Die Tübinger Antrittsvorlesung von Saskia Wendel zur Frage: „Welche Theologie hat Zukunft?“
Eine Antrittsvorlesung[1] gehört zu den tradierten Ritualen der Universität. Es ist allerdings noch nicht allzu lange her, dass dieses Ritual nur Männern vorbehalten war, schlichtweg weil es keine Professorinnen gab – und schon gar nicht in der Katholischen Theologie.[2] Aus diesem Grund habe ich meinen thematischen Überlegungen eine kurze Vorbemerkung vorgeschaltet unter dem Titel:
1. „A chair of One‘s own!“
Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf ironisierte in ihrem Buch „A room of One’s own“ die Praxis der Exklusion von Frauen aus dem Wissenschaftssystem in der Schilderung des Besuchs einer Frau an der fiktiven Universität „Oxbridge“. Die Frau betritt ein Rasenstück: „Sofort tauchte die Gestalt eines Mannes auf, um mich abzufangen. (…) Seine Miene drückte Entsetzen und Entrüstung aus. (…) er war der Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Nur Professoren und Gelehrte haben hier Zutritt; mein Platz ist der Kies.“[3] Sie geht daraufhin zur berühmten Universitätsbibliothek und öffnet die Tür: „daraus tauchte, wie ein Schutzengel, der einem den Weg mit einem flatternden schwarzen Talar statt mit weißen Flügeln versperrt, ein mißbilligend dreinschauender, silberhaariger, freundlicher Gentleman auf, der, während er mich zurückscheuchte, leise bedauerte, daß Damen in der Bibliothek nur in Begleitung eines Professors der Universität oder in Besitz eines Empfehlungsschreibens zugelassen seien.“[4] Für Virginia Woolf gab es nur einen Ausweg aus dieser Misere: ein eigenes Zimmer zum Arbeiten und vor allem eigenes Geld, sprich: finanzielle wie persönliche Unabhängigkeit und Entfaltungsmöglichkeit.
Das scheint heute anders zu sein. Doch genau besehen ist es immer noch keine Selbstverständlichkeit, dass eine Frau eine Antrittsvorlesung hält. In der Perspektive einer Hermeneutik des Erinnerns betrachtet ist es folglich unabdingbar, sich daran zu erinnern, dass eine Frau, die ihre Antrittsvorlesung hält, zumal in Katholischer Theologie, auf den Schultern derjenigen Frauen steht, die in langen und mühsamen Kämpfen nicht nur das eigene Zimmer und eigenes Geld, sondern auch den eigenen Lehrstuhl erstritten haben: A chair of One’s own! Soweit meine kurze Vorbemerkung. Nun zum Thema, über das ich heute zu Ihnen sprechen möchte:
2. Welche Theologie hat Zukunft?
Genau genommen wird in dieser Frage sowohl nach der zukünftigen Akzeptanz wie Relevanz der Theologie gefragt, sei es in individueller Hinsicht, bedeutsam für die einzelnen Menschen in ihren konkreten Lebenssituationen, sei es in öffentlicher, gesellschaftlicher Hinsicht. Diese Frage ist mit Blick auf die aktuelle Situation der Theologie an den Universitäten im deutschsprachigen Raum hochaktuell. Die Theologien haben, so befürchten manche, an den Universitäten bald ausgedient, weil sie von zwei Seiten in ihrer Existenz bedrängt werden: von Seiten bestimmter Diskurse in Wissenschaft und Gesellschaft, die ihr die Wissenschaftlichkeit und soziale Bedeutung absprechen, und von Seiten mancher Kräfte in Kirchen und Religionsgemeinschaften, die die Theologien an außeruniversitäre Einrichtungen binden möchten, um eine lehrkonforme Theologie sicher zu stellen. Für die einen betreiben Theolog*innen nichts anderes als Ideologie, für die anderen ist Theologie primär Legitimationsinstanz für tradierte Lehren.
In den theologischen Verteidigungsstrategien dominieren zum einen Diskurse über die Aufgabe und die Notwendigkeit der Theologie etwa in der Ausbildung der Anwärter*innen für kirchliche Ämter und Dienste und für den Lehrberuf samt den Beschwörungen, dass diese Funktion doch die Bestandsgarantie der theologischen Fakultäten und Institute sei. Zum anderen sind mit „tu quoque“-Argumenten angereicherte Apologien der Theologie als Wissenschaft vorherrschend, und das gegenüber denjenigen, die ihr mangelnde Wissenschaftsfreiheit, kirchliche Abhängigkeit und ideologische Gebundenheit vorwerfen. Doch erstens könnte die Ausbildungsfunktion ja auch von nicht-universitären Einrichtungen übernommen werden, ohne dass dann dadurch schon Theologie überhaupt verschwände, auch wenn wir vielleicht diese Form von Theologie nicht so attraktiv fänden, zweitens könnte es ja zumindest theoretisch auch Theologie als universitäres Fach geben, und das nicht mehr in der tradierten institutionellen Verfasstheit als eigenständige konfessionell ausgerichtete Fakultäten oder Institute, sondern zum Beispiel in Form eines Departments für religious studies. Und drittens sind „tu quoque“- Argumente schwache Argumente, die nicht wirklich weiterführen. Kurz gesagt: Wo der gesellschaftliche Rückhalt bröckelt, helfen weder Bezüge auf überkommene Gepflogenheiten weiter noch Rückzugsversuche in die vermeintlich sichere Burg.
Zudem handelt es sich um Argumente aus einer Verteidigungshaltung heraus und nicht um Argumente, die deutlich machen, weshalb Theologie per se und nicht nur als Dienstleisterin in einem ihr zugewiesenen Aufgabenbereich Relevanz und Akzeptanz zukommt. Außerdem konzentrieren sie sich meist auf die Standortfrage der Theologien und auf die Frage, ob und wenn ja, wie ihr Status als eigenständige Fakultäten und Institute gehalten werden kann. Das ist zwar durchaus ein wichtiger Punkt, doch die Frage nach der Zukunft der Theologie richtet sich ja nicht nur darauf. Genau besehen ist sie ja auch in Zusammenhang mit der Zukunft der Kirchen und der Religionsgemeinschaften überhaupt zu sehen, nach der zukünftigen Bedeutung von Religiosität und Religion generell.
