Alex Stock, Autor der 11-bändigen „Poetischen Dogmatik“ ist am 17.7.2016 79-jährig in Köln gestorben. Sein immenses Werk ist erst an seinen Rändern rezipiert. Das hat Zeit: Die Halbwertszeit seiner theologischen Schriften wird unverhältnismäßig lang andauern. Johannes Rauchenberger (Graz) würdigt ihn in einem Nachruf.
Friedrich Nietzsches Parabel vom „tollen Menschen“ hat das Verhältnis der Religion zur Moderne geprägt: Am „hellen Vormittage“ hatte dieser auf dem Marktplatz die Menschen mit seinem Blick durchdrungen und ihnen die Nachricht vom Tode Gottes überbracht. Mittlerweile hat man sich längst daran gewöhnt. Und mit ihm an den Horror, die Geschichte, die Banalität. Man hat sich damit abgefunden, was dieser tolle Mensch von sich gegeben hat.
Es ging ihm ums Ganze, um das „Wegwischen des Horizonts“ und das „Losketten der Erde von der Sonne“.
Alex Stock glaubte an den Tod Gottes nicht. Und doch war er im Grunde seines Herzens selbst ein „toller Mensch“. Denn es ging ihm ums Ganze, um das „Wegwischen des Horizonts“ und das „Losketten der Erde von der Sonne“ – allerdings als Vorgang innerhalb der eigenen Religion und vor allem der Theologie.
Sein Grundsatzproblem als Zeitgenosse war, wie es mit der Religionsgeschichte weitergehen wird. Er sah die Ausdünnung des Christentums in den letzten Jahrzehnten – und diese machte er nicht an soziologischen Studien, sondern an den eigentlichen lehramtlichen Texten, den geltenden Riten und Räumen dieser Religion fest. Er sah, dass die kirchlichen Reformer, zu denen er sich in jungen Jahren selbst gezählt hatte, mit ihrem alles überdeckenden Gemeinschaftsaxiom auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Und dabei den Kern der Religion verschoben hatten. Er war unerbittlich, dies aufzuzeigen.
Er forderte Respekt ein für „die Werke, der Vergangenheit, die unsere Kultur ausmachen“
Stock war allerdings nicht konservativ im Festhalten. Er koalierte auch mit keinem kirchenpolitischen Flügel. Er machte keine Politik damit. Er forderte aber Respekt ein für „die Werke, der Vergangenheit, die unsere Kultur ausmachen“ (Ph. Jaccottet) und setzte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sprachmitteln dafür ein, dass sie „nicht erdrücken, sondern erleuchten“, und dass sie „nicht eine Last sind“, sondern dass sie „beflügeln“. Jeder hatte dabei sein Recht: eine Oration des 7. Jahrhunderts, ein Bild Rembrandts oder ein Gedicht der Gegenwart.
Der Theologe Alex Stock war irgendwie allein. Er hatte kein Amt, keine Institution, keine theologische Fakultät hinter sich. Seine Schriften werden zwar bewundert, sind aber dennoch im Kernbereich weitgehend unbekannt. Mit den Kriterien heutiger, auch universitärer Erfolgsbemessung kann man also nicht sagen, dass es sich hier um einen der größten Theologen der Gegenwart gehandelt hat, der am 17. Juli 2016 in der Nähe von Köln verstorben ist.
Der Anspruch, den dieses Werk birgt, ist unermesslich
Und doch. Der Anspruch, den dieses Werk birgt, ist derart unermesslich, ja im wahrsten Sinne des Wortes „gigantisch“, wenn diese Bezeichnung nicht schon so ein Machtgefälle im Schlepptau hätte: Gegen jenes war er allergisch, und es trieb ihn mit seiner spitzen Feder zu Formulierungen, die so manche noch posthum erbleichen lassen wird, wenn sie es erst einmal zur Kenntnis nehmen. Selbst wenn es Texte im Status von Konzil und Ritus sind. Alex Stock schrieb seit dem Beginn der 1990er Jahre ununterbrochen und täglich, unterbrochen von seinen Forschungsstunden in den Bibliotheken und dem täglichen Spaziergang im Park, an seinem Schreibtisch – mit der Hand – an einem Werk, dessen letzter und abschließender (der elfte (!)) Band wenige Tage vor seinem Tod erschien: Er nannte es „Poetische Dogmatik“. Daneben gab es auch kleine „Abfallprodukte“, die man freilich mehr zu Kenntnis nahm: Aufsätze zur Bildtheologie, Studien zum Kirchenlied, eine Neuübersetzung und Kommentierung „Lateinischer Hymnen“ sowie der „Tagesgebete der Messe“, sowie ein letztes Büchlein, schon im Angesicht des Todes geschrieben, zur „Theologie des Morgens“.
