In der Schweiz ist die Neubesetzung der Direktion und Chefredaktion des Online-Portals kath.ch in einer Sackgasse gelandet. Die Bischöfe haben die Unbedenklichkeitserklärung für die Journalistin Annalena Müller verweigert. Was dieser Arbeitskonflikt über die Schweiz und die dortige Konfliktkultur sagt, entschlüsselt Charles Martig. Er war langjähriger Direktor des Katholischen Medienzentrums in Zürich und hat dieses im März 2024 verlassen.
In meiner Funktion als Direktor des Katholischen Medienzentrums musste ich mir seit der Gründung im Jahr 2015 immer wieder anhören, dass die Journalistinnen und Journalisten von kath.ch respektlos seien. Der ehemalige Generalsekretär der Bischofskonferenz, Erwin Tanner, und der zuständige Medienbischof, Alain de Raemy betonten in Gesprächen mit mir immer wieder, dass die Loyalität zu den Bischöfen für ein katholisches Medium zentral sei.
Nur mit einem möglichst grossen Spielraum für unabhängiges Denken und Schreiben, ist Journalismus möglich.
Aus der Sicht einer professionell arbeitenden Redaktion – ein Anspruch, den kath.ch hochhält – ist eine solche Argumentationsweise zumindest problematisch, wenn nicht sogar systemfremd. Ich bin ein Verfechter der Position, dass katholische Journalistinnen und Journalisten in einem Spannungsverhältnis von Kritik und Loyalität stehen. Die kritische Distanz zur eigenen Organisation ist wichtig, damit Glaubwürdigkeit in Recherche, Berichterstattung und Kommentar etabliert werden können. Nur mit einem möglichst grossen Spielraum für unabhängiges Denken und Schreiben, ist Journalismus möglich.
Kritisch-loyale Haltung für Journalistinnen und Journalisten
Meine Antwort auf die Forderung des Medienbischofs war deshalb, dass ich eine «kritisch-loyale Haltung» bei der Arbeit der Journalistinnen und Journalisten einfordere. Nach langem Hin und Her konnte die Frage nie wirklich geklärt werden. Für Bischöfe in der Schweiz ist der Begriff «kritisch» ein Unwort.
Konfliktkultur des Ausweichens, des Nicht-Sagens und doch Halbwegs-deutlich-Mitteilens
In der Schweizer Kultur gibt es eine starke Tendenz zum Kompromiss. Die Kunst des Kompromisses besteht aber hierzulande nicht darin, dass die Positionen hart und klar formuliert werden und sich daraus ein Prozess der Annäherung ergibt. Nein, ganz und gar nicht. Es handelt sich um eine Konfliktkultur des Ausweichens, des Nicht-Sagens und doch Halbwegs-deutlich-Mitteilens. Wenn ein scharfer Konflikt am Horizont auftaucht, dann überlegen sich die beteiligten Akteure zuerst, wie sie die Sache gütlich regeln könnten. Ein offener Konflikt ist mit allen möglichen Mitteln zu vermeiden.
Überspitzt formuliert könnte man das eine «Harmonie-Sucht» nennen. Mit einer klaren Ansage können Schweizer und Schweizerinnen prinzipiell nicht umgehen. Der Versuch des Balancierens und Austarierens ist dermassen tief in der Alltagskultur verankert, dass eine offene Debatte mit Ecken und Kanten häufig gar nicht stattfindet.
In der katholischen Kirche der Schweiz ist die Lage noch etwas zugespitzter. Durch das Machtgefälle zwischen Klerikern und Laien spielt die kulturell verankerte Konfliktscheu eine viel grössere Rolle. Interessanterweise schrecken nun aber nicht die Laien vor dem Konflikt zurück, sondern die Bischöfe.
Angst der Bischöfe vor Konflikten
Es gibt eine regelrechte Angst der Schweizer Bischöfe vor Konflikten. Das Muster ist mir in meinen über 20 Jahren in geschäftsführender Funktion in der katholischen Medienarbeit immer wieder begegnet. Hier ein typisches Beispiel: Während der scharfen Konflikte und Dissonanzen zwischen der Fraktion des Churer Bischofs Vitus Huonder und seines Generalvikars Martin Grichting mit den Kollegen in der Schweizer Bischofskonferenz durfte man nur hinter vorgehaltener Hand darüber sprechen.