Die Frage danach, welche Theologie unter den heutigen Bedingungen (noch) Zukunft haben kann, wird daher nicht funktional, sondern inhaltlich in Bezug auf das Verständnis von Theologie zu reflektieren sein, um von dort her dann auch den Beitrag zu entfalten, den die Theologie auch zukünftig leisten kann. Ein Zitat aus dem Römerbrief gibt dafür einen Hinweis: „Auf dass ihr überreich seid in der Hoffnung“ (Röm 15,13). Darin ist das Kernmotiv religiöser Sinndeutungen – nicht nur christlicher Provenienz – und so auch der auf sie bezogenen Theologien zum Ausdruck gebracht: Die Hoffnung auf eine definitive, in diesem Sinn unbedingte Rettung aus Unheil, aus Leid, aus ungerechten Strukturen und Verhältnissen, aus tödlicher Gefahr, aus Zerstörung und Tod.
In meinen Überlegungen zu der Frage „Welche Theologie hat Zukunft?“ schließe ich an jenes Kernmotiv an, und dies in folgenden Schritten: Theologie ist erstens als Reflexion religiöser Selbst- und Weltdeutungen und entsprechender Glaubenspraxen, zweitens die vernünftige Rechtfertigung einer „Hoffnung, die uns erfüllt“ (1 Petr 3,15) angesichts der „Verletzlichkeit allen Lebens“ (J. Butler) unter, drittens, der Voraussetzung konkreter Grundhaltungen wissenschaftlich-theologischer Praxis
3. Theologie als Reflexion religiöser Selbst- und Weltdeutungen und entsprechender Glaubenspraxen…
Zunächst eine grundsätzliche Anmerkung zum Theologieverständnis, das ich hier voraussetze: Theologie ist Reflexion einer Lebensdeutung und Praxis, in deren Zentrum der Gebrauch des Zeichens “Gott“ bzw. „Göttliches“ steht. Diese Bestimmung von Theologie bezieht sich neben ihrer eher sprach- und handlungstheoretischen, pragmatischen Perspektive auf die anthropologische Wende in der Theologie des 20. Jh., weg von der abstrakten Seinsfrage und Wesensmetaphysik hin zur Frage nach den konkreten Bedingungen des Vollzuges menschlicher Existenz und zum Ausgangspunkt beim einzelnen Dasein und seiner Erfahrung. Sie erweitert diese Wende jedoch erstens insofern, als nicht mehr primär die Frage nach dem Vernehmen-Können göttlicher Offenbarung den Reflexionsgang leitet, sondern die Frage nach dem Aufkommen, der Bedeutung und dem Vollzug von Religiosität.
Das impliziert eine größere Universalität und Präzision im Blick auf den Religionsbegriff und auch eine breitere interreligiöse Anschlussfähigkeit. Zweitens wird die anthropologische Wende dadurch erweitert, dass sie streng genommen nicht mehr nur „anthropologisch“ aufzufassen ist, also nur auf dasjenige bewusste Leben konzentriert, das wir „Erdlinge“ und Abkömmlinge des Anthropozän „menschlich“ nennen, auch wenn wir aus unserer Erfahrungsperspektive heraus nicht anders können als zunächst einmal solcherart „anthropologisch“ anzusetzen. Denn es könnte ja noch andere Formen bewussten Lebens geben, ausgestattet mit all den Vermögen, die wir bewusstem Leben zuschreiben. Eine dritte, in ihrer Radikalität und Brisanz für die Theologie noch nicht umfänglich durchdachte Weitung dieser Wende ist diejenige auf Künstliche Intelligenz hin, also auf künstlich erzeugtes bewusstes Leben.
Stellt man nun aber den Existenzvollzug des einzelnen Daseins ins Zentrum der anthropologischen Perspektive, so auch dessen Dispositionen: Natalität, Vulnerabilität, Kontingenz, Mortalität. Judith Butler spricht hier treffend von der „Verletzlichkeit allen Lebens“, wobei darin auch das nichtmenschliche Leben mit einbezogen ist. Eine Verletztlichkeit zudem, die nie nur rein individueller Natur ist, sondern universal, sowohl in gesellschaftlich-politischer Hinsicht wie auch in ökologisch-kosmologischer Hinsicht. Das Dasein ist in dieser existenziellen Situation, in die es von Beginn an gestellt ist, dazu gezwungen, sein Leben zu deuten, um ihm einen Sinn zu geben, der dem Leben selbst prima facie nicht zu eigen zu sein scheint. Das Leben könnte letztlich sinnlos sein, absurd.
Zugleich ist das Dasein aber genau zu diesen Deutungen fähig: Es ist in der Lage, Sinndeutungen hervorzubringen, eben weil es nicht nur Leben, sondern bewusstes Leben ist und damit über all die Vermögen verfügt, derer es bedarf, um sinndeutend tätig sein zu können. Doch genau darin, in dieser Doppelung des „fähig und gezwungen zugleich“ tritt erneut die Ambivalenz, die Fragilität, eben die Verletzlichkeit und Kontingenz des Daseins zu Tage. So sehr wir es auch begehren: Aus dieser existenziellen Situation können wir nicht einfach qua souveränem Beschluss heraustreten. Wir sind ihr bleibend unterworfen, so frei wir in unserem Wollen und Können auch sein mögen. Diese Perspektive gilt meines Erachtens auch dann, wenn wir das enge Korsett des Anthropozentrismus verlassen.
Im Blick auf unsere existenzielle Situation bringen wir nun unterschiedliche Lebensdeutungen hervor, nichtreligiöse wie religiöse. Die Erfahrung der „Verletzlichkeit allen Lebens“ führt keineswegs notwendigerweise zur Religion, sie kann auch anders gedeutet werden. Religion kommt jedoch dann ins Spiel, wenn sich das verletztliche Leben auf Unbedingtes hin ausrichtet und auf die Existenz von Unbedingtem im Sinne eines schlechthin unbedingten Seins oder Lebens vertraut. Auch diese religiösen Selbst- und Weltdeutungen treten im Plural auf, non-theistisch wie theistisch ausgerichtet, und die christliche Deutung ist zumindest phänomenologisch gesehen eine unter vielen.
