Eine kritische Lektüre des Buches La pasión mística von Victor Manuel Fernández. Von Franz Winter.
Im Zuge der Auseinandersetzung um jüngere Neuorientierungen der katholischen Kirche im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren wurde der argentinische Erzbischof und Kurienkardinal Victor Manuel Fernández, der maßgeblich an den dafür relevanten Dokumenten beteiligt gewesen ist, zum Objekt heftiger Kritik von Seiten opponierender Kräfte innerhalb der katholischen Kirche (von denen es bekanntermaßen sehr viele gibt).
In der Tat: etwas unübliche Themen
Auf der Suche nach Möglichkeiten, ihn zu diskreditieren, wurde nun auch publik, dass er in den ausgehenden 1990er-Jahren ein Buch geschrieben hätte, dass sich sehr explizit mit dem „Orgasmus“ beschäftigen soll – kurz nachdem zuvor schon ein weiteres Buch über den „Kuss“ (dessen Titel Saname con tu boca. El arte de besar wörtlich übersetzt übrigens „Heile mich mit Deinem Mund. Die Kunst des Küssens“ bedeutet) bekannt geworden ist.
Das sind ist in der Tat etwas unübliche Themen für einen katholischen Priester und die aktuelle Aufregung darüber muss nicht verwundern. Fernández selbst hat sich in einigen Aussagen von diesen älteren Publikationen distanziert und sie finden sich auch nicht auf den offiziellen Publikationslisten zu seiner Persönlichkeit. Sie wurden aber zum Gegenstand öffentlicher Berichterstattung, weshalb eine Auseinandersetzung damit legitim und sogar notwendig ist, zumal die Texte nicht leicht erhältlich und auch nicht in Übersetzungen zugänglich sind.
Ein leidenschaftlicher Text
Bei näherer Beschäftigung mit dem nun inkriminierten rund 90 Seiten starken Büchlein La pasión mística. Espiritualidad y sensualidad („Die mystische Leidenschaft. Spiritualität und Sinnlichkeit“, veröffentlicht 1998 in einem kleinen mexikanischen Verlag, der auf christliche spirituelle Literatur spezialisiert ist) ist man vor allem einmal mit einem sehr leidenschaftlich geschriebenen Text konfrontiert, in dem vorgeblich die beiden im Untertitel genannten Bereiche miteinander verschränkt werden sollen. Der oft behaupteten Leibfeindlichkeit der christlichen Tradition wird ein Plädoyer für eine tiefe Sinnlichkeit gegenübergestellt, die sich auf die intimsten Bereiche bezieht.
Ein Plädoyer für eine tiefe Sinnlichkeit
Diesem Anliegen wird in zwei miteinander verschränkten Teilen nachgekommen: Im größeren ersten Teil rekurriert Fernández ausführlich auf mittelalterliche Traditionen der christlichen mystischen Literatur, die mit mitunter äußerst expliziten Bildern das betont sinnliche Erleben einer wie auch immer gearteten angestrebten Einheit mit Gott beschreiben. Schon auf dem Einband des Buches wird deshalb in Aussicht gestellt, mit den „leidenschaftlichsten Männern und Frauen der Geschichte auf den erhabenen Wegen der mystischen Vereinigung zu gehen, bis wir einen Punkt erreichen, an dem wir das Unmögliche zu berühren scheinen“ (a caminar con los hombres y mujeres más pasionales de la historia por los sublimes senderos de la unión mística hasta llegar a un punto en el que nos parece rozar lo imposible).
Man kennt die Beispiele zum Teil: Da geht es etwa um die Franziskanernonne Angela von Foligno aus dem 13. Jh., in deren Gottesbegegnungen sich „alle Glieder des Körpers mit Glück“ erfüllten, die „einen überwältigenden Rausch“ oder eine „maßlose Freude“ empfand und die schließlich eine sinnliche Begegnung mit dem Körper des Christus beschreibt, dessen Mund und Brust sie küsst.
