«Matthäus heute lesen» klingt einfach, ist es aber nicht. Denn es gibt unzählige Möglichkeiten, den mit «heute» geforderten Gegenwartsbezug einzulösen. Im Hinblick auf ein Buchprojekt stellt Daniel Kosch erste Überlegungen dazu an, was «Matthäus heute lesen» heissen könnte.
Vor einiger Zeit habe ich zugesagt, in der Reihe «Bibel heute lesen» des Theologischen Verlags Zürich den Band zum Matthäusevangelium zu verfassen. Gereizt hat mich zum einen die Möglichkeit, nach langer Zeit wieder intensiver in die Welt der Bibel einzutauchen, zum anderen das «heute» im Reihentitel. Denn dieses enthält den Auftrag zu einer gegenwartsbezogenen Lektüre und setzt die Überzeugung voraus, dass die Bibel heute anders zu lesen ist als gestern.
Zu lesen versuchen, als hätte ich keine Vorkenntnisse
Eine erste Idee, diesen Anspruch einzulösen, war eine Art Selbstversuch: Was für Eindrücke und Fragen würden sich bei einer Lektüre ohne Vorkenntnisse einstellen? Natürlich ist mir klar, dass das hermeneutisch naiv ist. Jede Lektüre ist kontextuell und perspektivisch geprägt. Dennoch wollte ich es versuchen, insbesondere im Wissen darum, dass viele engagierte Kirchenmitglieder kaum mehr eine Ahnung von biblischen Texten haben und gewissermassen «bei Null» beginnen.
Der Versuch führte zu neuen Beobachtungen. Nie zuvor war mir aufgefallen, dass der oder die Verfasser:innen des Evangeliums1 mit der Formulierung «in jenen Tagen» (3,1) von der Kindheitsgeschichte (Mt 1-2) zum Auftreten des Täufers und des erwachsenen Jesus überleiten, als lägen nicht Jahre dazwischen. Ähnliche Fragen zum Verlauf der Ereignisse stellen sich an anderer Stelle. So ist einleitend zur ersten grossen Rede Jesu von «dem» Berg (5,1) die Rede, als wüssten die Leser oder Hörerinnen des Textes bereits, um welchen Berg es sich handelt.
Kein Buch für Anfängerinnen und Anfänger
Neben erzähltechnischen Beobachtungen machte der Versuch einer voraussetzungslosen Lektüre deutlich, wie voraussetzungsreich der Text ist. Schon der mit «Stammbaum» oder «Buch von der Geschichte» übersetzte erste Ausdruck (gr. biblos geneseos) weist auf Gen 5,1 zurück. Und nur wer weiss, wofür die Namen «David» und «Abraham» stehen, kann mit der Überschrift des Buches (1,1) etwas anfangen. Zudem enthält das Evangelium insgesamt 19 mit «damit in Erfüllung gehe» eingeleitete Erfüllungszitate, 110 bis 120 sonstige wörtliche Zitate aus der Bibel Israels und etwa 370 bis 400 Anspielungen und Motivrezeptionen2.
Das Matthäusevangelium ist also kein Buch für Anfänger und Anfängerinnen, sondern ein anspruchsvoller und voraussetzungsreicher Text, geschrieben für Menschen, welche grosse Teile der Bibel Israels in- und auswendig (französisch «par coeur») kannten.
Je nach Perspektive auf das Heute fällt die Lektüre anders aus
Während ich gleichzeitig den biblischen Text sorgfältig las, neuere Fachliteratur zur Kenntnis nahm und über das «heute lesen» nachdachte, wurde mir bewusst, wie sehr die jeweilige Perspektive auf das Heute die Textwahrnehmung beeinflusst.
Eine von der aktuellen Krise der römisch-katholischen Kirche und des kirchlichen Amtes geprägte Lektüre wird das Augenmerk vielleicht auf eine kirchengeschichtlich besonders folgenreiche Stelle richten: Das Wort Jesu an Petrus «auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen … ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben, und was du auf Erden bindest, wird auch im Himmel gebunden sein …» (16,8f.).
Das Thema Gemeinde ist für Matthäus wichtig – und seine Aussagen dazu vielschichtig.
Zudem wird eine kirchenbezogene Lektüre entdecken, wie wichtig das Thema «Gemeinde» für Matthäus ist und wie vielschichtig die Aussagen dazu sind. So wird das Wort vom «Binden und Lösen» in 18,18 wiederholt, diesmal aber nicht auf Petrus, sondern auf die Gemeinde bezogen, was angesichts von aktuellen Überlegungen zur Überwindung eines absolutistischen Verständnisses des Papsttums eine wichtige Beobachtung ist.
