Maximilian Gigl erinnert anlässlich des zehnten Todestages an Eugen Biser.
Er war ein in hohem Maße außergewöhnlicher „Grenzgänger“, der am 25. März 2014 im Alter vom 96 Jahren in München starb: Theologe und Religionsphilosoph, katholischer Priester, Nietzsche-Kenner, charismatischer Prediger, spirituell begabter Seelsorger, klein und schmächtig von Gestalt – gleichwohl wortgewaltig-mitreißend. Hinter all seinem Wirken stehen zwei gegensätzliche Erfahrungen: Die eines ‚Ungenügens‘ kirchlich-religiöser Gegebenheiten auf der einen Seite, zugleich ein Erspüren der Faszinationskraft des Evangeliums auf der anderen Seite.
Freiheit der Kinder Gottes
So spricht Eugen Biser rückblickend als Erwachsener von seiner „mit dem Blick aufs Religiöse verdüsterten Jugend“. Inbegriff dafür ist ein Erlebnis des 13-Jährigen Schülers an der Breisacher Oberrealschule, als im benachbarten Münster die Schongauer-Fresken aus dem 15. Jh. freigelegt wurden: „Der unglückliche Zufall wollte es“ – so Biser –, „dass die Höllendarstellungen am besten sichtbar geworden sind. Der Himmel ist nur sehr verblasst zu sehen […]. Aber die sadistischen Qualen kamen relativ gut zum Ausdruck.“[i] Jahrzehnte später deutet er dieses Erlebnis als Indiz eines religiösen Klimas, in dem ein repressiv-angsteinflößender Stil zum Grundrepertoire kirchlicher Glaubenspraxis gehörte. Demgegenüber wird Eugen Biser ein Leben lang „den Gott der bedingungslosen Liebe“ und die „Freiheit der Kinder Gottes“[ii] in den Vordergrund stellen.
Lebensgefährliche Bauchverletzung
Eugen Bisers Theologiestudium wurde durch den Zweiten Weltkrieg jäh unterbrochen: Als Soldat auf dem Weg nach Stalingrad – so berichtet er – „hatte ich mich zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass wir in Stalingrad alle verbluten würden. […] Dies trug mir ein Kriegsgerichtsverfahren ein, dem ich bloß knapp entging“.[iii] Im Herbst 1942 wurde Eugen Biser durch eine schwere Bauchverletzung lebensgefährlich verwundet. Sein Zustand verschlimmerte sich derart, dass ein anderer Soldat im Feldlazarett zu ihm sagte: „Kamerad, unter Deinem Bett stehen so schöne Stiefel. Gib sie mir, Du brauchst sie sowieso nicht mehr.“ Eugen Biser erzählte diese Geschichte später immer mit dem abschließenden Satz: „Ich aber wollte meine Stiefel schon noch brauchen.“[iv]
Erste Dissertation abgelehnt
1946 zum Priester geweiht, folgte eine 20-jährige ‚pastorale‘ Tätigkeit im Erzbistum Freiburg, zunächst als Kaplan in verschiedenen Gemeinden, dann als Vikar, Krankenhausseelsorger und Gymnasiallehrer in Heidelberg. Da eine Freistellung zur Dissertation von Seiten seines Heimaterzbistums verwehrt blieb, verfasste Biser in nächtelanger Arbeit seine wissenschaftlichen Qualifikationsschriften. Aber auch das gestaltete sich nicht ohne Hürden: Als er seine Promotionsschrift an der Freiburger Fakultät im Bereich Moraltheologie einreichen wollte, wurde diese tugendethische Studie abgelehnt. Eugen Biser aber resignierte nicht, sondern erarbeitete eine zweite Dissertation zu Getrud von Le Fort, diesmal im Fach Fundamentaltheologie bei Bernhard Welte (1956).