Die religiöse Bezugsform auf Unbedingtes im Modus von „glauben“ kann nun in einer Theologie post et secundum Kant nicht mehr im Sinne eines theoretischen Für-wahr-Haltens bestimmt werden, und in ihrer Referenz auf Unbedingtes beantwortet die Theologie auch nicht in erster Linie die ontologische Frage „Warum ist etwas und nicht nichts?“ oder die epistemologische Frage „Was kann ich wissen?“ – wenn auch die Klärung ontologischer Verpflichtung aus Gründen der Konsistenz und Kohärenz der Begründung religiöser Überzeugungen durchaus auch ins Spiel kommt. Die grundlegende Frage der Theologie ist die Frage, die Immanuel Kant der Religion zuwies: „Was darf ich hoffen?“, und diese folgt der Frage „Was soll ich tun?“ Entsprechend gehört die Gottesfrage der praktischen Vernunft zu, mag es auch Rückkopplungen zur Epistemologie und zur Ontologie und damit zum Feld der theoretischen Vernunft geben.
Eine Theologie, die sich die Frage „Was darf ich hoffen?“ stellt, ist denn auch eine Theologie, die leid- und unrechtssensibel ist, und zwar auf konkretes Leid und konkretes Unrecht in je unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen bezogen, und damit auch auf konkrete Macht- und Herrschaftsverhältnisse bezogen. Ihre Perspektive ist nicht nur aufs Individuelle bezogen, sondern auf das Allgemeine, auf das Systemische, Strukturelle. Theologie ist, um hier eine Formulierung von Theodor W. Adorno aufzugreifen, von der „Begierde des Rettens“ getrieben, von der Sehnsucht nach Heil und Befreiung. Sie reflektiert in unterschiedlicher Art und Weise und in unterschiedlichen religiösen Systemen ein konkretes Heilsversprechen. Damit bin ich bei meinem zweiten Schritt angelangt: Theologie…
4. … ist die vernünftige Rechtfertigung einer „Hoffnung, die uns erfüllt“ (1 Petr 3,15) angesichts der „Verletzlichkeit allen Lebens“ (J. Butler)
Es gilt, ein wenig über die Hoffnung zu sprechen, um die die religiösen Deutungen sich drehen. Es gibt einen Philosophen des 20. Jh., der wie kein anderer das Hoffnungsthema reflektiert und detailliert entfaltet hat: Ernst Bloch. Der laut eigenem Bekunden nach nichtgläubige Jude Bloch hat die Hoffnung als Kernmotiv von Religion eindrücklich auf den Punkt gebracht. „Denken heißt Überschreiten“[5], so lautet der berühmte Ausgangspunkt seiner Überlegungen in seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung“, und dehnt man das auf alle Vollzüge aus, so impliziert das die Kennzeichnung bewussten Lebens als permanentes Transzendieren, gerade auch seiner selbst. Kein statischer Seins- und Wesensbegriff regiert hier das Verständnis von Welt und Mensch, sondern die Permanenz eines Geschehens. Das Überschreiten ist auf das Noch-Nicht-Gewordene ausgerichtet, und damit tritt es in Bezug zu einer Haltung der „Erwartung, Hoffnung, Intention auf eine noch ungewordene Möglichkeit.“[6] Ausgerichtet also auf einen u-topos, einen noch nicht realisierten Zustand, der von Bloch ganz klar als ein gesellschaftlicher Zustand mitten im Hier und Jetzt verstanden wird. Bloch erkennt ganz explizit an, dass diese Hoffnung, soll sie nicht vorläufig sein, eine eschatologische Dimension besitzen muss. Drastisch formuliert Bloch die unausweichliche, doch so oft verdrängte Realität des Endes, des Todes, den „härtesten Gegenschlag zur Utopie“, an dem letztlich alle immanenten Geschichtsteleologien und Utopievorstellungen zerschellen.[7] Es geht um die Hoffnung auf „Erlösung vom Übel, auf Freiheit zum ‚Reich‘.“[8] Damit ist die Sphäre des Religiösen berührt und die Hoffnung darauf, was christlich gesprochen „Reich Gottes“ heißt. In diesem Zusammenhang erfahren die Religionen durch Bloch eine enorme Wertschätzung, und er erfasst präzise das, was sie eigentlich als spezifische Form des Überschreitens ausmacht: „Dies spezifische Überschreiten erweist sich (…) als das einer nun allerstärksten Hoffnung, und zwar des Totum einer Hoffnung, das die ganze Welt mit einer ganzen Vollkommenheit in Rapport setzt. (…) wo Hoffnung ist, ist Religion (…)“[9] Oder anders formuliert: „das in Religion einzig bedeutbare Erbsubstrat: Hoffnung in Totalität zu sein.“[10]
Für Bloch ist diese eschatologische Hoffnung messianisch konturiert, und daher schließt sie ihm zufolge einen traditionellen Theismus mit ein, d.h. die Vorstellung von einem geschichtsmächtig handelnden, in diesem Sinne allmächtigen Gott als Garant der Realisierung des Erhofften, ganz der Kantischen Postulatenlehre entsprechend. Bloch erweist sich an dieser Stelle als recht konventionell denkender Atheist insofern, als er einen traditionellen Theismus als Möglichkeitsbedingung eschatologischer Hoffnung voraussetzt, den er dann als Projektion abweist. Er kommt leider gar nicht auf die Idee, danach zu fragen, ob die Idee des Messianischen und die eschatologische Hoffnung wirklich zwangsläufig nur mit einem traditionellen Theismus verknüpft sein kann und muss.
Bloch ist der Auffassung gewesen, dass Hoffnung nicht mit Zuversicht gleichbedeutend sei, denn sie besitze keine Garantie auf Erfüllung, sie bleibe prekär und könne vereitelt werden. An dieser Stelle kommt nun ein Theologe ins Spiel, der mit Bloch über ihn hinausgehend eine Theologie der Hoffnung entworfen hat: Jürgen Moltmann. Er hält an dieser Stelle zu Recht dagegen, dass Zuversicht nicht Sicherheit oder Heilspositivismus impliziere: Zuversicht ist keine Gewissheit im Sinne absoluten Wissens.[11] Sie gründet auf Vertrauen, Glauben genannt, für die allerdings Gründe genannt werden müssen, soll sie sich nicht von vornherein dem Verdacht des Illusionären, der trügerischen Projektion aussetzen.