Anders der Fokus einer von der Armut in der Welt geprägte Lektüre: Sie wird zweifellos den Text über das Weltgericht und dessen Schlüsselsatz unterstreichen: «Was ihr einem dieser meiner geringsten Geschwister getan (oder nicht getan) habt, das habt ihr mir getan» (25,40.45). Davon ausgehend ist zu entdecken, dass die Wechselwirkung zwischen dem, was zwischenmenschlich geschieht, und dem was zwischen Gott bzw. Jesus Christus und den Menschen geschieht, für Matthäus zentral ist: So wie Gott vergibt, sollen Menschen einander vergeben, was Menschen binden oder lösen, ist auch bei Gott gelöst oder gebunden.
«Heute lesen» könnte ferner heissen, den Abstand zwischen der einfachen und konkreten Rede von Gott im Matthäusevangelium und der heutigen religiösen Situation zu realisieren. Wer Matthäus im Horizont der heutigen Gottesfrage liest, wird wohl ein Fragezeichen hinter die Aussage machen, dass «kein Spatz zu Boden fällt … ohne dass euer Vater bei ihm ist» (10,29). Zudem wird eine solche Lektüre vielleicht den Kontrast zwischen diesem Gottvertrauen und dem Schrei des sterbenden Jesus registrieren «Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen» (27,46).
Andere Fragen ergeben sich vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und anderswo. Was heisst in diesem Kontext «Liebet eure Feinde» (5,44) oder «halte auch die andere Backe hin» (5,39)? Wie verarbeitet das Evangelium den jüdischen Krieg im Jahr 70 nach Christus und die Zerstörung Jerusalems? Ist es aufgrund unseres heutigen Wissens um die psychischen Folgen von traumatischen Erfahrungen mit Krieg und Flucht nicht naheliegend, die Berichte über die Befreiung von Menschen, die von Dämonen besessen sind vor diesem Hintergrund neu zu lesen?
Wie können Menschen sich auf einen langen antiken Text einlassen, die hauptsächlich Kurznachrichten und
Push-Meldungen lesen?
Zudem ergeben sich Fragen anderer Art: Wie können Menschen sich auf einen langen antiken Text einlassen, die hauptsächlich Kurznachrichten und Push-Meldungen lesen? Wie lassen sie sich motivieren, den Reichtum des Textes zu entdecken, der sich erst erschliesst, wenn er wiederholt gelesen und in seinen Bezügen wahrgenommen wird?
Sichtwechsel: Der Text beginnt Fragen zu stellen
Im Laufe der Zeit hat sich meine Perspektive verändert. Ich fing an, weniger von heute aus auf den Text als vom Text her auf das «Heute» zu schauen. Der Text begann, mir die Fragen zu stellen. Mir fiel auf, dass das Matthäusevangelium den Akzent nicht auf das «Lesen», sondern auf das «Tun» der Worte Jesu legt (z.B. 7,24ff; 28,20). Fragen nach Bibellektüre und Frömmigkeit kommen im Endgericht überhaupt nicht vor. Es kommt allein darauf an, wie ich mit den hungrigen, durstigen, kranken und gefangenen Geschwistern umgegangen bin (25,31ff). Hat die Tatsache, dass heutige Angebote zur Bibel oft wenig Interesse wecken, damit zu tun, dass der Fokus zu sehr auf dem Bibel «lesen» und zu wenig auf dem Bibel «leben» liegt?
Matthäus geht davon aus, dass Jesus ein toratreuer Jude war und dass all seine Nachfolger:innen gehalten sind, sämtliche Gebote der Tora zu befolgen.
Eine andere Frage ergibt sich aus dem Befund, dass gemäss dem Matthäusevangelium von der Tora «kein Jota und kein Häkchen vergeht, bis Himmel und Erde vergehen» (5,18). Es geht also davon aus, dass Jesus ein toratreuer Jude war und ist zudem der Auffassung, dass alle Menschen in seiner Nachfolge, auch jene nichtjüdischer Herkunft, gehalten sind, sämtliche Gebote der Tora so zu befolgen, wie Jesus sie ausgelegt hat. Dabei sind «das Recht, die Barmherzigkeit und die Treue» zwar wichtiger als das Verzehnten von Gewürzen (23,23), die Orientierung an Gottes Barmherzigkeit (9,13; 12,7 vgl. Hos 6,6) wichtiger als kultische Reinheitsvorschriften. Aber man soll «das eine tun und das andere nicht lassen». Diese Haltung zur Tora wiegt umso schwerer, als das Markus-Evangelium, das Matthäus als Quelle diente, eine andere Sicht vertrat, folgert es doch aus der Haltung Jesu zu den Speisevorschriften «damit erklärte er alle Speisen für rein» (Mk 7,19). Das heisst: Matthäus fordert die Befolgen der ganzen Tora im Wissen darum, dass das nicht alle so sehen.