Nietzsche lesen
Umso günstiger verlief der Weg zu seiner philosophischen Promotion: Im Sommer 1959 begegnete er bei einem Aufenthalt im Tessin Karl Löwith, der auf den lesenden Priester zuging und ihn tadelte: „Sie als Theologe dürfen doch keinen Nietzsche lesen.“[v] Nachdem sich Biser zunächst etwas gewunden hatte, weshalb er den indizierten Autor bei sich habe, legte er ihm seine Auffassung zu Nietzsche dar. Was folgte, war die Einladung, bei Löwith zu promovieren.[vi] Biser rückblickend:
„Ungleich glücklicher gestaltete sich dagegen meine philosophische Promotion über das Nietzschewort ‚Gott ist tot‘, vor allem dank des generösen Entgegenkommens des jüdischen Nietzscheforschers Karl Löwith, in dem mir zugleich einer der hellsichtigsten Analytiker der gegenwärtigen Lebenswelt begegnete. Obwohl er sich offen zum Atheismus bekannte, behandelte er mich, den katholischen Kaplan, mit Toleranz und großmütiger Hilfsbereitschaft. Ich konnte mich zuletzt dafür in der Form bedanken, dass ich ihm in einem etwas gewagten Ritus die Beerdigung hielt.“[vii]
Selbstkorrektur des Christentums
Der Satz ‚Gott ist tot‘, so das Ergebnis Bisers, leugnet gerade nicht die Wirklichkeit Gottes, sondern vielmehr die „Idee“ Gottes als „lebensspende Größe“ in westlichen Gesellschaften.[viii] Nietzsche lasse sich daher nicht als „Zerstörter“, sondern vielmehr als „Erneuerer“ des christlichen Bewusstseins ansehen. Für Bisers Denken bedeutete dies einen grundsätzlicher „Ortswechsel“ mit weitreichenden Konsequenzen: Denn in Nietzsche und dessen scheinbar radikalsten Bestreitung des Christentums fand er einen Ansatzpunkt zu dessen Selbstkorrektur. Diese Denkbewegung über den Umweg von einem ‚Außen‘ massivster Infragestellungen auf das ‚Eigene‘ zurückzukommen, baute Eugen Biser fortan immer weiter aus, Gegenpositionen bewusst einbeziehend, um das Evangelium von dorther neu zu entdecken.
Nachfolger Karl Rahners
Nach seiner Habilitation 1965 begann seine Universitätslaufbahn als Fundamentaltheologe, die ihn von Passau über Marburg, Bochum und Würzburg schließlich 1974 nach München, als Nachfolger von Karl Rahner auf den sog. „Guardini-Lehrstuhl für christliche Weltanschauung“ führte. Dass Eugen Biser die ersten 20 Jahre seines wissenschaftlichen Wirkens ‚nebenher‘ zu seiner hauptberuflichen pastoralen und schulischen Tätigkeit einbrachte, mag auch die ‚fundamentaltheologische Pastoralität‘ seines Denkens und Wirkens erklären: Während sich bei manchen TheologInnen das Lebenswerk stark auf das literarische Schaffen zentriert, spiegelt sein mehr als 1.400 Titel umfassendes schriftliches Werk sein umfangreiches „kommunikatives Wirken“[ix] nur bedingt wider. Vielfache Resonanzen erzielte er gerade jenseits binnentheologischer Fachkreise – als Vortragender, als Universitätsprediger, Berater, Moderator, Rundfunkbeauftragter, Interviewpartner oder Initiator des ersten Seniorenstudiums im deutschsprachigen Raum.
