Kirchen und staatliche Institutionen setzen sich in Luzern gemeinsam für suchtbetroffene Menschen ein. Daniel Kosch stellt das Buch vor, das aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums der „Kirchlichen Gassenarbeit Luzern“ erschienen ist.
Was hat ein Buch mit dem Titel „Kirchliche Gassenarbeit Luzern“* in einer Buchreihe verloren, die sich dem „Religionsrecht im Dialog“ verschrieben hat, und in der Bücher zur Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften, zum dualen System innerhalb der katholischen Kirche in der Schweiz und zu Fragen des Kirchenmanagements erschienen sind?
Eine erste Antwort auf diese Frage nach dem Konnex zwischen Gassenarbeit und Religionsrecht liefert der Untertitel, in dem von der „Zusammenarbeit von Kirchen und staatlichen Institutionen“ die Rede ist.
Menschen
Die Lektüre des Buches lässt dann allerdings tatsächlich anderes als Rechtsfragen in den Vordergrund treten, nämlich Menschen: Menschen, die sich aus Leidenschaft für das Evangelium für suchtbetroffene Menschen und für das Projekt „Gassenarbeit“ einsetzen. Menschen, die auf den Spuren Jesu in der Diakonie ihre Berufung entdecken. Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen drogensüchtig werden. Menschen, die ihr politisches Gewicht dazu nutzen, tragfähige Brücken zwischen aufsuchenden und aufmüpfigen Sozialarbeitenden und der Polizei zu bauen, die den Auftrag hat, Drogenkriminalität zu ahnden. Menschen, die Strukturen schaffen, und Menschen, die ihre Charismen einbringen.
Mit diesen Menschen, mit ihrem Einsatz und mit ihren Schicksalen, mit ihrem tatkräftigen Glauben und ihrem Sinn für Organisation und Zusammenarbeit im Dienst gemeinsamer Ziele macht dieses Buch auch die Kirche(n) sichtbar. Es lässt Kirche so in Erscheinung treten, wie Franziskus, der gegenwärtige Bischof von Rom, sie sich wünscht: „Nur wenn sich die Kirche an jene wendet, die am Rand der Gesellschaft stehen, erfüllt sie den Auftrag Jesu“ (12). Die Rede ist von einer Kirche, die dort aufbricht, „wo man es nicht erwartet: wo Not gelindert wird und wo es nicht um die Profilierung von Menschen oder Institutionen geht“ (41). Es geht um eine Kirche, „die Licht in die Schattenwelten bringt“, aber auch „Licht in den Schattenwelten entdeckt“ (45f.), weil sie die drogenabhängigen Mitmenschen nicht auf ihr Leid, ihre Probleme und ihre Traurigkeit reduziert, sondern auch ihre Stärken, Ressourcen, innovativen Ideen und ihre Feinfühligkeit entdeckt.
anschaulich, konkret
Schon diese Hinweise machen deutlich, dass keineswegs nur religionsrechtlich Interessierte dieses Buch mit Gewinn lesen werden, sondern auch
- Menschen, die sich für eine diakonische, sozial engagierte Kirche interessieren,
- Menschen, die sich fragen, wie ein charismatisches, zunächst stark von einer Gründerfigur geprägtes Projekt sich über dreissig Jahre entwickelt,
- Menschen, die genauer wissen wollen, was es konkret heisst, für suchtbetroffene Menschen und mit ihnen im Geist des Evangeliums zu leben – und was ein Angebot wie die Gassenküche für diese Menschen konkret bedeutet,
- Menschen, die sehen wollen, wie sich ökumenische Zusammenarbeit, aber auch Zusammenarbeit zwischen Kirchen und staatlichen Einrichtungen entwickelt und bewährt.
