Gläubig, gar Priester sein – und bleiben in dieser Kirche, trotz ihrer fundamentalen Glaubwürdigkeitskrise: wie geht das überhaupt? Das Zeugnis einer persönlichen Wegstrecke gibt Michael Höffner.
Im Frühjahr letzten Jahres wurde ich angefragt, ob ich bereit wäre, für feinschwarz.net einen Einblick zu gewähren in das, was die derzeitige Glaubens- und Kirchensituation in mir als Priester und Theologe auslöst. Mit einigem Vorbehalt nahm ich die Herausforderung an, weil sie ja bedeutet, sich mit seiner Seelenlage einer Öffentlichkeit auszusetzen. Ich beschreibe schlicht einige Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit.
Ende Juli 2022 und 10. Oktober 2022
Am 10. Oktober 2022 jährte sich zum 25. Mal der Tag meiner Priesterweihe. Im Juli davor hatte ich wie immer meine Exerzitien in einer Benediktinerabtei gemacht. Zusammen mit dem Pater, der mich seit vielen Jahren in den Exerzitien begleitet, habe ich auch auf die 25 Jahre, die hinter mir liegen, zurückgeschaut. Irgendwann fragte er mich: „Und, Michael, würdest Du es wieder machen?“ Ich habe sehr spontan, ohne zu zögern gesagt: Ja.
Auf meinem Zimmer angekommen wurde ich nachdenklich und fragte mich: War das Ja nicht etwas voreilig? Es lagen gerade Wochen und Monate hinter mir, in denen mich die Situation der Kirche mitunter gelähmt hatte. Immer wieder die Frage: Wie soll das weitergehen? Und ich kann nicht leugnen, dass es in mir auch eine Stimme gab und gibt, die sagt: es ist gut, dass schon einmal 25 Jahre geschafft sind und ich nicht mehr ganz am Anfang stehe. Auch durch die Deutungshilfe meines geistlichen Begleiters wurde ich ermutigt, diesem Ja, das da spontan in mir aufgestiegen ist, zu trauen und es als echt zu nehmen.
„Nicht ohne dich leben“ (Michel de Certeau)
Im Nachklang kam mir ein kurzer Text des französischen Jesuiten Michel de Certeau wieder in den Sinn. Unter dem Titel „Eine rätselhafte Gestalt“ denkt er über das Ordensleben nach und lässt da tief in die Motivschicht seines eigenen Bleibens schauen. Er schreibt: „Der Religiose hat ,etwasʼ entdeckt, was in ihm die Unmöglichkeit stiftet, ohne es zu leben.“ Dieser Gedanke mündet dann in ein kurzes Gebet: „Ohne dich kann ich nicht mehr leben. Ich habe dich nicht, aber ich halte mich an dich. Du bleibst für mich der Andere, und du bist mir not-wendig, denn das, was ich wirklich bin, geschieht zwischen uns.“1
Diese aus meiner Sicht bewegenden Zeilen spiegeln etwas von dem wieder, was mich vor 25 Jahren als Lesung für die Primiz die Bekenntnisse des Jeremia hat wählen lassen. Der hoch feinfühlige Jeremia wird durch sein Prophetendasein immer wieder in eine Zerreißprobe gebracht. Es kostet ihn viel. Und dann erfährt er seinen Gott doch wieder als betörend, zutiefst beglückend, als einen Gott, der nach ihm verlangt und um ihn wirbt. In Gedanken experimentiert er damit, seine Berufung an den Nagel zu hängen und merkt: Ich kann es nicht. Es ist ihm unmöglich. Auch er hat etwas entdeckt, das in ihm die Unmöglichkeit stiftet, ohne es zu leben.
Ende Juli 2023
Ein Jahr später gab mir der Benediktinerpater in meinen Exerzitien für meine Gebetszeiten einige Deutungen biblischer Texte aus der Feder von Gerhard Lohfink. Am letzten Tag waren es Gedanken zum Vater-unser. Die Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ formuliert Lohfink so aus: „Gerade weil dein Reich mitten in unserer Geschichte anbrechen soll, droht uns die Versuchung. Die Versuchung … unsere Jüngerschaft aufzugeben; die Versuchung, an Deiner Kirche zu verzweifeln und an deinen Plan mit der Welt nicht mehr zu glauben. Führe uns nicht in eine Situation, in der diese Versuchung uns überwältigt. Lass uns ihr nicht erliegen, sondern reiß uns heraus aus der tödlichen Macht des Bösen.“2
Diese Zeilen haben vieles schmerzlich an die Oberfläche gespült, was mich in den Monaten zuvor mehr belastet hatte, als mir bis dahin bewusst war: mehrere junge, aus meiner Sicht sehr begabte Priester, die aus dem Amt gegangen sind, auch, weil sie in der derzeitigen Gestalt der Kirche für sich keine Zukunft sehen, die Minderung des kirchlichen Lebens auch in der kleinen Gemeinde, in der ich seit über 22 Jahren an den Sonn- und Feiertagen Dienst tue, der Rückgang der Theologiestudierenden, mancher Reformstau, vor allem der schleichende Relevanzverlust der Gottesfrage und des Glaubens.
„Die eigenen Erfahrungen im Gebet öffnen“
Die Betrachtungen von Lohfink waren einerseits Katalysator, all dessen in der Tiefe innezuwerden, und zugleich eine Art „Exit-Strategie“, in diesen Erfahrungen nicht hängen und mit sich allein zu bleiben, sondern sie und darin sich selbst betend zu öffnen. Das half und hilft mir, einer „Negativverzerrung der Wahrnehmung“ zu widerstreiten, sie zu justieren und immer wieder auf ein „Dennoch“ zu stoßen: Trotz allem erlebe ich viele Orte, in Einzelbegleitung, in gottesdienstlicher Verkündigung und theologischer Lehre, wo nach meinem Empfinden meine besten Kräfte fließen können und ich mich als selbstwirksam erlebe, insofern manches auf fruchtbaren Boden fällt bei suchenden Menschen, die sich berühren lassen, wenn zeitgenössische Literatur, Kunst, Philosophie und Psychologie mit der christlichen Tradition in ein Gespräch gebracht werden.
Frühjahr 2023
Zu Beginn der Quadragesima hatte mich ein kirchlicher Verein in einer ländlichen Gemeinde unseres Bistums eingeladen, angesichts des gerade veröffentlichten Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung einen Impuls zu halten zum Thema „Warum heute Kirche?“ Nach meinem Eindruck war damit die unterschwellige Erwartung verbunden, dass, etwas salopp gesagt, die Zuhörenden am Ende des Abends mit zehn guten Gründen zu bleiben aus dem Saal gehen. Im Zugehen auf den Termin wurde mir immer bewusster, dass ich diese Erwartung so nicht bedienen kann und will – angesichts des gerade skizzierten Hintergrunds. Nach Absprache mit dem Einladenden (der zusammen mit seiner Frau für meine offenen Gedanken dankbar war und sie teilte!) habe ich das zu Beginn transparent gemacht und einen eher nachdenklichen Ton angekündigt: „Wer also ein feuriges Plädoyer für die Kirche erwartet, wird vermutlich enttäuscht werden.“
„Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe“
Und doch gibt es ein nachdenkliches Plädoyer. Zu ihrem 75. Geburtstag hatte die Zeitschrift Herder-Korrespondenz eine Reihe gestartet zu der Frage: „Wie katholisch bleiben?“ Beantwortet hat sie damals unter anderem Heribert Prantl. Sein Beitrag vor drei Jahren trug den Titel: „Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe.“3 Ich zitiere daraus etwas ausführlicher: „Kirche ist für mich das, was es ohne sie nicht gäbe. Es gäbe die Räume nicht, in denen Wörter wie Barmherzigkeit, Seligkeit, Nächstenliebe und Gnade ihren Platz haben. Es gäbe keinen Raum, in dem die Verbindung da ist zu uralten Texten und Liedern, die die Menschen schon vor Jahrhunderten gesungen, und zu Gebeten, die sie schon vor Jahrhunderten gebetet haben.