Rolle des glaubenden Subjekts
Was aber ist das sich durchhaltende Spezifikum Bisers – bei der Fülle an Einzelthemen (religiöse Sprachtheorie- und Hermeneutik, Glaubensanalysen, mehrere Jesus- und Paulusbücher)? Es ist nicht in erster Linie, dass er den Bereich neuscholastischer Schulphilosophie überschreitet, auch nicht primär, dass er die anthropologische Wende mitvollzieht und infolge dessen außertheologische Disziplinen einbezieht, sondern sein Spezifikum liegt insbesondere in der Fokussierung auf die zentrale Rolle des glaubenden Subjekts in den Spannungsfeldern der Gegenwart. Anders ausgedrückt: Das durchtragende Anliegen seines Wirkens besteht im Versuch einer „Wiedergewinnung“ der lebendigen Identität des ‚Christlichen‘: vom „Wesen des Christentums“ hin zu dem was für ein „Christ-Sein wesentlich ist“[x]. In vielen seiner Werke ab den 1970er Jahren findet sich eine Gliederung nach „Symptome“ – „Diagnose“ – „Therapie“. Diese Assoziation zu einem Krankheitsbild waren sehr bewusst gewählt.[xi] Dabei pflegte Eugen Biser stets zu sagen, dass die gegenwärtige Gestalt des Christentums einige „Lernprozesse vor sich habe“, ja: „noch in den Kinderschuhen stecke“.
Therapie kirchlicher Krisen
Biser hielt sich nie bei der Thematisierung des Klein-Kleins kirchlicher Krisen auf; er durchleuchtete vielmehr die dahinterstehenden tieferen Ursachen und begann mit einer ‚Therapie‘ in seinen Wirkungsfeldern: Dabei zeigte und verkörperte er, dass ein anderes ‚Wie‘ von Christentum und kirchlichem Stil möglich sein kann. So konnten durch ihn zahlreiche Menschen mitvollziehen, was es mit einer „Christologie von Innen“, dem Christentum als einer „therapeutischen“ und „mystischen Religion“ auf sich hat. Ziel von theologischer Rede müsse es immer auch sein, den Menschen eine „bewohnbare Theologie“[xii] anzubieten, die ein existentiell tragendes Zuhause bieten kann. Eugen Biser veranschaulicht dies gerne anhand der Kritik Søren Kierkegaards an den philosophischen und theologischen Systemen: Der Systemdenker gleiche dem Architekten eines großen Palastes, der es versäumt hat, sich in diesem Gebäude eine eigene Wohnung einzurichten, und deshalb genötigt ist, nebenan in einer Scheune oder gar in einer Hundehütte zu hausen.[xiii]
Früher war mehr Lametta
Heute, zehn Jahre nach seinem Tod, würde man gerne Bisers Stimme zu aktuellen gesellschaftspolitischen und kirchlichen Entwicklungen hören. Bei näherer Betrachtung wird aber auch deutlich, wie sehr sich viele religiös-gesellschaftspolitischen Koordinaten in den letzten Jahrzehnten verändert haben: Dass einem Theologen ganze Fernsehreihen bei ARD- bzw. BR-Alpha für die Darlegung seiner Überlegungen zu Glauben und Evangelium eingeräumt würde – schiene heute kaum denkbar.
„Früher war mehr Lametta“, ließe sich mit Loriot dazu sagen. Und so betitelte Michael Seewald jüngst einen Artikel in der Herder-Korrespondenz, der auf die Kritik des Präfekten des Römischen Dikasteriums für die Glaubenslehre einging.[xiv] Víctor Manuel Kardinal Fernández hatte moniert, dass in der deutschen Theologie die Zeit der großen Namen vorbei sei.[xv] Tatsächlich gehört Eugen Biser (Jahrgang 1918) in diese Reihe der „Lametta“-Theologen, aus Tagen, als die Kirchen voller und theologische Themen selbstverständlicher waren. In seinem Anliegen und Wirken aber bleibt Eugen Biser visionär und verweist in die Zukunft. Dabei hinterließ er keine detaillierte Landkarte, aus der sich künftige Wegstrecken gewinnen ließen. Er vererbte aber, – um im Bild zu bleiben – einen intakten ‚Kompass‘ und ein funktionsfähiges ‚Fernglas‘.[xvi] Mit dieser Ausrüstung ist es möglich, die Richtung einzuschlagen, in der es sich zu gehen lohnt und die jeweiligen Ereignisse im Blick zu behalten. In dieser dadurch gewonnenen Neuausrichtung hat Eugen Biser unzählige Hörerinnen begleitet, hin zu einer lebensdienlichen Theologie, die befreit, Angst überwindet und den Geist der Gotteskindschaft atmet.