Bloch betonte, dass Hoffnung nicht abstrakt, sondern konkret sein müsse, um wirklich verändernde Kraft haben zu können: Kein leeres Ideal, sondern auf konkrete Objekte, konkretes Handeln bezogen, geschichtlich und gesellschaftlich vermittelt, nicht nur subjektive, sondern objektive Hoffnung, materialistisch, nicht idealistisch bestimmt im Sinne eines konkreten Bezugs auf Materie, Gehalt, Körper, Stoff. Für Bloch konkretisierte sich das im Politischen und Sozioökonomischen, genauer hin in der Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft und der Etablierung dessen, was Bloch am Ende des Prinzips Hoffnung als Heimat bezeichnet, sozusagen die säkulare Benennung dessen, was christlich Reich Gottes bzw. Leben in Fülle heißt.[12]
Für Moltmann tat sich hier erneut ein Problem auf: Einerseits entfaltete Bloch mit großer intellektueller Stärke die eschatologische Dimension der Hoffnung. Andererseits aber wies er genau dies als illusionär ab und bezog sich dabei auf eine von Hegel und Marx inspirierte Geschichtsteleologie, die er doch an anderer Stelle eigentlich bereits hinauskomplimentiert hatte. Moltmann zufolge sprengt gerade die Eschatologie mit ihrem klaren Bekenntnis zur Auferstehung der Toten das Blochsche „Prinzip Hoffnung“.[13] Diese eschatologische Hoffnung sei nicht abstrakt, sondern konkret, nicht rein idealistisch, sondern materialistisch – konkrete Utopie. Die Gemeinsamkeit zwischen Blochs „Prinzip Hoffnung“ und der „Theologie der Hoffnung“ liege aber darin, dass die eschatologische Hoffnung und damit die christliche Zuversicht recht verstanden keine bloße Jenseitsvertröstung darstellt, kein Opium des Volkes, sondern auf die geschichtlichen und gesellschaftlichen Realitäten bezogen ist:
„Sie [die christliche Zuversicht] wird sich zusammen mit dem ‚Prinzip Hoffnung‘ nicht abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, mit ihren vermeintlichen Zwangsläufigkeiten und den Gesetzen des Bösen und des Todes. Sie wird sich auch nicht abfinden mit utopischen Vorentwürfen der Zukunft, sondern wird auch diese überschreiten. Sie wird sie überschreiten nicht in eine Leerheit des Offenen, sondern in die Richtung, in die die Verheißung Gottes den Menschen ans Elend der Kreatur weist. (…) Damit wird dier eschatologische Hoffnung zur geschichtlichen Treibkraft für schöpferische Utopien der Liebe zum leidenden Menschen und seiner ungelungenen Welt der unbekannten, doch verheißenen Zukunft Gottes entgegen.“[14]
Nicht nur individuelle Eschatologie im Sinne etwa der postmortalen Persistenz der Person ist also anvisiert, sondern universale Eschatologie, und auch nicht nur futurisch, sondern ganz klar präsentisch: die Hoffnung auf die Entmachtung sehr konkreter sozialer, politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Mächte und Gewalten, die Unrechtssysteme etablieren. Futurische Eschatologie ist niemals von präsentischer Eschatologie zu trennen: die Jetztzeit, so kann man mit Walter Benjamin formulieren, und nicht erst das Ende der Zeit, ist schon messianische Zeit und umgekehrt.[15] Der Augenblick trägt das Messianische verborgen in sich, und es tritt in jedem Handeln zu Tage, das an der Verwirklichung des Gottesreiches arbeitet. Diese Hoffnung ist nicht auf Christ*innen beschränkt, genau besehen auch nicht auf Religiöse und auch nicht nur auf das bewusste Leben, das wir menschlich nennen. Sie gilt allen jenseits des Anthropozän: einem jeglichen verletzlichen Leben.
Die Relevanz der Theologie liegt meiner Ansicht nach genau darin: diese Hoffnung zu reflektieren und als reale Möglichkeit zu begründen. Sie hält eine Möglichkeit offen, die für das verletzbare Leben buchstäblich lebenswichtig ist. Sie hilft, dieses Leben zu tragen und nicht nur zu ertragen, ganz ohne Vertröstungsideologie und ohne defätistische Verteidigung des Status Quo. Darin leistet sie durchaus auch einen Dienst, aber nicht lediglich an Anwärterinnen bestimmter kirchlicher oder religionsgemeinschaftlicher Berufsgruppen, sondern an allen, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben. Das aber setzt voraus, dass Theologie, will sie Zukunft haben, an der Realisierung solch einer Perspektive arbeitet. Damit komme ich zu meinem dritten und letzten Schritt: Theologie realisiert dies…
5. … im Vollzug konkreter Grundhaltungen wissenschaftlich-theologischer Praxis
Anvisiert ist keine Wesensbestimmung der Theologie, von der dann behauptet würde, dass sie Theologie notwendig und unentbehrlich mache. Mir geht es hier vielmehr um ein dynamisches doing theology, um ein performatives Verständnis von Theologie als Vollzug. Und darum, was dieses doing theology trägt und worin es sich zugleich auch ausdrückt: um Grundhaltungen. Die altertümlich klingende Bezeichnung für solche Grundhaltungen heißt „Tugend“. Der Begriff ist allerdings prekär besetzt. Doch eigentlich bedeutet „Tugend“ schon bei Aristoteles nichts anderes als eine feste Grundhaltung, die nicht natürlich angelegt ist, sondern auf Bildung (etwa im Blick auf die dianoetischen Tugenden) und auf Sozialisation (im Blick auf die ethischen Tugenden) zurückgeht. Aristoteles fasste diese Grundhaltungen performativ auf: Sie bringen, so schrieb er in der „Nikomachischen Ethik“, die Akte wesensmäßig hervor, aus denen sie sich herausgebildet haben, sie stünden in unserer Macht und seien etwas Freiwilliges.[16] Aristoteles zufolge gibt es auch spezifische feste Grundhaltungen im Feld der wissenschaftlichen Erkenntnis und der, wie er formulierte, philosophischen Weisheit. Das lässt sich auch auf das theologische Tätig-sein übertragen.