Historische Beispiele
Oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die ebenfalls aus dem 13. Jh. stammende Beguinenmystikerin Hadewijch von Amberes, die den minne-Begriff auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch übertrug und ihre Begegnungen ebenfalls in äußerst sinnlich-körperlichen Bildern beschreibt: Christus umarmt sie „und alle meine Glieder spürten seine Berührung so vollständig, wie ich es mir gewünscht hatte. Somit war ich zufrieden und aufs Äußerste erfüllt“. Weitere Heilige „stöhnen“ in der mystischen Begegnung und die sehr sinnlich beschriebenen Übergänge zwischen Schmerz und Lustempfinden werden etwa unter Bezug auf Teresa von Avila zitiert: „In den Wunden, die die göttliche Liebe erhält, wird der Schmerz angenehm …“.
Fehlende Kontextualisierung
Diese explizite Bilderwelt ist nur bei eingehender Beschäftigung mit mittelalterlicher Mystik erschließbar und die Texte sollten wohl eingehender einer Kontextualisierung unterzogen werden. All das leistet Fernández nicht, sondern ergeht sich – offensichtlich äußerst genussvoll – in den verschiedenen Schilderungen. Sein offenbares Ziel ist eine positive Neukalibrierung sinnlichen Erlebens, die er sehr stark mit der sexuellen Metaphorik dieser Texte auflädt. Allerdings fehlen – abgesehen von der notwendigen Kontextualisierung – kritische Anmerkungen zur eigenartigen, schwülen Tonalität dieser Tradition, die nur unter ganz spezifischen Bedingungen entstehen konnte und noch dazu etwas transportiert, wovon man heute wohl weit entfernt ist.
Übergänge zu missbräuchlich ausgelebter Sexualität
Zumal, um eine hochproblematische Komponente dieser Tradition anzusprechen, mögliche Übergänge zwischen erdachter, und offensichtlich zutiefst ersehnter (weil unterdrückter), dann aber auch missbräuchlich ausgelebter Sexualität durchaus gegeben sind. In dieser expliziten Form würde man wohl dieses Kapitel der christlichen Tradition als zeitgebunden wahrnehmen und nicht durch Veröffentlichungen wie diese kritiklos aktualisieren.
In diesem ersten Teil ist das Buch, wie gesagt, weitgehend mit der zitierten christlichen Mystikliteratur beschäftigt. Etwas anders gestaltet sich allerdings der zweite Teil und da wird es in der Tat sehr problematisch, weil Fernández die zuvor dargestellte Tradition in die Gegenwart holt und stufenweise aus ihrer Verortung in einem spezifischen Genre der mittelalterlichen Literatur herauslöst. Das Ziel ist recht klar formuliert: „Spirituelle Erfahrung“ (la experiencia espiritual) soll als „die Ganzheit des Menschen, einschließlich seines Körpers“ (la totalidad del hombre, incluso su cuerpo, S. 35) umfassend ausgewiesen werden: es geht nämlich um „intensiv liebeserfüllte Begegnungen mit Gott“ (encuentros intensamente amorosos con Dios, S. 45).
Spirituelle ganzheitliche Erfahrung – einschließlich des Körpers
Dem kann man vermutlich durchaus etwas abgewinnen, doch ist die einseitige Fokussierung auf die genannten sexuell-sinnlichen Komponenten hochexplosiv: So schildert er beispielsweise im Übergangskapitel eine persönliche Begegnung und ein Gespräch mit einem sechzehnjährigen Mädchen, das ihm eine „leidenschaftliche Begegnung mit Jesus“ (un encuentro apasionado con Jesús, S. 59) bis in Details hinein schildert: Sie wollte im Zuge dieser ekstatischen Erfahrungen die Haut Jesu streicheln, seine Hände und die „Wärme und Zartheit“ seiner „Haut“ spüren, schließlich sein Gesicht und seinen Mund und die Lippen. Spätestens an dieser Stelle würden wohl sämtliche Alarmglocken schrillen angesichts der expliziten Intimität, die hier zwischen einem jungen Mädchen und einem erwachsenen Mann (angeblich) zur Sprache kommt. Das setzt sich auch in den folgenden Ausführungen fort, wo als Ergebnis dieser Auseinandersetzungen der körperlich-sinnlich/spirituelle „Orgasmus“ explizit thematisiert wird. Fernández verlässt hier die Metaphorik und versucht eine Art Brücke zwischen „mystischer“ Welt und gelebter Sinnlichkeit zu schlagen.
