde man nach dem Präfekten bei den bischöflichen Reformzeloten nördlich der Berge nicht. Dort wollen manche deutsche Bischöfe nicht verstehen, dass mit keinem liberalen oder aufklärerischen Papst „Gemeinschaft unter Deutschen, Afrikanern, Asiaten, Lateinamerikanern, Russen und so fort“ zu garantieren wäre. Wo jetzt die Russen herkommen sollen, die auf katholische Gemeinschaft aus sind, weiß ich zwar nicht. Aber in Rom wird man schon den Überblick haben. Und dieser Überblick wird „pastoral“ erzeugt, wenn man dem Präfekten folgt. Denn, so wird der Kardinal angeführt, „ein ‚pastoraler‘ Papst hingegen“ könne das mit der Großen Gemeinschaft. ‚Pastoral‘ bedeutet also dann im Umkehrschluss: nicht-liberal, nicht-aufklärerisch, nicht-ortsbezogen. Das wiederum würde zur päpstlichen Unfehlbarkeit passen, die tatsächlich immer schon antiliberal, antiaufklärerisch und antiregional – nämlich gegen die Gallikaner und ihre Freiheiten – gemeint war und sich dann auch sehr bald eine antimodernistische Stoßrichtung zugelegt hat.
Antimodernismus im lateinamerikanischen Tonfall
Da sind wir also wieder mitten in der pianischen Epoche, nur hat der Antimodernismus dieses Mal einen lateinamerikanischen Tonfall. Ihre Aufgabelung von Dogma und Pastoral, von konkreten, geschichtlich-relativen Lebensproblemen hier und hehren universalen übergeschichtlichen Lehrwahrheiten dort feiert fröhliche Urständ. Wollte man damals mit der dogmatischen Wahrheit das chaotisch sündhafte Leben der Welt mit römischem geschichtlich nicht kontaminiertem Eichmaß bestimmen und disziplinieren, so will man jetzt mit den pastoralen Hinsichten die verfehlten allzuweltlichen Erwartungen an die Lehre disziplinieren und mit römischem Synodalmaß bloß geschichtlich bestimmen.
Damals hieß das Attacke auf den „dogmatischen Relativismus“ (Pius XII., Humani generis), der die Lehre in die Geschichte ziehen wollte. Jetzt geht die Attacke auf den pastoral getriggerten Relativismus in Sachen klerikale Macht, Frauen, Sexualmoral, Beziehungs- und Geschlechtsdiversität, der die Geschichte in die Lehre ziehen will. Eine Innovation ist das nicht, wohl aber ein déja-vue in Spiegeloptik. Das letzte Konzil hatte dagegen eine ganze pastorale Konstitution vorgelegt, die in der Fußnote zu ihrem Titel ausdrücklich den binären Code „hier Lehre, da Pastoral, hier Dogma dort Lebenspraxis“ aufhebt und über die dieses Konzil viermal abstimmen ließ, jedes Mal mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Das Konzil ist bei einer entscheidenden Frage mal wieder nicht in Rom angekommen, obwohl es dort getagt, aber eben komplexe Lösungen vorgelegt hat.
Jahrhundertealte katholische Grammatik
Hier hat man die jahrhundertealte katholische Grammatik fast in Reinkultur. Katholisch geht es von oben nach unten. Und dieses Mal sind es die Probleme, die von oben nach unten gehen. Die Päpste und ihre Pontifikate, das Papstamt und seine spezielle Qualifizierung können zwar die Weltkirche katholischer Art medial in Rom und mit Reisebildern global repräsentieren, aber nicht mehr ihre Probleme lösen. Die sind zu bretthart geworden, als dass die Päpste nach Johannes XXIII. sie hätten nachhaltig bohren können. Der schaffte das noch, weil er sein Amt mit einem Konzil selbst relativierte. Das war der Bohrer, der nötig war und es bewerkstelligte.
Nach vier Päpsten, die in die gegenteilige Richtung gingen und gehen, gibt es eine ernüchternde Wahrheit: Es gibt keine pastorale Unfehlbarkeit in diesem Amt. Es scheut vor dieser elementaren Kontaktzone von Pastoral und Lehre auf eine frappierende Weise immer dann zurück, wenn es auf sie stößt und liefern müsste. Ich wüsste da zwar eine theologische Lösung. Aber die deutschsprachige Theologie hat ja, so sagte der gleiche Präfekt vor ein paar Monaten sicher nicht ohne Grund, keine Substanz mehr als Referenzpunkt für eine weltkirchliche Ausstrahlung. Ich verstumme also besser demütig, bleibe bei der bloßen Analyse und bringe es nur – treu zum Lehramt – auf eine nicht-euklidische Fußnote.[2] Sie beansprucht auch nicht mehr als 15 Sekunden.
In der alten pianischen Epoche wollte man die herausragende Erhabenheit der Unfehlbarkeit nicht in den niederen pastoralen Ebenen in Schwierigkeiten bringen; die sollten sich an die atopischen Wahrheiten halten und sie ohne Bredouille schlicht und einfach flächendeckend anwenden. In der restaurierten pianischen Epoche jetzt will man pastorale Vereinigung einer global ausgedehnten Weltkirche nicht mit flächendeckenden Unfehlbarkeiten und utopischen Belehrungen verstören, weil die Einheit dann geistlich an den synodalen Tischen nicht mehr einzuhalten ist und sich in unlösbare Turbulenzen verspannen würde. Lehren würde nur spalten, allein pastoral können alle, alle, alle willkommen geheißen werden, wie es Papst Franziskus so oft betont.
Die Stärke des Papstamtes: ein katholischer Mythos
Die alte pianische Epoche verkrümmte in sich, weil sie die Probleme des Glaubens nicht mehr lösen konnte und die Pastoral verfiel. Ihrer erneuerten Form wird es ähnlich ergehen, weil sie sich wegduckt, sobald eine Entscheidung unausweichlich wird, welche eine andere Glaubensqualifizierung im pastoralen Modus notwendig macht. Die Stärke des Papstamtes erweist sich in beiden Fällen als schwerer katholischer Mythos, ohne den offenbar kein Amtsinhaber auskommt, aber mit dem die Distinktionsverluste nur immer größer werden. Wir erleben ein elementares Konstitutionsproblem des Katholischen.
Die Privilegierung des Spitzenamtes wird ständig als unverzichtbar eingefordert – „ein einzigartiges Charisma“, so der Präfekt –, aber so richtig mutet sie sich keiner zu. Es soll keine Gewaltenteilung geben dürfen, aber auch kein Beleg für seine Überlegenheit, der sich nüchtern überprüfen lassen müsste. Dieses Konstitutionsproblem steht wie eine Elefant im Raum der globalen Glaubensgemeinschaft der Katholik:innen. Es ist an der Zeit, den Eiertanz in der Weltkirche zu beenden, der es partout nicht ansprechen will, weil es ihn überfordert.
[1] 4. Januar 2024 „Ein Fall von Hochmut“, siehe auch die Vorabmeldung https://katholisch.de/artikel/49971-glaubenspraefekt-fernandez-papst-ist-kein-liberaler-reformer.
[2] Papal Infallibility – a Flat Locus. From a Thomistic Position of Ecclesial Independence Towards a Whiteheadian Interpretation as Locus Theologicus Alienus, in: Open Theology 1 (2015), 546–559.
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Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
Foto: © PLUS/S. Haigermoser
Bildquelle Beitragsbild: © Deutsche Bischofskonferenz/Matthias Kopp