Die US-amerikanische Theologin Catherine Cornille z. B. hat daher im Blick auf die Komparative Theologie, also eine konkrete Form des Theologie-Treibens, wissenschaftlichen Grundhaltungen formuliert, die diese Form von Theologie bestimmen.[17] An dieser Idee, „Tugenden“ für das Theologie-Treiben zu formulieren, habe ich mich orientiert, dabei aber die Perspektive auf die Theologie generell, also nicht nur auf ein komparativ-theologisches Projekt bezogen, erweitert. Was könnten die festen Grundhaltungen sein, die performativ mit einem zukünftigen doing theology generell verbunden sind?
5.1 Epistemisch bescheiden
„Denken heißt Überschreiten“ hieß es bei Bloch. Jenes Überschreiten birgt das Empfinden eines Mangels in sich, welches das Überschreiten initiiert. Dem Überschreiten wohnt eine Sehnsucht inne, nach dem „Anderswo“, dem „u-topos“, nach etwas, was in religiösen Selbst- und Weltdeutungen „Heil“ genannt wird. Jenes „Anderswo“ jedoch entzieht sich der definitiven Bestimmung – die Grundintuition negativer Theologie – und auch für Ernst Bloch ist das Überschreiten auf einen „u-topos“ hin ein Weg ins Offene. Theologie, die sich als solch ein Denken versteht, entsagt dem Begehren nach sicherem Wissen und Gewissheit und wagt, ihrem Reflexionsgang ein agnostisches Moment einzuschreiben. Sie ist bleibend „auf der Suche nach dem großen Vielleicht“ (F. Rabelais). Im Verzicht auf einen überzogenen Gewissheitsanspruch liegt die Stärke und das Zukunftsweisende dieses Theologisierens, auch weil man sich darin eine Offenheit bewahrt, die vor fundamentalistischen Verengungen schützt. Der Mut zum „großen Vielleicht“ schließt zudem die Existenz Gottes ja gerade nicht a priori aus, impliziert also keinen Atheismus – das wäre für eine Reflexion und Rechtfertigung einer Lebensdeutung, die sich unter das Zeichen „Gott“ stellt, ja auch nichts anderes als ein Selbstwiderspruch, zumal Atheismus schlichtweg einen quasi umgekehrten überzogenen Gewissheitsanspruch in Sachen Religion und Glaube darstellt.
5.2 Intellektuell redlich
Intellektuelle Redlichkeit umfasst Beides: zum einen die bekannte Bereitschaft, die „Hoffnung, die uns erfüllt“, vernünftig zu rechtfertigen, also in der Weise eines diskursiven, argumentativen Legitimationsverfahrens religiöse Praxen und Überzeugungen in ihrem Geltungsanspruch auszuweisen und konkrete Gehalte des Glaubens nicht allein narrativ zu tradieren und hermeneutisch auszulegen, sondern eben auch begrifflich zu bestimmen. Dazu gehört allerdings auch die Bereitschaft, das, was den Kriterien Kohärenz, Konsistenz und normative Richtigkeit nicht bzw. nicht mehr entsprechen kann, zu transformieren oder auch, so Transformation nicht möglich ist, zu verabschieden. In diesem Zusammenhang zeigt sich die intellektuelle Redlichkeit theologischer Reflexion auch in der Bereitschaft, sich keinen gesellschaftlichen Realitäten und keinen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen von vornherein zu verschließen, nur weil sie angeblich oder tatsächlich nicht mehr mit bestimmten Glaubensüberzeugungen zusammenpassen.
Zum anderen bedeutet intellektuelle Redlichkeit aber auch die Haltung, aus der heraus dieser Diskurs zu führen ist: Offenheit für die Argumente und Positionen der Anderen, Respekttoleranz gegenüber Konzeptionen und Positionen, die ich nicht teile, in Anerkennung des Rechts der Anderen, diese Positionen zu vertreten, Sachlichkeit der Debatte unter Trennung von Person und Sache, gleichwohl auch Transparenz meines eigenen Interesses und meiner eigenen Haltung, sowie die Klarheit darüber, dass kein Diskurs, so auch kein theologischer, leider gänzlich machtfrei sich vollzieht. Was die Haltung der intellektuellen Redlichkeit anbelangt, wird man leider feststellen müssen, dass hier derzeit in einigen theologischen Debatten und Auseinandersetzungen durchaus Luft nach oben ist, und man fragt sich, woran das liegt. Vielleicht am Zwang zur Selbstprofilierung innerhalb eines kleiner werdenden Fachs? An gesellschaftlich immer bedrängender werdenden Diskursverschiebungen, die Anlass zur Sorge geben müssen?
5.3 Freimütig
Solch eine Form des Theologisierens benötigt jedoch den nötigen Freiraum und unter gegenwärtigen Bedingungen auch eine große Portion Freimut (parrhesia). Von allen Anwürfen gegenüber den konfessionell gebundenen Theologien ist derjenige der mangelnden Wissenschaftsfreiheit derjenige, der sich nicht mit guten Gründen abweisen lässt. Die Theologie wird in ihrem überschreitenden Denken eingehegt, nicht nur durch kirchenrechtliche Bestimmungen, durch lehramtliche Kontrolle der Lehre und der Lebensführung, durch intransparente nihil obstat Verfahren usw. Theologie wird letztlich durch die Vorstellung in ihrer Freiheit beschnitten, dass die Richtschnur des Theologisierens die Orientierung an auf Offenbarung zurückgehende „wahre“ Gehalte sei, die Orientierung an einem angeblich definitiv mitgeteilten göttlichen Willen und einer klar zu Tage liegenden göttlichen Schöpfungsordnung, gegen die man nicht verstoßen dürfe. Die Orientierung an einem als eindeutig und unveränderlich konstruierten Verständnis Heiliger Schriften. Die Auffassung von der Unveränderlichkeit und ewigen Geltung von Glaubensüberzeugungen, eben weil sie letztlich auf Offenbarung zurückgingen bzw. mit der natürlichen, gottgewollten Ordnung zusammenhingen. All dies zusammengenommen ist genau besehen die Wurzel des Problems mangelnder theologischer Wissenschaftsfreiheit.