Klischeehafte Abhandlung männlicher und weiblicher Sexualität
In den nun folgenden Passagen fallen die vielen Aussagen, die jetzt medial kolportiert wurden und in der Tat ein äußerst problematisches Gesamtbild ergeben. Unterschiede etwa zwischen männlicher und weiblicher Sexualität werden klischeehaft abgehandelt: „die Frau“ empfindet – im Gegensatz zum Mann – „Sexualität ohne Liebe“ als unbefriedigend, weshalb sich auch der Zugang zu Pornographie bei Männern und Frauen unterscheiden würde.
Angebliche medizinisch-anatomische Details werden aufgebracht, um die angesprochenen Unterschiede zu beschreiben: Da ein Mann beständig Samen produziert, kann er sich leichter auf mehrere Sexualpartner einlassen, während die Frau eher an „sicherer Intimität“ interessiert sei. Der damit einhergehende Fokus wird übrigens als Erklärung dafür angeführt, dass Frauen eher offen für die beschriebenen mystischen Gottesbegegnungen seien.
In aktuellen kritischen Wahrnehmungen dieses Büchleins wird übrigens darauf hingewiesen, dass das Buch in diesem zweiten Teil sich stellenweise wie ein Manual einer auf das Sexuelle fokussierte Begegnung mit Gott liest: Sexualität als quasi Weg zu Gott bzw. die Konzipierung des Orgasmus als religiös-spirituelle Handlung. Dafür gibt es in der Tat eine Reihe von religionshistorischen Parallelen, die aber möglicherweise nicht unbedingt intendiert waren.
Religionshistorische Parallelen
Aufgrund einschlägiger Beschäftigung waren dem Autor dieser Zeilen beispielsweise die Parallelen zum Schrifttum des kolumbianischen Esoterikers Víctor Manuel Gómez Rodríguez (1917–1977) evident, der als „Samael Aun Weor“ Begründer einer – im Selbstverständnis – „gnostischen“ Bewegung wurde, die sich in sehr viele Untergruppen aufsplitterte, aber insbesondere in Südamerika viele Anhänger gewinnen konnte. Dessen erste bedeutende Veröffentlichung, El Matrimonio Perfecto („Die vollendete Ehe“, erstmals 1950 mit vielen weiteren Auflagen) ist ebenfalls eine äußerst detaillierte Beschäftigung mit den spirituellen Möglichkeiten sexueller Energien.
Neukalibirierung des Umgangs mit Sexualität
Erst im Schlussteil von Fernández Buch heben sich diese Explizitheiten wieder ein wenig auf. Der Sucus läuft auf eine positive, wertschätzende Interpretation der Sexualität zwischen Mann und Frau hinaus: erfüllte Sexualität als eine Form der Begegnung mit Gott sozusagen. Das Ziel des Unterfangens ist damit nachvollziehbar: eine katholisch-christliche Neukalibrierung des Umgangs mit Sexualität. Dennoch scheint die ausgesprochene Explizitheit der Darstellung sowie die Fixiertheit auf den Orgasmus als literaler Höhepunkt der Mensch-Gott Begegnung schlichtweg nicht gerecht zu werden und wirkt denkbar überzogen.
Vielleicht sollte man bestimmte Dinge einfach dort lassen, wo sie hingehören: im intimsten Bereich, der sich zwischen zwei Menschen auftun kann.
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Prof. DDr. Franz Winter ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Graz.