„Was habt ihr nur mit meiner Religion gemacht?“
Die Kurzfassung dieser mehr als 5000 Buchseiten ist einfach. Sie ist – ja, „am hellen Vormittage“ – eigentlich ein einziger Aufschrei: „Was habt ihr nur mit meiner Religion gemacht? Hättet ihr sie doch ein zweites Mal angesehen – in ihren (Kunst-)Werken, in ihrer Sprache, in ihrer Liturgie, in ihren Liedern!“ Eben deshalb beharrte er auf dieser marketingtechnisch scheinbar so misslungenen Polarität seines Opus magnum: „Poetische Dogmatik.“
Aber man muss sich ja nicht zu den Tätern zählen. Dann hat man es leichter. Denn dann gibt es eigentlich nur einen einzigen Oberton dabei: „Seht, so schön ist dieses Christentum!“ Im Nachhinein mutierte dieser Gelehrte, ohne dass er es freilich beabsichtigt hatte, zu so etwas wie einem Grundsatzgutachter zur Aufnahme der christlichen Religion in das religiös-kulturelle Menschheitserbe. Allein deshalb ist die Halbwertszeit seiner Schriften mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit mit keinem zweiten Theologen aus der Gegenwart vergleichbar.
Er schrieb freilich … auch über eine Religion, die es in Wirklichkeit nicht mehr gibt. Aber um die, das spürt die Leserin, der Leser fast auf jeder Seite, es eigentlich ziemlich schade wäre.
Halbwertszeiten! Alex Stock wusste, was Entwertung ist. Er begab sich auf das Abstellgleis der Geschichte, immer wieder auch in die Rumpelkammern des Glaubens und gab all diesen Dingen eine zweite, für die meisten natürlich eine erste Chance. Herz Jesu und Fronleichnam, Himmelfahrt und Maria Verkündigung, die Allerheiligenlitanei, die letzte Ölung und die abgeschaffte Totenmesse: Stock schrieb davon mit einer Wärme, die einem das Herz übergehen lässt und schloss dabei ein unendlich erscheinendes Reservoir großer, bekannter wie auch unbekannter, längst vergessener oder außer Gebrauch gestellter Kunst und Poesie anschaulich auf. Er vergaß auch die Lieder nicht und auch nicht die Gebete, die zu all dem verfasst worden sind, besonders kunstvolle, wie auch einfache des Herzens. Er öffnete Tore nicht nur ganz nahe ins Evangelium, sondern eben auch in jene unterschiedlichen Epochen, die sich näher oder auch entfernter oder eben ganz abgebrochen zu diesem realisierten. Er schrieb freilich, wenn wir ehrlich sind, auch über eine Religion, die es in Wirklichkeit nicht mehr gibt. Aber um die, das spürt die Leserin, der Leser fast auf jeder Seite, es eigentlich ziemlich schade wäre. Hat man doch eben, wie Angelus Silesius es ausgedrückt hatte, „erst so spät erkannt“, wie schön sie eigentlich war.
Poetische Dogmatik war für Stock ein geistig-theologisches Laboratorium.
Und dort, wo die religiöse Kraft eben nicht mehr in die Gegenwart hineinreicht, kommt die zeitgenössische Poesie ins Spiel. Quasi als verlängerter Arm aus einer längst vergangenen theologischen Dichte. Den Ursprung dieser Methode kann man bei Joseph Beuys sehen, der ein Museum als „geistiges Laboratorium“ bezeichnet hatte. Poetische Dogmatik war für Stock ein geistig-theologisches Laboratorium: Die Kunst etwas zusammenzustellen, zu montieren und dadurch eine neue, einleuchtende Evidenz hervorzuzaubern. Doch so künstlerisch im Beuys’schen Sinne, so postmodern ist nur eine Facette dieser Methode. Denn sie beansprucht letztlich das, was nur mit dem Werk eines Theologen – Thomas von Aquin – , den Stock am häufigsten zitierte, vergleichbar ist: eine „Summa theologica“ zu sein. Das auszusprechen ist unermesslich und in der Enkel-Generation der Reformtheologien des 20. Jahrhunderts noch immer gefährlich. Und doch.
Autor: Dr. Johannes Rauchenberger, leitet das Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz.
Beitragsbild: Elias Rauchenberger (http://www.kultum.at/?d=in-memoriam-alex-stock#.V5YU4zUUvNk)