An dem Schwedischen Roman „Der gewöhnliche Mensch“ identifiziert Matthis Glatzel den grundlegenden, soziologischen Übergang zur Spätmoderne und geht den darin aufreißenden Krisen des Subjekts nach.
Mit Der gewöhnliche Mensch hat die preisgekrönte schwedische Bestsellerautorin Lena Andersson einen neuen Roman vorgelegt, der letztes Jahr ins Deutsche übersetzt wurde. Dieser bietet nicht nur eine beeindruckende Narration des schwedischen Selbstverständnisses im 20. Jahrhundert, sondern reflektiert die Krisen des spätmodernen Subjekts.
„Er war keine Künstlerseele, das wusste er wohl.“[1]
Mit diesen Worten charakterisiert Andersson den Protagonisten ihres Romans, Ragnar Johansson. Es handelt sich um ein Eingeständnis wider Willen: Insgeheim will Ragnar sehr wohl Künstler werden. Fertigt er noch zu Beginn abends nach seiner Arbeit als Tischler Schmuck und Ornamente an, gibt er dieses Bestreben bald auf. Die hieraus folgende Konsequenz ist schließlich die paradigmatische Festellung: Er ist eben kein Künstler.
Der Schwede schlechthin.
Doch wer ist dieser Ragnar, der ganz offensichtlich nicht für den künstlerischen Selbstausdruck bestimmt ist? Seine Geisteshaltung wird anhand der gesellschaftlichen Situation im Schweden des 20. Jahrhunderts deutlich. Ragner steht exemplarisch für das schwedische Selbstverständnis des vergangenen Jahrhunderts. Seit 1945 war Schweden fest in sozialdemokratischer Hand, und hielt gegenüber den beiden Machtblöcken Kapitalismus und Sozialismus an einem starken Sozialstaat, was später als schwedisches Modell in die Geschichte eingehen sollte. Dass sich Ragnar vollständig mit diesem Projekt identifiziert, wird nicht nur im Originaltitel Sveas Son deutlich. Ragnars Mutter heißt Svea, doch die Nähe zum schwedischen Sverige (‚Schweden‘) scheint intendiert und auch in einer ersten Kategorisierung des Heldens der Geschichte tritt diese Dimension hervor: „Ragnar Johansson war schwedisch, und er war der Schwede schlechthin.“[2]
Reihenhaussiedlung und zwei Kinder.
Als Konsequenz dieses Ethos gilt es demnach auch Ragnars Ausbildung als Tischler zu verstehen. Ein ‚einfacher‘ und ‚ehrlicher‘ Beruf, der nicht den Anspruch darauf erhebt, etwas Besonderes oder Einzigartiges zu sein. Doch Ragner geht hier sogar noch weiter. Aus Angst in dem Beruf einmal an mangelnder Auftragslage zugrunde zu gehen, wird er Lehrer in einer Berufsschule. Die spätere Möglichkeit zur Beförderung lehnt er ab.[3] Dieser Logik folgt schlussendlich sein gesamtes Leben. Während der frühe Ragnar noch nach Spanien reist und begeistert Hemingway liest („so macht es das Volk, und er war ein Teil des Volkes“[4]), erfahren diese anfänglichen Schritte auf dem Feld von Kunst und Kultur frühe Dämpfer. Spanien, das Ziel seiner jugendlichen Sehnsucht, wird für ihn unmöglich, als er in einer Kneipe ohne es zu wissen Francos Parole „Viva España“ ausruft und in einer Bar, erzählt ihm ein Amerikaner schließlich, Hemingway sei völlig überbewertet. Ragnar zweifelt jetzt daran, ob er Hemingway jemals gemocht hatte und „begann, ein Leben ohne das Streben nach Höherem zu akzeptieren.“[5] Gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth Berg bezieht er eine Reihenhaussiedlung und sie bekommen zwei Kinder: Elsa und Eric. Da seine eigene Karriere als Fußballer gescheitert ist, sollen jetzt die Kinder durch sportlichen Erfolg glänzen. Das einzige Refugium in dem Ragnar sich Außergewöhnlichkeit erlaubt, ist der Sport. Symptomatisch ist es ausgerechnet der Ausdauer-Sport, den Ragnar hier wählt. Im Ski-Langenstreckenlauf oder dem Rennradsport stehen Erfolg und Misserfolg vollständig in einer allgemein berechenbaren Logik: Erfolg hat hier, so Ragnars feste Überzeugung, wer intensiv und hart arbeitet.
Die vergangene Logik des Allgemeinen.
Anderssons Anliegen ist eine Charakterisierung des schwedischen Selbstverständnisses des 20. Jahrhunderts, illustriert anhand einer klassischen Arbeiterpersönlichkeit. Nicht umsonst bildet die Ermordung des Vaters der schwedischen Sozialdemokratie, Olof Palme, ein Zentrum des Romans. Im Hinblick auf diesen Fokus wird er gewöhnlich rezipiert. Tatsächlich läuft hier implizit eine zweite Dimension mit, die die eigentliche Stärke des Romans ausmacht. Sie erschließt sich auf Basis der gegenwärtigen Sozialphilosophie. So bestimmt der Soziologe Andreas Reckwitz das spätmoderne Subjekt als Kurator des eigenen Lebens.[6] Entgegen einer vergangenen Logik des Allgemeinen, wie sie weitgehend das 20. Jahrhundert gekennzeichnet hatte, ist das spätmoderne Subjekt gerade daran interessiert, die eigene, wie Reckwitz es nennt, Singularität herauszustellen.
Faszination, dass alle das gleiche Leben führen?
Dieser Logik der Spätmoderne steht Ragnar Johannson diametral entgegen. Sein komplettes Streben ist daran ausgerichtet nicht von der Norm abzuweichen, sondern vollständig im Kollektiv aufzugehen. Er ist, um es mit den Worten Reckwitz zu formulieren, komplett einer Logik des Allgemeinen verpflichtet. Demgemäß liest sich Ragnars Selbstverständnis wie eine Absage an die von Reckwitz beschriebene Singularität. Dahinter steckt letztlich eine Weltanschauung, die im Zuge des Romans immer weiter in die Krise gerät. Ragnar ist stolz auf die durch die Sozialdemokratie angeschobene Säkularisierung in Schweden und lehnt das Streben seiner Mutter, eine christliche Partei zu wählen, entschieden ab. Das geht so weit, dass er sich sogar zu einer Apologie des Sozialismus hinreißen lässt. Dieser werde vielmehr durch ein „psychologisches Ungleichgewicht […] in ein schlechtes Licht“[7] gerückt. Neben der sozialen Sicherheit fasziniert ihn vor allem, dass hier alle das gleiche Leben führen. Dieser Zustand gilt ihm als uneingeschränkt gut.
Individuelles Entfalten statt Formen!
Doch das vermeintlich geschlossene Weltbild gerät immer wieder ins Wanken, denn zu oft stolpert Ragnar über Fragen, deren Antwort er nicht kennt. In der Überzeugung, dass sein Lebensmodell eines rational geleiteten, fleißigen Lebensstiles das Richtige ist, stellt er regelmäßig fest, dass seine eigene Weltanschauung ihre neuralgischen Punkte ausgerechnet genau dort aufweist, wo es um ihre letzten Fundamente geht: Ist der Mensch nicht vernünftig und soll doch die Welt nach seinen Zwecken formen? Wenn Nahrungsmittel in Pulverform und in praktischen Tüten erworben werden können, ist das dann kein Gewinn? Damit steht Ragnars Weltanschauung symptomatisch für das, was Reckwitz die Logik des Allgemeinen nennt. Zweckoptimierung ist hier das Leitparadigma. Doch insbesondere dem Ragnar des späten Romans gelingt es nicht mehr, diese Logik, die er sich doch gerade in seiner Jugend hart erarbeitet hatte, gegenüber seinen Mitmenschen zu rechtfertigen. Auf einem Elternabend verteidigt er seine Vorstellung von Pädagogik. Kinder müssten geformt werden, um zu vernünftigen, zweckgerichteten Menschen zu werden. Er erfährt Widerrede durch eine Mutter, die ihm gegenüber betont, Kinder sollten sich individuell entfalten, man könne sie nicht formen. Das Gespräch reflektiert, wie hier die beiden unterschiedlichen Haltungen aufeinanderstoßen. Ragnar wird zunehmend klar, wie sein persönliches Weltbild immer weiter ins Wanken gerät: eine Krise, die Andersson schließlich mit dem Begriff der „Postmoderne“ explizit werden lässt. Hier wird die Möglichkeit allgemeingültiger, objektiver Wahrheit abgelehnt. Eine Konsequenz, die Ragnar wütend ablehnt, da sie ihn doch insgeheim verzweifeln lässt. Die Hilflosigkeit tritt offen zu Tage, als er in seiner Argumentation ausgerechnet auf die Bibel zurückgreift. Um der Konsequenz zu entgehen, hier tatsächlich die Bibel als normative Grundlage heranzuziehen, dreht er die Argumentationsstruktur um, was schließlich zu einem haltlosen Zirkel führt: „‘Nicht, weil es in der Bibel steht, ist es wahr, sondern weil es wahr ist, steht es in der Bibel.‘“[8]
Der Verlust fest geglaubter Ideale.
Die Stärke Anderssons ist es nicht nur, dass sie den Generationenkonflikt zwischen Vater und Tochter, den Klassenkonflikt zwischen Arbeiter und Wissenschaftlerin narrativ verarbeitet, sondern gerade, dass sie die Krise der Moderne innerhalb einer anthropologischen Realität reflektiert. Der tyrannische Vater erscheint hier vornehmlich als Randerscheinung. Im Zentrum steht vielmehr das moderne Subjekt, das an seiner ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ (Lukacs) zu verzweifeln droht. Im Roman tritt dieser Zweifel schließlich offen zu Tage. Ragnar vertraut nicht mehr den Idealen, denen er sein Leben lang gefolgt war. Eines dieser Ideale ist die monogame Ehe. Er beginnt eine Affäre und lässt sich schließlich von seiner Frau scheiden.
Mut, Teil eines Ganzen zu sein?
Die Romantik, wie sie Reckwitz als Reaktion auf diese Krise der Moderne interpretiert, hält dem Scheitern allgemeiner Sinnzusammenhänge das individuelle, produzierende Subjekt entgegen. Sinn, Weltanschauungen und Lebensentwürfe werden etwa in Form der Kunst durch das Individuum selbst produziert. Damit erheben diese Erklärungen nicht mehr den Anspruch allgemeingültig zu sein, sondern sie reduzieren sich auf einen beschränkten Geltungsbereich. Als Instanzgeber dieser Sinndeutung bleibt ausschließlich das einzelne Subjekt übrig. Bereits Paul Tillich hatte die sich hier ergebenden Probleme gesehen. In einer Spitze gegenüber Friedrich Schlegel stellt Tillich leicht süffisant fest, dieser sei von seinem radikalen Individualismus schließlich zum Katholizismus konvertiert, weil er seine radikale ironische Dekonstruktion eines einheitlichen Sinnhorizontes selbst nicht ausgehalten hatte; sich demgemäß aktiv in die Arme eines festen Sinngebäudes flüchten müsse.[9] Bei Tillich kulminiert dies bekanntermaßen in die Feststellung, dass nur der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, der Glauben an einen allmächtigen Gott, dem Subjekt tatsächlich Stabilität geben kann.
Eigene Lebenshorizont immer wieder erschüttert.
Ein solche Wendung findet sich bei Andersson gerade nicht. Es ist vielmehr die Spannung und Krise des modernen Subjekts, die sie vor dem Hintergrund einer Erzählung reflektiert. Die Erkenntnis, dass der eigene Lebenshorizont immer wieder erschüttert werden kann und keine Weltanschauung und keine Idee tatsächlich unerschütterlich sind.
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Matthis Glatzel, Studium der Philosophie und Theologie in Mainz, Frankfurt und Leipzig, seit Oktober 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg Modell Romantik an der Friedrich-Schiller Universität in Jena.
Titelfoto: YU Carla / unsplash.com
[1] Lena Andersson, Der gewöhnliche Mensch. Roman. München (Luchterhand) 2022, S. 45.
[2] Ebd., S. 19.
[3] Vgl. ebd., S. 212.
[4] Ebd., S. 39.
[5] Ebd., S. 32.
[6] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin (Suhrkamp) 62018, S. 295.
[7] Andersson, Der gewöhnliche Mensch, S. 59.
[8] Ebd., S. 217.
[9] Vgl. Paul Tillich, Der Mut zum Sein. Berlin/Boston (De Gruyter) 22015, S. 85. (Zusatzmaterialien online unter https://ebookcentral.proquest.com)