Doing theology wird jedoch nur dann eine Zukunft haben, wenn es sich in der gebührenden wissenschaftlichen Freiheit vollziehen kann. Hier wird auf mehreren Ebenen anzusetzen sein: an einer Grundlagenreflexion über die Bedeutung von Offenbarung und über das Aufkommen religiöser Überzeugungen sowie über deren Kriteriologie, über die Veränderlichkeit von Glaubensgehalten, über die Transformationsmöglichkeit von Glaubenspraxen und von religiösen Organisationsformen und Institutionen. An einer Bestimmung des Glaubens nicht als Verhältnis des Gehorsams einem göttlichen oder kirchlichen Souverän gegenüber, nicht als Unterwerfung und Unterordnung, sondern als ein Verhältnis der Freiheit in Anerkennung anderer Freiheit, sei es der göttlichen, sei es der menschlichen, sei es der eigenen, sei es die der anderen. Es wird also zukunftsentscheidend für die Theologien sein, ob es gelingt, entsprechend zu diesen Verhältnisbestimmungen die Relation der Theolog*innen zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften, denen sie angehören, als wirkliches Freiheitsverhältnis zu realisieren. Dazu gehört dann auch, dem doing theology zukünftig keine zu eng gefassten Richtlinien aufzubürden und rote Linien zu ziehen, die angeblich nicht überschritten werden dürften.
Angesichts der aktuellen rechtlichen Bestimmungen brauchen Theolog*innen jedoch insbesondere Freimut, parrhesia, nicht nur um ihre wissenschaftliche Freiheit zu erkämpfen, sondern auch dazu, um neue Formen des Theologisierens zu entwickeln, überkommene Traditionen zu kritisieren und neue theologische Konzepte zu entwerfen, teilweise auch in intelligibler Radikalität. Denn all dies erzeugt selbstverständlich auch Widerstände. Auf jeden Fall aber erfordert parrhesia, der Mut zur freien Rede, Freiheit: „Wo Gehorsam herrscht, da kann es keine parrhesia geben.“[18] schrieb Michel Foucault in „Der Mut zur Wahrheit“. Freiheit und Freimut bedingen einander wechselseitig. Nur wo das eine garantiert ist, kann es das andere geben, wo das eine stattfindet, wird das andere realisiert.
5.4 Sich selbst redigierend
Es gibt einen Aufsatz des französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard mit dem Titel „Die Moderne redigieren“[19], in dem er darlegt, was ihm zufolge die Kritik an bestimmten Aspekten dessen bedeutet, was er unter „Moderne“ versteht. Damit ist ein Denken der Moderne gemeint, dass sich selbst auf den Prüfstand stellt, ohne die Moderne gänzlich hinter sich zu lassen. Lyotard machte im Rekurs auf Sigmund Freuds Aufsatz „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“[20] deutlich, dass solch ein Redigieren nicht nur im Erinnern und Aufdecken des verborgenen Vergangenen besteht. Denn im Aufkommen von Erinnerungen setzen zugleich Widerstände ein. Die Folge ist der Wiederholungszwang der Dispositionen, der den Impuls der Erinnerung ersetzt. Das Bestehende wird nicht durchbrochen, sondern ggf. in anderer Form weitergeführt.
Für Freud tritt daher das Durcharbeiten zwingend an die Seite des Erinnerns, um den Wiederholungszwang durchbrechen zu können und so auch die eingeschriebenen Dispositionen aufbrechen zu können. Dieses Durcharbeiten ist alles andere als einfach: Zu ihm gehört das Sich-Aussetzen an leidvolle Erfahrungen und erlebte Traumata, gehört die geschärfte Aufmerksamkeit für alles, was geschieht und geäußert wurde und wird, das Zulassen freier Assoziationen. Dem erinnernden Durcharbeiten geht es nicht primär um die Erkenntnis des Vergangenen, sondern um das Bewältigen der Gegenwart und der Zukunft aus der Erinnerung heraus. Für Freud gehört die Technik des Durcharbeitens wesentlich zum Emanzipationsprozess des Subjekts hinzu.
Doing theology unter den Bedingungen spätmoderner Kulturen und Gesellschaften erfordert genau diese Technik des Durcharbeitens der eigenen Traditionen, Überzeugungen, Praxen, Systeme, um so dem auf die Spur zu kommen, was verdrängt, verkannt, verborgen war und ist. Politische Theologien sprechen hier von „gefährlicher Erinnerung“, Feministische Theologien von „Hermeneutik des Verdachts“. Aber Erinnerung und Verdacht allein reichen nicht aus. Es braucht das ehrliche, darin auch leidvolle, ungeschminkte theologische Durcharbeiten, das Redigieren der eigenen Überzeugungen und Praxen, ohne sie jedoch gänzlich hinter sich zu lassen. Theologisches Redigieren bedeutet somit auch, sich den eigenen Schuldverstrickungen zu stellen, diese offenzulegen und sie zu bearbeiten. Den eigenen Beitrag an Legitimationsdiskursen für Herrschaftspraktiken und -strukturen, für toxische Systeme. Redigieren bedeutet: Theologische Begriffe, Konzepte, Modelle, Argumentationslinien, Denkformen, Methoden – alles auf den Prüfstand zu stellen dabei nichts für unantastbar zu halten und zu erklären und in diesem Sinne wirklich radikal, an die Wurzel gehend, theologisch zu tätig sein. Das Ziel dieser Übung ist nicht Destruktion, wie manche befürchten oder immer wieder auch als Gefahr beschwören, sondern – mit Hegel und Adorno gesprochen – bestimmte Negation: Transformation des Alten, verbunden mit Kreation von Neuem, und das im Durcharbeiten des Tradierten. Auch hier gilt ja: Denken heißt überschreiten.
5.5 Widerständig
Gerade weil im Zentrum des doing theology das „Prinzip Hoffnung“ steht, eingedenk des „Elends der Kreatur und der ungelungenen Welt“, und gerade weil dies in religiös ausgerichteter Perspektive weder nur eine futurische noch eine lediglich individuelle eschatologische Hoffnung bedeutet, gerade deshalb gehört es zur bleibenden Verpflichtung der Theologie, sich nicht in kirchliche Binnendiskurse zurückzuziehen oder primär individuelle spirituelle Bedürfnisse zu bedienen. Theologie wird nur dann auch zukünftig in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, wenn sie sich nicht von ihrer öffentlichen, gesellschaftlichen, politischen Bedeutung dispensiert. Anders formuliert: Theologie könnte zwar selbstverständlich durchaus noch existieren, wenn sie sich in ausschließlich von Kirchen und Religionsgemeinschaften getragene Einrichtungen zurückzieht und sich so in ihrem Auftrag nur noch von den Kirchen und Religionsgemeinschaften her definiert. Allerdings wäre dies nur noch ein kümmerlicher Schein dessen, was eigentlich ihr Auftrag und ihre Verantwortung ist, nämlich von der Gesellschaft her, deren Teil die religiösen Institutionen und Organisationen sind, auf diese hin zu wirken. Der Rückzug aus staatlichen Institutionen leistete der Privatisierung des Religiösen nur weiteren Vorschub und trägt zu einem Abgleiten ins Sektiererische bei. Das wäre nichts anderes als der Versuch purer Bestandssicherung um den hohen Preis des Verlustes öffentlicher Wahrnehmung und gesellschaftlicher Relevanz.
Und auch, wenn religiöse Überzeugungen nicht ungefiltert in öffentliche bzw. politische Diskurse hineingetragen werden können und sollen, weil ethische und politische Positionen Gründe benötigen, die aufgrund der ihnen eingeschriebenen universalen Geltungsansprüche potenziell auch diejenigen überzeugen können müssen, die nicht religiös eingestellt sind, und auch, wenn aus konkreten religiösen Überzeugungen nicht direkt eindeutige politische Positionen gefolgert werden können, ja dürfen – auch hier haben theokratischen Modellen zum Trotz die Grundsätze einer freiheitlichen Demokratie und eines plural verfassten Gemeinwesens zu gelten -, so gibt es doch auch grundsätzliche Positionen und Situationen, in denen es theologisch geboten ist, Partei zu ergreifen, sich einzumischen, kurz: widerständig zu sein. Für eine Theologie der Zukunft gilt vor allem auch angesichts des besorgniserregenden Erstarkens extremistischer Kräfte, verbunden mit dem Anwachsen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bleibend die Aufforderung Dietrich Bonhoeffers, die er in seinem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“[21] aus dem Jahr 1933 im Blick auf die Zerstörung des Rechtsstaats der Weimarer Republik und die Etablierung des nationalsozialistischen Unrechtsstaats und der Gewaltherrschaft formuliert hatte: die Opfer unter dem Rad nicht nur zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen![22]
5.6 Interreligiös eingestellt und offen gegenüber Areligiösen als Diskurspartner*innen
Die Orientierung an der Hoffnung eint alle Religionen, sie ist so gesehen universal, ohne dass daraus eine universale Religion folgt, in der alle Religionen aufgehen. Sie ist vielmehr die Basis, auf der alle Religionen stehen und auf der religiös Musikalische einander begegnen können. Das ist auch ihr Vorzug: Statt immerzu das Trennende zu befeuern, richtet sich die Hoffnungsperspektive zunächst einmal auf das Universale, das Gemeinsame hin. Von dieser gemeinsamen Basis ausgehend ist es viel leichter, sich auch über das Unterscheidende auszutauschen, ohne hier dann wieder rasch in superiores Fahrwasser zu geraten. An dieser Stelle werden die anderen Grundhaltungen entscheidend: die Bereitschaft zur epistemischen Bescheidenheit und zum Perspektivwechsel im Blick auf die eigene Tradition und das freimütige Redigieren des Eigenen.
Das Profil solch einer Theologie besteht dann jedoch gerade nicht in den sprichwörtlichen konfessionellen Spitzen, sondern im Gegenteil in der Suche nach Konstellationen unterschiedlicher Überzeugungen und Praxen. Eine Theologie der Welt im Dienst nicht nur, ja vielleicht auch gar nicht mehr primär der Kirchen und Religionsgemeinschaften, aus denen sie erwächst, sondern im Dienst aller, die im Blick auf die Verletzlichkeit allen Lebens, des eigenen wie des anderen, vom vollends gelungenen Leben träumen, vom „Anderswo“, und für die das Zeichen „Gott“ zur Signatur dieses „Anderswo“ geworden ist.
Hier sind dann aber zukünftig nicht allein verstärkt, sondern primär diejenigen mit in den Blick zu nehmen und in den Diskurs als Diskurspartner*innen hineinzunehmen, die nicht an Gott glauben können oder wollen, und diejenigen, für die Religion per se keine relevante Größe in ihrem Leben darstellt, denen alles Religiöse fremd ist, terra incognita, die aber vielleicht durchaus auch offen sind für die Perspektive einer Hoffnung für ihr verletzliches Leben, diese aber gänzlich religionslos durchbuchstabieren. Das gilt umso mehr, wenn man die Ergebnisse der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsstudie als ernstzunehmende Herausforderung begreift und sich angesichts dessen eben nicht in die vermeintlich sichere Kirchenburg zurückzieht. Nicht die Theologie von der Kirche her, sondern von der Gesellschaft her zu denken, der die Kirchen zugehören, heißt dann auch: ein doing theology im Kontext einer Gesellschaft, in der Areligiöse die stärkste Gruppe bilden, von diesen her und auf diese hin, jedoch ohne sie superioristisch zu vereinnahmen.
Das impliziert aber auch einen Perspektivwechsel im Blick auf Atheist*innen und Areligiöse: Ihnen gegenüber regiert nicht mehr der apologetische Diskurs, auch nicht in noch so abgespeckter Form. Im Gegenteil ist das offene Visier zu pflegen, das Interesse an der Lebensdeutung der Anderen, der Diskurs auf Augenhöhe und in Reziprozität. Eine solche Theologie eben in Form einer Konstellation unterschiedener Selbst- und Weltdeutungen wird sich dereinst in anderer Struktur und Gestalt vollzieht als an den uns noch so vertrauten konfessionell ausgerichteten Fakultäten und Instituten. Das klingt riskant und löst bei manchen Verlustängste aus, dennoch aber wird der Theologie wohl gerade in dieser veränderten Form überhaupt noch eine Zukunft beschieden sein, jedenfalls im Bereich gesellschaftlicher Öffentlichkeit.
Im Blick darauf wäre selbstverständlich dann nochmals eingehend über das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft zu reflektieren, vor allem dann, wenn man davon ausgeht, dass die Religionswissenschaften entgegen mancher Meinungen nicht notwendigerweise rein deskriptiv vorgehen und neutral eingestellt sind, sondern auch ein normatives Interesse besitzen. Womöglich rücken Theologie und Religionswissenschaft in Zukunft deutlich näher zusammen als bislang. Die spezifische Differenz der Theologien läge dann im Vergleich zu den Religionswissenschaften in ihrem Ausgangspunkt: dem expliziten Ausgehen von einer konkreten religiösen Tradition und das Explizieren dieses Standpunktes und des damit verknüpften erkenntnisleitenden Interesses.