Dr. Maximilian Gigl ist Mitarbeiter der Eugen-Biser-Stiftung, Pastoralreferent des Bistums Passau und Habilitand im Fach Pastoraltheologie.
[i] Eugen Biser/Andreas Schaller, Gott brach sein Schweigen. Ein Gespräch mit Eugen Biser, München 1999, 14.
[ii] Vgl. Georg Sans, An Gott glauben in postsäkularistischer Zeit, in: ders., Gottesbilder. Eugen Biser als theologischer Grenzgänger, Freiburg i.Br. 2017, 43–60, hier: 60.
[iii] Eugen Biser/Andreas Schaller, Gott brach sein Schweigen. Ein Gespräch mit Eugen Biser, München 1999, 16.
[iv] Martin Balle, Tod eines Freundes, in: Straubinger Tagblatt (05.04.2014).
[v] Eugen Biser, Die Wunder in meinem Leben, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 18/1 (1988), 10.
[vi] Vgl. Thomas Brose, Wie Theologie Leben prägt. Glaube und Existenz bei Eugen Biser, in: Herder Korrespondenz 7/2018, 35–37, hier: 36.
[vii] Biser/Schaller, 22f.
[viii] Vgl. Eugen Biser, ‚Gott ist tot‘. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins, München 1962.
[ix] Vgl. Erwin Möde, Eugen Biser – Miniaturportrait eines großen Lebenswerkes, in: Mariano Delgado (Hg.), Christentum der Theologen im 20. Jahrhundert. Vom „Wesen des Christentums“ zu den „Kurzformeln des Glaubens“, Stuttgart 2000, 164–173, hier: 168.
[x] Richard Heinzmann, Vom System zur Lebenswirklichkeit. Der Grundgedanke der Theologie Eugen Bisers, in: Eugen Biser/Richard Heinzmann, Zukunft des Christentums. Eugen Biser und Richard Heinzmann im Gespräch, Darmstadt 2019, 269–277, hier: 270.
[xi] Vgl. Martin Thurner, Christentum und säkulare Welt, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern (1/2018), 41–42, hier: 41
[xii] Eugen Biser, Unterwegs zu einer bewohnbaren Theologie, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 76 (1992), 179–186.
[xiii] Vgl. Kierkegaard, Søren, Die Krankheit zum Tode I, C., B., a (Ausgabe Richter), Reinbek bei Hamburg 1962, 42 [1848].
[xiv] Siehe Michael Seewald, Früher war mehr Lametta. Zur Lage der deutschen Theologie, in: Herder Korrespondenz 77 (11/2023), 13–15
[xv] Vgl. Edward Pentin, Exclusive: Archbishop Fernandez Warns Against Bishops Who Think They Can Judge ‘Doctrine of the Holy Father’ (Interview vom 11.09.2023), in: https://www.ncregister.com/interview/exclusive-archbishop-fernandez-warns-against-bishops-who-think-they-can-judge-doctrine-of-the-holy-father (abgerufen am: 24.02.2024).
[xvi] Vgl. zu dieser Metapher: Michael Seewald, Christomathie. Eine Neulektüre des Evangeliums, in: Martin Thurner (Hg.), Die Hauptwerke im Diskurs. Mit einer Zeittafel zu Leben und Werk Eugen Bisers, Freiburg i. Br. 2020, 393–422, hier: 422.
Beitragsbild: Wikipedia (Foto von Gerd Pfeiffer)
Bild im Text: Eugen-Biser-Haus, Oberbergen