Aber gerade weil das Buch so anschaulich vom konkreten Projekt der kirchlichen Gassenarbeit in Luzern spricht, ist es auch für religionsrechtlich Interessierte und für die von Adrian Loretan betreute Buchreihe ein Gewinn. Denn es öffnet die Augen für den materiellen Gehalt vieler „grosser Wörter“ und Konzepte, die im Religionsrecht eine wichtige Rolle spielen:
Menschenwürde
Inhaltlich gefüllt wird z.B. der Begriff der Menschenwürde, die unterschiedslos allen zukommt und die Diskriminierung verbietet: „Drogenabhängige sind ein Teil der Gesellschaft, so wie Millionäre auch“, heisst es an einer Stelle (4). Und aus theologischer Sicht wäre zu ergänzen, dass sie auch genauso „Kinder Gottes“ und „Glieder der Kirche“ sind und einen Beitrag zum Aufbau des Leibes Christi leisten. Dieser Aspekt wird im abschliessenden Beitrag von Adrian Loretan über „Die Würde des Menschen auf der Gasse“ hilfreich und mit guten Hinweisen auf die kirchliche und juristische Lehre entfaltet (127ff.)
Leistungen der Kirche für die Gesellschaft
Konkret gefüllt wird auch das Konzept der „gesamtgesellschaftlichen Leistungen“ der Kirchen, die oft als Begründung für das Recht, Kirchensteuern zu erheben, oder für Staatsbeiträge und die Kirchensteuern von juristischen Personen angeführt werden. Diesbezüglich wird auch deutlich, dass die Kirchen, wenn sie solche Dienste an der Gesellschaft erbringen, sich keineswegs selbst säkularisieren oder Abstriche am „spezifisch Christlichen“ machen müssen. Im Gegenteil: Die Verwurzelung der Gassenarbeit in der Botschaft und im Verhalten Jesu ist offenkundig und biblisch besser begründbar als vieles andere im Leben der Kirche. Weil das „spezifisch Christliche“, wie es in der Gassenarbeit Gestalt annimmt, immer auch das „zutiefst Menschliche“ ist, steht es der Zusammenarbeit mit dem Staat nicht im Wege. „Partizipation am gesellschaftlichen Leben“ ermöglichen, „sich an der Würde des Menschen, der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität“ orientieren (Vorwort) ist zugleich zutiefst christlich und Fundament unserer offenen Gesellschaft und unsers Staatswesens.
Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften
Sehr deutlich wird schliesslich, wie fruchtbar ein grundsätzlich auf Kooperation angelegtes Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften für das Zusammenleben in der Gesellschaft ist. Das Projekt „kirchliche Gassenarbeit“ ist in dieser Form nur auf der Basis der staatlichen „Anerkennung“ der Kirchen und Religionsgemeinschaften denkbar. Diese Anerkennung hat – wie es schon der Begriff zeigt – nicht nur eine juristische Dimension, sondern besagt, dass der Staat „erkennt“ und wertschätzend „anerkennt“, was die anerkannten Religionsgemeinschaften auf der Basis des Geistes, der in ihr lebt, und der Werte, für die sie eintreten, für einen Beitrag leisten können.
Wenn ich etwas an diesem Buch kritisieren müsste (wie es sich für eine Buchbesprechung gehört, die nicht im Verdacht stehen will, verkappte Werbung zu sein), dann dies: Nicht nur der religionsrechtliche, sondern auch der theologische und ekklesiologische Gehalt der dargestellten Praxis verdienten eine vertieftere Auswertung. Gleichzeitig gehören die Konkretheit und die leser/innen-freundliche Überschaubarkeit des Buches zu seinen Stärken.
Daniel Kosch ist promovierter Bibelwissenschaftler und Generalsekretär der Römisch-katholischen Zentralkonferenz (Zusammenschluss der kantonalkirchlichen Organisationen) der Schweiz
Das Buch:
Adrian Loretan, Ueli Mäder, Sepp Riedener, Fridolin Wyss (Hg.), Kirchliche Gassenarbeit Luzern. Eine 30-jährige Zusammenarbeit von Kirchen und staatlichen Institutionen zugunsten von suchtbetroffenen Personen (ReligionsRecht im Dialog, Bd. 22), Lit-Verlag: Zürich 2016, 136 Seiten.
Beitragsbild: Jutta Vogel für Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern