Anne-Kathrin Ostrop erläutert Grundlagen und Perspektiven einer Musiktheatervermittlung, in der das Leben der Teilnehmer:innen und die Kunstform Oper miteinander in Berührung kommen und damit kulturelle Teilhabe ermöglicht wird.
In diesen Tagen, in denen die Gesellschaft unter der Last der Krisen zu zerbrechen droht und heilsversprechende Rechtspopulist:innen und rückwärtsgewandte Beharrungskräfte sich mehr und mehr die Macht zu sichern versuchen, braucht es laute und starke Fürsprecher:innen für die Kultur und ihre Vermittlung, die viel mehr ist als „nur“ die Orte der sog. Hochkultur. Kultur zeigt sich unter anderem in einer anerkennenden Haltung1 gegenüber Menschen, ihren Fähigkeiten und ihrer Sensibilität, zeigt sich in Rücksichtnahme und Verständnis, zeigt sich in dem Wunsch, das Beste für jede:n einzelne:n und die Schöpfungsgemeinschaft zu wollen.
Kultur zeigt sich in der Haltung dem Leben gegenüber.
Kultur zeigt sich in der Haltung dem bereits gelebten, jetzigem und zukünftigen Leben gegenüber.2 In einer sich rasant ändernden Welt ist es Ziel einer Kulturvermittlung , heterogene Dialoggruppen und Publika jeden Alters mit unterschiedlichen Formaten von künstlerisch-kreativ-partizipativem bis zu kognitiv-reflektierendem Charakter persönliche Zugänge z.B. zur Kunstform Musiktheater zu ermöglichen. [3. Ostrop, Anne-Kathrin: In: Unternehmenskonzept der Komischen Oper Berlin. Eigenverlag, Berlin 2021.] Dieser Anspruch der kulturellen Teilhabe für alle stellt einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt dar.3
Das Konzept der Szenischen Interpretation von Musik und Theater geht in der Grundhaltung auf Hartmut von Hentig und seinen Grundsatz von der „Schule als Erfahrungsraum“ zurück, woraus Ingo Scheller4 das Konzept des Erfahrungsorientierten Unterrichts und die Szenische Interpretation von Dramentexten in den frühen 1980er Jahren entwickelte. Die Szenische Interpretation ist eine Form des erfahrungsorientierten Lernens, wobei Erlebnisse, die spielerisch gemacht werden, in speziellen szenischen Verfahren zu nachhaltigen Erfahrungen verarbeitet werden; sie bedient sich der Aneignung von Musikstücken, Liedern und Musiktheaterstücken; die Szenische Interpretation von Musik ist konstruktivistisch, weil sie keine starre Bedeutung von Musik lehrt, sondern die Bedeutung von Musik von den Teilnehmer:innen aufgrund ihrer persönlichen Lebenserfahrungen konstruiert wird.
Arbeit an Haltungen, im äußeren wie im inneren Sinne.
Die Workshops der Szenischen Interpretation sind Arbeit an Haltungen, im äußeren wie inneren Sinne.5 Welche Haltung hat die Figur der Oper, die ich spiele, zu einer anderen, wie zeigt sich dies in seiner äußeren (Körper-) Haltung und der Sprech- oder Sing-Haltung.6 Wie könnte ich in meiner Rolle auf die Haltung einer anderen Figur in welcher Haltung reagieren? Welche Hinweise entnehme ich für diese Szene aus der Musik? Wie hört sie sich in meiner Rolle an? Wie hört sie sich für eine andere Rolle an? Die Teilnehmer:innen schlüpfen in unterschiedliche Rollen und erleben aus der Rolle heraus, also aus der Perspektive der Figur, einzelne Szenen und Musikausschnitte. Durch die Methoden werden sie dazu angeregt, diese mit ihrer eigenen Lebenserfahrung anzureichern und zu interpretieren, so dass plötzlich vieles aus ihrem Leben in der Oper (während des Workshops) verhandelt wird. Ihr Leben und die Kunstform Oper kommen miteinander in Berührung.
Werden alle Bestandteile einer Szene, ihre Protagonist:innen und die Musik der Szene ernst genommen, findet eine intensive Vorbereitung auf den Besuch einer Opernvorstellung statt, die sich weit weg von einem oberflächlichen Faktenwissen bewegt. Besonders spannend ist der Besuch der Opernvorstellung für die Workshop-Teilnehmer:innen nach dem Workshop, weil sie quasi „sich selbst“ (also die Rolle, die sie gespielt haben) auf der Bühne wiederentdecken. Dabei stellen sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Interpretation der Rolle fest. Vielfach begreifen die Teilnehmer:innen in diesem Erkenntnisprozess erst die Aufgabe des Regisseurs/der Regisseurin, seine bzw. ihre ureigene Interpretation eines Opernstückes auf die Bühne zu bringen. An der Komischen Oper Berlin konnten wir immer wieder während der Opernvorstellung feststellen, welche anwesenden Schulklassen eine Workshopvorbereitung erfahren haben. Diese Schüler:innen waren meist sehr beeindruckt von dem, was sie nun dort auf der Opernbühne musikalisch, szenisch, inhaltlich erleben – und das konnte man ihrem fasziniertem Gesichtsausdruck entnehmen.7
Musiktheatervermittlung für alle.