Ein Christsein, das dem jüdischen way of life verpflichtet bleibt
Indem es nichtjüdische Gemeindemitglieder zu einem toragemässen way of life verpflichtet, erhält das Matthäusevangelium eine Scharnierfunktion zwischen den beiden Teilen der christlichen Bibel. Es steht in Kontinuität zur Bibel Israels und ist gleichzeitig «Anfang des Neuen Testaments»3. Diese «neue Matthäus-Perspektive»4 ist heute nicht nur für den christlich-jüdischen Dialog bedeutsam, sondern auch im Hinblick auf das interreligiöse Gespräch, eröffnet sie doch eine Perspektive für religiöse Zweisprachigkeit. Zudem zeigt die Differenz zwischen den Positionen von Matthäus und Markus (sowie Paulus), dass es aus Sicht des Neuen Testaments möglich ist, sich in grundlegenden und identitätsprägenden Überzeugungen zu unterscheiden. Spannungsreiche Vielfalt gehört zur DNA des Christentums.
Polemik und Gerichtsdrohungen
Sich die Fragen für eine heutige Lektüre vom Evangelium selbst stellen lassen heisst jedoch nicht, dessen Perspektiven unkritisch zu übernehmen. «Unschuldig» und unter Ausblendung der Wirkungsgeschichte können wir den Text heute nicht mehr lesen. Exemplarisch dafür steht der «Blutruf» in der Matthäuspassion «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder» (27,25). Nach Auschwitz können wir die schrecklichen Folgen des Vorwurfs nicht mehr ausblenden, «die Juden» seien «Christusmörder»5.
Nach Auschwitz können wir die schrecklichen Folgen
des Vorwurfs nicht mehr ausblenden,
«die Juden» seien «Christusmörder»
Ähnliches gilt für die scharfe Polemik gegen die als «Heuchler» qualifizierten «Schriftgelehrten und Pharisäer», denen der matthäische Jesus sein «Wehe» entgegenschleudert (23,13ff.). Auch wenn es sich dabei ursprünglich um innerjüdische Polemik handelt, können wir heute nicht davon absehen, dass ausgerechnet das «jüdischste» Evangelium antijüdische Vorurteile genährt hat. Die Frage, wie die bittere Polemik mit der Forderung vereinbar ist, nicht zu richten, um nicht selbst gerichtet zu werden (7,1-5), kann hier nur gestellt werden. Muss man Matthäus heute nicht nur «mit» Matthäus, sondern auch «gegen» Matthäus lesen? Noch schärfer gefragt: Kritisiert der Bergpredigt-Jesus den polemischen Jesus? Oder braucht es beides? Zum einen das Bekenntnis zu einem Gott, der seine Sonne scheinen lässt über Böse und Gute (5,43). Und anderseits die Warnung, dass sein Leben verfehlt, wer sich nicht am Wort Jesu orientiert, das zugleich ein Wort des Propheten Hosea ist: «Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer» (9,13; 12,7; Hos 6,6).
Auf die Frage, was «Matthäus heute lesen» heisst, habe ich keine abschliessende Antwort. Klar geworden ist mir jedoch, dass meine Lektüre nicht nur davon abhängt, wie ich auf das Matthäusevangelium blicke, sondern auch davon, wie ich auf das Heute blicke – und wie sich diese Perspektiven zueinander verhalten.
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Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).
- Im Folgenden spreche ich der Einfachheit halber von «Matthäus», lasse die Frage aber offen, ob der Text von einer Person oder von einem Kreis verfasst wurde. ↩
- Hubert Frankemölle, Matthäus, Kommentar 1, Düsseldorf 1999 (2. Auflage), 52. ↩
- Luise Schottroff, Der Anfang des Neuen Testaments. Matthäus 1-4 neu entdeckt. Ein Kommentar mit Beiträgen zum Gespräch, Stuttgart 2019 ↩
- Vgl. Matthias Konradt in: Matthäus neu lesen, Bibel und Kirche 74 (2019/3), 130-136. ↩
- Siehe Tania Oldenhage, Neutestamentliche Passionsgeschichten nach der Shoah. Exegese als Teil der Erinnerungskultur (Judentum und Christentum, Band 21), Stuttgart 2014, 33-114. ↩