So aber ist für mich die Kirche ein Ort, der Zeit und Ewigkeit verbindet. So denke und so fühle ich. Es ist gut, dass es einen Ort gibt, an dem das Kreuz sein Zuhause hat. Ja, das Kreuz ist missbraucht worden, als Drohzeichen, als Mord- und Eroberungsinstrument. Trotz alledem: Es ist das gute Zeichen des Christentums. Ein Gott, der gelitten hat, der umgebracht wurde, der also weiß, was Leiden ist, bei dem ist das Leid der Menschen gut aufgehoben. Ohne Kirche gäbe es keinen öffentlichen Raum, in dem ein Mensch weinen kann, bei irgendeinem Lied, bei einer Fürbitte, die ihn anrührt. Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe. Wie gesagt: Sie kann der Ort sein, der den Himmel offen hält. So fühle ich es.“ Diese Zeilen haben mir gefallen. Kirche ist gewiss nicht immer ein Ort, der den Himmel offen hält und wo Zeit und Ewigkeit sich verbinden. Aber sie kann es sein. Ganz zentral ist dabei für mich die Eucharistie, sei es am Sonntag in einer Kapellengemeinde außerhalb von Münster und an den Werktagen in Münster an verschiedenen Orten, besonders gerne in sehr stiller, meditativer Form und ohne viel „Lametta“ die werktägliche Früheucharistie in unserem Dom.
Ich kann und will nicht Christ sein ohne diese kirchlichen Orte.
„Christ:in sein ohne Bindung an die Gemeinschaft – geht das?“
Ich habe dabei im Hinterkopf, was der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack immer wieder in aller Nüchternheit betont. „Wer seine kirchliche Bindung aufgibt, bei dem lässt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Religiosität nach“ meinte er in einem Interview. Man könne zwar auch ohne kirchliche Bindung Christ sein, aber die Wahrscheinlichkeit, sich ohne kirchliches Vernetztsein zu Gott zu bekennen, ist nach seinen soziologischen Forschungen deutlich geringer. Für Pollack sind Glaube und Religion in starkem Maße soziale Phänomene. Sie lebten von Austausch und wechselseitiger Bestärkung in der Gemeinschaft. 2017 sagte Pollack in einem Vortrag: „Wer in den Gottesdienst geht, weist eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit auf, auch an Gott zu glauben und sein Leben nach den Grundsätzen des Glaubens auszurichten, als jemand, der das nicht tut.“4
April, September und November 2023
Durch meine Mitarbeit am IUNCTUS-Institut in Münster war ich in den zurückliegenden Monaten mehrfach als spiritueller „Trainer“ eingesetzt bei Fortbildungen für Führungskräfte verschiedener großer kirchlicher Krankenhausgesellschaften. Natürlich hege ich die leise Hoffnung, dass auch die Teilnehmenden von meinen Beiträgen einen Gewinn haben ziehen können, vor allem aber waren diese Fortbildungen für mich bereichernd. In den Austauschrunden und in den Seitengesprächen bei Tisch wurde mir immer bewusster, mit welchen beruflich-existentiellen Ungewissheiten auch diese Menschen konfrontiert sind, welche Zukunftssorgen sie plagen, welchem Arbeitsdruck sie ausgesetzt sind und was für enorme Spannungen damit verbunden sind, Berufs- und Privatleben miteinander zu koordinieren und innerlich im Gleichgewicht zu bleiben.
„Flüssiges in Form zu halten, das ist die Herausforderung!“
Für mich war das zutiefst erdend: Wir sind als Menschen im kirchlichen Dienst nicht die einzigen, die momentan „schwimmen“, ringen und an Ermüdung leiden. Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman beschreibt das unter dem Stichwort der „fluiden“ Moderne in aller Nüchternheit: „Die soliden Formen halten ein für allemal. Flüssiges in Form zu halten erfordert Aufmerksamkeit, Vorsicht und Anstrengung …“.5. Mir scheint, das gilt es als „Zeichen der Zeit“ viel ernster zu nehmen und als „Ruf“ an christliche Präsenz zu begreifen – und damit auch als Herausforderung, eine mögliche Relevanz eines spirituellen Lebensstils zu formulieren: Welche Schätze und Ressourcen der Spiritualitätsgeschichte haben sich mir/uns im Praxistest einer existentiellen Verifikation als tauglich erwiesen, ein fluides, nur teilverfügbares Leben in Form zu halten? Auch vor diesem Hintergrund bin ich dankbar für den neuen Einsatzort am Campus für Theologie und Spiritualität in Berlin – einem Ort, an dem die postsäkulare und herausfordernde Situation der Gegenwart konzentriert begegnet.