Mir ist sehr bewusst, dass die Orientierung an den genannten Grundhaltungen angesichts unserer real existierenden Theologien selbst schon wieder als Ausgestaltung der Hoffnung auf einen u-topos erscheint, als Formulierung eines kontrafaktischen Ideals. Dennoch aber ist es meine feste Überzeugung, dass jenseits hochgezogener kirchlicher Mauern mittel- und langfristig gesehen nur eine solche Theologie Zukunft und gesellschaftliche Bedeutung haben wird, die an diesen Grundhaltungen sich orientierend in ihrer reflexiven Praxis Anteil hat und Anteil nimmt an einer performativen Praxis, in der hier und jetzt schon die „Hoffnung, die uns erfüllt“, konkretisiert und momenthaft realisiert wird. Und auch, wenn Struktur immer auf Vollzug und Handeln einwirkt und nicht nur daraus hervorgeht, so ist es doch im Blick auf die Möglichkeit eines zukünftigen doing theology zunächst einmal zweitrangig, an welchem Ort und in welcher Struktur sich dies vollzieht, entscheidend ist, dass es überhaupt geschieht, vollzogen, getan wird: Eine Theologie, die nicht aus Furcht und Zittern, aus Bestandssicherung und Abwehrkämpfen, sondern aus der Hoffnung lebt, und dabei ganz nah bei dem ist, was Friedrich Hölderlin einst schrieb:
„Lieber! was wäre das Leben ohne Hoffnung? Ein Funke, der aus der Kohle springt und verlischt, und wie man bei trüber Jahrszeit einen Windstoß hört, der einen Augenblick saust und dann verhallt, so wär es mit uns?
Auch die Schwalbe sucht ein freundlicher Land im Winter, es läuft das Wild umher in der Hitze des Tags und seine Augen suchen den Quell. Wer sagt dem Kinde, daß die Mutter ihre Brust ihm nicht versage? Und siehe! es sucht sie doch.
Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte.“
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Saskia Wendel ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
[1] Es handelt sich bei dem vorliegenden Aufsatz um eine leicht erweiterte Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Es wurde daher der Vortragsstil weitgehend beibehalten. Eine Printfassung erscheint in der ThQ, Heft 1 2024.
[2] Als erste Frau in der Katholischen Theologie wurde Uta Ranke-Heinemann 1969 habilitiert und 1970 Professorin an einer Pädagogischen Hochschule. Elisabeth Gössmann wurde noch 1963 die Habilitation in Katholischer Theologie verweigert. 1972 wurde dann die Habilitation für Frauen in allen theologischen Fächern grundsätzlich möglich, was aber nicht bedeutet, dass damit auch schon der Weg auf eine Professur problemlos möglich war und ist.
[3] Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich, Frankfurt am Main/Wien 1993, 10.
[4] Ebd., 12.
[5] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959, 2.
[6] Ebd., 5.
[7] Vgl. auch ebd., 1301: „Was bedeutet selbst der höchste Augenblick, das in der zentralsten Utopie intendierte ‚Verweile doch, du bist so schön‘, wenn der Tod, ohne selber getroffen zu sein, der existenzmächtigsten Erfahrbarkeit die – Existenz streicht? Kein Feind erschien darum zentraler, keiner war so unausweichlich postiert, keine Gewißheit in dem durchaus ungewissen Leben und seinen Zweckbildungen ist mit der des Todes auch nur vergleichbar. (…) Die Kiefer des Todes zermalmen alles, und der Schlund der Verwesung frißt jede Teleologie, der Tod ist der große Spediteur der organischen Welt, aber zu ihrer Katastrophe. Keine Enttäuschung also mißt sich mit seinem negativen Ausblick, kein Verrat kurz vor Ziel scheint dem des Exitus letalis gleichzukommen.“
[8] Ebd., 16.
[9] Ebd.,1403f.
[10] Ebd., 1404. Auch wenn Blochs Neigung zu einem substanziellen Begriff von Religion sowie zur superioristischen Konstruktion des Christentums zu derjenigen Religion, die das Wesen der Religion am reinsten und besten bewahrt habe, problematisch ist, so bleibt doch das meines Erachtens sehr treffende Verständnis dessen, was Religion ausmacht: „(…) statt der vielen einzelnen Hoffnungen wurde in den großen Religionen die Hoffnung selber versucht, welche die vielen einzelnen umfassen und zentrieren sollte.“ (Ebd., 1524.)
[11] Vgl. Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 1964, 332.
[12] Vgl. Bloch, Prinzip Hoffnung, 1628: „Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
[13] Vgl. Moltmann, Theologie der Hoffnung, 322.
[14] Moltmann, Theologie der Hoffnung, 334.
[15] Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt am Main 1977, 251-261, bes. 261.
[16] Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzung und Nachwort von Franz Dirlmeier, Stuttgart 1969, 1114b12-1115a1.
[17] Vgl. Catherine Cornille, The im-possibility of interreligious dialoge, New York 2008.
[18] Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der Anderen II. Vorlesungen am Collège de France 1983/84, Frankfurt am Main 2010, 433.
[19] Jean-Francois Lyotard, Die Moderne redigieren, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 204-214.
[20] Vgl. Sigmund Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914), in: ders., Gesammelte Werke Band 10. Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt am Main 92001, 126-136.
[21] Dietrich Bonhoeffer, Die Kirche vor der Judenfrage, in: ders., Berlin 1932-1933. Werkausgabe Band 12, Gütersloh 1997, 349-358.
[22] Bonhoeffer stellte hier zwar vor dem Hintergrund der „Machtergreifung“ durch die Nazis das staatliche Handeln und das Staat-Kirche-Verhältnis ins Zentrum und nicht etwa gesellschaftliche Entwicklungen bzw. das Handeln nicht-staatlicher Akteur*innen; in diesem Zusammenhang problematisierte er vor allem ein Zuwenig oder Zuviel an Recht und Ordnung auf staatlicher Ebene und die Frage nach der Legitimität staatlichen Handelns. Doch ganz klar steht hier die „Rechtlosmachung“ von Gruppen von Menschen im Zentrum, und dies betrifft nicht nur die staatliche Ebene, sondern auch die nicht-staatliche.