Offiziell galt in den Jahren 2015-2020 – in der ich diesen Konflikt besonders nahe verfolgen konnte – die Doktrin der Kollegialität unter den Bischöfen. Obwohl sich Grichting und Huonder immer wieder als die wahren Verfechter der Katholizität in den Schweizer Medien inszenierten, gab es über Jahre hinweg niemand, der dagegen aufgestanden wäre. Keiner der anderen Bischöfe wagte es, öffentlich gegen das rechtskatholische Lager anzutreten.
Wer es wagte, war die Redaktion kath.ch. Im November 2020 publizierte Raphael Rauch – mit voller Unterstützung von mir als Direktor – ein Protokoll des Domkapitels von Chur, in dem das Ausmass der kirchenpolitischen Grabenkämpfe mit aller Deutlichkeit sichtbar wurde. Es zeigte insbesondere, dass das rechtskatholische Lager rund um Martin Grichting mit allen Mitteln versuchte, eine offene und vermittelnde Persönlichkeit wie Joseph Bonnemain als Bischof zu verhindern. Der Rest ist Geschichte: Nach der Publikation des Domkapitel-Protokolls mussten Martin Grichting und der Churer Priesterkreis zum Rückzug blasen. Joseph Bonnemain wurde zum Bischof von Chur gewählt.
Ohne kritische Distanz zu den Akteuren und Ereignissen der Bischofswahl, wäre diese Verletzung des «Päpstlichen Geheimnisses» nicht möglich gewesen. Die kritisch-loyale Haltung hat sich hier als Segen erwiesen. Die notwendige Transparenz über den Konflikt im Domkapitel von Chur hat die Schweizer Kirche von einer schweren Last befreit.
Konflikte rund um das Missbrauchsthema
Die ängstliche Zurückhaltung und eine typisch schweizerische Konfliktscheu zeigt sich auch im aktuellen Komplex der Missbrauchsaufarbeitung. Das Jahr 2023 war in dieser Hinsicht für die Schweizer Kirche ein «Annus horribilis». Einerseits gab es den mutigen Schritt der Bistümer, Landeskirchen und Orden zur nationalen Zusammenarbeit in Sachen Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche. Andererseits waren die Bischöfe aber von den Ereignissen vollständig überrollt und überfordert.
2023 war für die Schweizer Kirche ein «Annus horribilis»
Was nach einer nationalen Präsentation der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch vom 12. September 2023 geschah, konnten sich viele Exponenten der Schweizer Kirche in ihren kühnsten (Alb-)Träumen nicht vorstellen. Hinzu kam nun das reaktive Muster in der Kommunikation und die kulturelle Prägung der Konfliktscheu. In öffentlichen Debatten im Fernsehen SRF stritten sich zwar plötzlich Vertreter:innen der staatskirchenrechtlichen Landeskirchen mit Bischöfen. Im Kanton Luzern brach sogar eine Rebellion aus. Acht Kirchgemeinden wollten die Kirchensteuern ans Bistum Basel nicht mehr bezahlen. Im Herbst 2023 lag eine untypisches Stimmung von Revolution in der Luft. Doch diesem Aufstand ging sehr schnell die Luft aus.
Konflikte um die Neubesetzung in der Chefredaktion von kath.ch
Und hier kommt nun der Auftritt von Annalena Müller, ihres Zeichens Mittelalterhistorikerin und Journalistin bei kath.ch. Ihr wurde am 8. März 2024 von der Bischofskonferenz das «Nihil obstat» verweigert. Einen besseren Tag hätte der verantwortliche Medienbischof nicht wählen können: am internationalen Frauentag wird kommuniziert, dass eine profilierte Journalistin als Chefredaktorin nicht in Frage kommt.
Wieder sind wir zurück beim Konflikt zwischen kritisch und loyal. Das Katholische Medienzentrum verliert wegen des verweigerten Nihil obstat eine fähige und kompetente Journalistin. Sie hat in den vergangenen 12 Monaten bewiesen, was ein kritischer katholischer Journalismus bewirken kann. Und sie hat insbesondere das schwierige und politisch aufgeladene Thema der Missbrauchsaufarbeitung angenommen und behandelt.
Die Gesellschaft Katholischer Publizistinnen und Publizisten Deutschlands (GKP) hat mit «Verwunderung und Erschrecken» auf das Veto der Schweizer Bischofkonferenz reagiert: «Wir bedauern dieses Veto und erklären uns solidarisch mit unserer Kollegin. Offenbar wünschen die Bischöfe keine unbequeme Journalistin, die ihre Aufgabe im systemimmanenten Spannungsfeld zwischen redaktioneller Unabhängigkeit und Loyalität gegenüber dem kirchlichen Arbeitgeber als ein wachsames, kritisches Gegenüber wahrnimmt», erklärte die GKP.
Wer genau hinschaut und recherchiert, stösst auf viele Ambivalenzen, Ungereimtheiten und Fehlentscheide in der Kirche. Das hat Annalena Müller getan. Ihr kritischer Blick hat Schwachstellen aufgezeigt. Anstatt sich über einen solchen engagierten Journalismus zu freuen, gehen die Schweizer Bischöfe nun in Deckung: sei es aus Angst, Konfliktscheu oder politischem Kalkül. Es ist diese typische Mischung aus Schweizer Kompromisskultur, Konfliktvermeidung und Intransparenz, die zu einem fragwürdigen Personalentscheid geführt hat.
Kath.ch verliert zwar eine sehr kompetente und fähige Journalistin. Aber Annalena Müller bleibt der katholischen Publizistik treu. Sie wird Chefredaktorin des Pfarrblatts in Bern. Ende Gut alles Gut? – Mitnichten!
Das Spannungsverhältnis von Kritik und Loyalität ist für die katholische Publizistik nicht aufzulösen.
Das Spannungsverhältnis von Kritik und Loyalität ist für die katholische Publizistik nicht aufzulösen. Es braucht beide Pole, um glaubwürdig mit dem Missbrauchskomplex und vielen anderen Themen umzugehen. Das haben die Schweizer Bischöfe bis heute nicht verstanden. Sie grenzen sich ab und fördern die Blasenbildung. Loyale Stimmen sind gefragt, die kritischen sollen sich woanders umschauen.
Die katholische Kirche in der Schweiz braucht einen kritischen Journalismus. Ansonsten gibt sie sich der Illusion hin, dass einfach nur «die Medien da draussen» böse und gefährlich sind. Auch innerhalb der Kirche braucht es aufgeweckte Köpfe, die sich trauen, kritisch nachzufragen – die Dinge durchleuchten, aufarbeiten und ans Licht bringen.
Auch innerhalb der Kirche braucht es aufgeweckte Köpfe, die sich trauen, kritisch nachzufragen
Ein kritischer katholischer Journalismus ist heute notwendiger denn je. Dieser führt zu mehr Glaubwürdigkeit, zu Transparenz und langfristig vielleicht auch wieder zu mehr Vertrauen in die Kirche. Es wäre schön, wenn wir in zehn Jahren zurückblicken könnten und sich die heutige Krise der Kirche als Startpunkt für ein neues Selbstverständnis und für mehr Vertrauen in den katholischen Journalismus zeigen würde.
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Dr. Charles Martig ist Theologe, Medienwissenschaftler und Filmjournalist. Von 1994 bis 2014 arbeitete er beim Katholischen Mediendienst als Filmbeauftragter. Von 2002 bis 2014 war er Geschäftsführer dieses Mediendienstes. Von 2015 bis März 2024 war er Direktor des Katholischen Medienzentrums in Zürich, seit 2023 zugleich Redaktionsleiter von kath.ch. Seit dem 1. April 2024 leitet der das neue Kompetenzzentrum Kommunikation für die katholische Kirche im Kanton Bern.