Herbst 2023 bis Frühjahr 2024
Im Gespräch mit meinem geistlichen Begleiter tauchte das Thema „Hoffnung“ auf – angesichts der Krisensituationen, die sich nicht nur kirchlich, sondern auch weltpolitisch und ökologisch zeigen. Er gab mir ein Wort mit auf den Weg, das in den Folgewochen in mir gearbeitet hat: „Hoffnung ist echte Arbeit“. Natürlich war das nicht in dem Sinn verstanden, dass man Hoffnung selbst machen kann, sondern in dem Sinn, sich nicht der Resignation zu überlassen und sich, ignatianisch gesprochen, dafür zu disponieren, dass einem Hoffnung geschenkt werden oder sie in einen einfließen kann (die Hoffnung als virtus infusa). Manchmal in den zurückliegenden Monaten ist mir das nicht leicht gefallen.
In seinem Buch „Nicht ohne Hoffnung“6 erwähnt Tomáš Halík solche Momente, in denen der natürliche Vorrat der Hoffnung zur Neige geht. Und genau da, wo alle anderen Gestalten oder Imitate der Hoffnung gescheitert sind, werde die Hoffnung als göttliche, eingegossene Gabe gewährt. Unter Bezug auf Johannes vom Kreuz sagt Halík, dass die drei göttlichen Tugenden dort zum Tragen kommen, wo die natürlichen Seelenvermögen an ihre Grenzen kommen bzw. in eine Sackgasse gelangen. Die Hoffnung im theologischen Sinn werde aus der Krise geboren und die Krise könne eine Wiege der Hoffnung sein. „Dort, wo unsere natürlichen Vorräte an Hoffnung rapide zur Neige zu gehen scheinen, wo wir wie Verdurstende in der Wüste kriechen und beinahe aufgeben möchten, ist es häufig nur noch ein Schritt hin zur verborgenen Quelle.“
Einige Wochen später, in den Tagen nach Weihnachten, las ich den noch ganz druckfrischen Essay von Daniel Schreiber „Die Zeit der Verluste“7. Gegen Ende erzählt der Berliner Schriftsteller davon, wie er nach einer langen Zeit des Betäubens und Weglaufens davor den Mut fasst, sich den Verlusterfahrungen seines Lebens zu stellen, zum einen dem Tod seines Vaters, zum anderen dem Verlust eines grundlegenden Sicherheitsgefühls bzw. der „Gewissheit unserer Zukunftserwartungen“angesichts der Krisenphänomene der letzten Jahre. Durch diesen mühsamen Trauerweg wird es ihm möglich, „die Verwandlung zu akzeptieren“, die die Zeit der Verluste in ihm bewirkt. Schreiber notiert: „Und ich werde wieder eine verhaltene Zuversicht in mir spüren, erst zögerlich und selten, dann häufiger und selbstverständlicher.“ Diese Worte beschreiben auch meine Schritte ins Frühjahr 2024.
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Dr. Michael Höffner, Priester im Bistum Münster, lange Zeit tätig als Spiritual und in der Exerzitienarbeit, Professor für Theologie der Spiritualität an der PTH Münster und am CTS in Berlin.
Beitragsbild: pixabay.
- Michel de Certeau, GlaubensSchwachheit. Herausgegeben von Luce Girard, Stuttgart 2009, 29-31. ↩
- Gerhard Lohfink, Ausgespannt zwischen Himmel und Erde – Große Bibeltexte neu erkundet, Freiburg 2021, 352. ↩
- Heribert Prantl, «Kirche ist das, was es ohne sie nicht gäbe, in: Herder Korrespondenz 11/2021, 13-16. ↩
- Detlef Pollack, Herausforderungen für eine reformbereite Kirche. Impulsvortrag bei der Tagung der 12. Synode der EKD, 12.-15.112017 in Bonn. ↩
- Zygmunt Baumann, Flüchtige Moderne, Berlin 2000, 15. ↩
- Tomáš Halík, Nicht ohne Hoffnung. Glaube im postoptimistischen Zeitalter, Freiburg 2014, Zitat: 108. ↩
- Daniel Schreiber, Zeit der Verluste, Berlin 2023, Zitate 25.127 ↩