Musiktheatervermittlung richtet sich längst nicht mehr nur an Kinder, sondern an alle Menschen in unterschiedlichsten Gruppierungen, seien es Studierende, Familien, Firmenmitarbeiter:innen, Schulklassen, Senior:innen, Manager:innen, Väter-, Frauen-, Migrant:innen- oder Tourist:innengruppen etc. In weit mehr als 300 Workshops im Jahr beschäftigen sich die Teilnehmer:innen mit allen Opern des Spielplanes und besuchen anschließend eine Opernvorstellung. Über 40.000 Kinder und Jugendliche kommen so jährlich in die Komische Oper Berlin und sorgen dafür, dass das Opernhaus mit durchschnittlich weit unter 40 Jahren das jüngste Opernpublikum überhaupt hat. Durch die intensive Arbeit mit dem Publikum kommt es auch zu Rückübertragungen der Erkenntnisse aus den Workshops in die künstlerische Produktion auf der Bühne. Denn im Workshop kann man untrüglich feststellen, an welchen Stellen eine Oper im Text oder in der Musik stark oder schwach ist, wo sie trägt oder wo sie nicht stringent ist, wo sie den „Belastungen des Lebens“ standhält und wo nicht. Bei der Beauftragung von Uraufführungen und auch im Inszenierungsprozess fließen diese Erkenntnisse mit ein.
Die Erfahrungen aus der musiktheaterpädagogischen Arbeit haben zur Entwicklung des interkulturellen Projektes „Selam Opera“8 an der Komischen Oper Berlin geführt. In den Workshops konnte ich immer wieder feststellen, dass die Menschen aus unterschiedlichen Ländern, mit anderem religiös-musikalisch-kulturellem Hintergrund9, die Opernszenen anders interpretieren, was ja durch die Methode der Szenischen Interpretation als gemäßigt konstruktivistisches Verfahren genauso gewollt ist. So verstanden ist die Musikvermittlung am Opernhaus ein Katalysator für die Entwicklung eines (neuen) Publikums, aber auch für die Entwicklung der Oper als Kunstform. Um die Kunstform Oper und die Institution Opernhaus als Austragungsort menschlich-gesellschaftlicher Auseinandersetzungsprozesse weiterhin legitimieren zu können10 und ihn lebendig zu erhalten, ist Vermittlungsarbeit notwendig.11
Wüstengeräusche
Da unterhält sich plötzlich die arabische Vätergruppe im Workshop zur Insektenoper Mikropolis über die unterschiedlichen Geräusche in den Wüstenregionen ihrer Heimat und die Kinder, die das Land ihrer Väter nie betreten haben, hören fasziniert zu. Da erzählen sich Kinder gegenseitig bei einem Workshop zu Hänsel und Gretel, wie in ihrer Patchwork-Familie Eltern und Kinder miteinander umgehen. Da spielen Jugendliche im Workshop zu Don Giovanni ihre Träume von Treue und singen wütende Rezitative der Donna Elvira. Da gestaltet die Angestellte mit ihrer Chefin gemeinsam eine Szene aus Die Hochzeit des Figaro und danach diskutieren sie über gesellschaftliche Abhängigkeiten und Hierarchien in ihrem Unternehmen. Da nehmen Kindern und Eltern einer Kita im sich in Gentrifizierung befindenden „Kreuzberg 36“ im Workshop zur Kinderoper Des Kaisers neue Kleider (Körper-) Haltungen des Kaisers ein und plötzlich darüber philosophiert, ob der Kaiser größer oder kleiner ist als Allah (dann müsste er entweder zu ihm aufschauen oder hinabblicken) und ob Allah eigentlich das gleiche ist wie Gott.12
Da wird mithilfe von Kunst und ihrer Vermittlung ein Austausch über Erfahrungen und Fragen des Lebens über alle Gruppenzugehörigkeitsgrenzen hinweg respektvoll und anerkennend ermöglicht.13 Es wird klar, dass es unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen gibt, die sich in Theaterchiffren14 und Symbolen15 ihren Ausdruck suchen und deren Entstehung nachvollziehbar und hinterfragbar sind. Die Fähigkeit, die Unterschiedlichkeit der Perspektiven anzuerkennen, ist die Grundlage für ein respektvolles Miteinander. Besonders interessant ist es, wenn nun die Teilnehmer:innen nach dem Workshop eine Opernvorstellung besuchen und ihre im Workshop gespielte und durch ihr Leben angereicherte Rolle auf der Bühne wiederfinden. Dann erkennen sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Lebenserfahrung und der auf der Bühne beispielhaft erzählten Geschichte. Dann bekommt die zuvor oft unverstandene, flüchtige Musik eine für sie wichtige Bedeutung. Die Musik, die Szene – ja die Oper – wird durch die Workshopteilnehmer:innen mit Bedeutung gefüllt. Häufig entstehen in den Opernvorstellungen genau diese besonderen auratischen Momente, die wir alle kennen, wenn die Musiker:innen, die Darsteller:innen auf der Bühne und das Publikum in engem emotionalem Kontakt stehen. Hartmut Rosa würde dies als Resonanz bezeichnen.16
Respektvolle und emanzipatorische Einladung zur eigenen Interpretation ihrer Welt.
Die Szenische Interpretation von Musik und Theater ist also in eine systemisch-konstruktivistische Pädagogik17, die mithilfe von Kunst Menschen respektvoll und emanzipatorisch zu einer eigenen Interpretation ihrer Welt einlädt. Bei diesem Methodenkonzept wird in Interpretationsprozessen so viel wie möglich an Bedeutung konstruiert, so wenig Bedeutung wie möglich um ihrer selbst willen rekonstruiert und die eigene Erkenntnis immer wieder infrage gestellt und somit dekonstruiert.18
Nur so kann die politisch geforderte kulturelle Teilhabe aller Menschen an der „Hochkultur“ geleistet werden. Mir persönlich war dabei nie die simple Weitergabe von Begeisterung für diese Kunstform wichtig – was ohnehin nicht nachhaltig funktioniert –, sondern die Schaffung eines Erfahrungsraums mit Musiktheater für alle Menschen. Denn jede:r kann so in Freiheit und Verantwortung selbst entscheiden, ob eine Faszination oder Resonanz für die Kunstform oder für eine einzelne musiktheatrale Geschichte in der eigenen Person entsteht.
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Anne-Katrin Ostrop war als Gründerin und Leiterin der Musiktheaterpädagogik über 20 Jahre an der Komischen Oper Berlin und hat in dieser Zeit das Methodenkonzept der Szenischen Interpretation von Musik und Theater auf die Arbeit im Opernhaus übertragen. 2004 war sie Mitgründerin des Instituts für Szenische Interpretation von Musik und Theater (ISIM), das sich mit der Erforschung, Fortbildung und Weiterverbreitung der Szenischen Interpretation in Opernhaus, Schule und Universität beschäftigt. Sie gründete den Universitätslehrgang Musiktheatervermittlung am Mozarteum in Salzburg und hat das Kinder- und Jugendprogramm im Jubiläumsjahr 100 Jahre Salzburger Festspiele kuratiert.
Bild: Aurelio Schrey
- Honneth, Axel: Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte. Suhrkamp, Berlin 2018. ↩
- Assman, Aleida: Formen des Vergessens. Wallstein, Göttingen (5. Auflage) 2020. ↩
- Bude, Heinz: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. Hanser, München 2008. ↩
- Scheller, Ingo: Wir machen unsere Inszenierung selber. Szenische Interpretation von Dramentexten. diz-Verlag, Oldenburg 1989. ↩
- Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens. Verlag das Europäische Buch. Berlin 1986. ↩
- Hoffmann, Christel (Hg.): Hawemann, Horst – Leben üben. Improvisationen und Notate. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2014. ↩
- Komische Oper Berlin (Hg.): Oper Jung! Musiktheater für Kinder zwischen Bühne und Bildung. Henschel, Leipzig 2018. ↩
- Ostrop, Anne-Kathrin, Pavel B. Jiracek / Komische Oper Berlin: Selam Opera! Interkultur im Kulturbetrieb. Henschel, Leipzig, 2014. ↩
- Koch, Marion / Hamburger Kunsthalle: Auf Augenhöhe. Interreligiöse Gespräche über Kunst. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2010. ↩
- Ackermann, Marion / Bong, Jörg / Brosda, Carsten / Schwan, Gesine (Hg.): Kann das wirklich weg? 57 Interventionen für die Kultur. Ch. Links Verlag, Berlin 2021. ↩
- Henschel, Alexander: Was heißt hier Vermittlung? Kunstvermittlung und ihr umstrittener Begriff. Zaglossus, Wien 2020. ↩
- Kermani, Navid: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. Carl Hanser Verlag, München 2020. ↩
- Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H. Beck, München 2016. ↩
- Kupferblum, Markus: Die Geburt der Neugier aus dem Geist der Revolution. Die Commedia dell’Arte als politisches Volkstheater. Faculatas, Wien 2013. ↩
- Erlinger, Hans Dieter (Hg.): Kinder und ihr Symbolverständnis. kopaed, München 2001. ↩
- Enders, Wolfgang / Rosa, Hartmut: Resonanzpädagogik. Beltz, Weinheim 2016. ↩
- Reich, Kersten: Konstruktivistische Didaktik. 5. Auflage, Auflage: Beltz, Weinheim 2012. ↩
- Brinkmann, Rainer / Kosuch, Markus / Stroh Wolfgang Martin: Methodenkatalog der Szenischen Interpretation von Musik und Theater. Lugert, Oldershausen 2010, S. 8. ↩