Regula Grünenfelder reflektiert die Entwicklung der Kirchen in einen transkirchlichen, interreligiösen Horizont mit der Aufgabe und Chance, neue Räume für die Suche nach Sinn und Gemeinschaft zu eröffnen. Dass es solche schon gibt, zeigt sie am Beispiel der Stadtkirche Zug auf.
2019 durfte ich auf Feinschwarz einen Aufruf teilen, Kirchenräume weiter zu denken. Auslöser für diese Überlegungen waren Erfahrungen, wie notwendig Kirchenräume im öffentlichen Raum sind – für verletzliche Menschen, aber auch für das Gemeinwesen im digitalen Strukturbruch. Dank Reflexionsgemeinschaften und Labors entstand daraus der Entwurf einer transkirchlichen Ekklesiologie: Kirchenentwicklung zwischen bleibender Präsenz und Selbstzurücknahme (2022). Hier folgen Einblicke in die transkirchliche Praxis.
Ein Sinnhorizont für viele
Im Kanton Zug wie an vielen anderen Orten teilen die grossen Konfessionen oder auch Klostergemeinschaften ihre Räume, kostenlos zum Beispiel als Sitzungszimmer für Deutschunterricht mit Geflüchteten und zu günstigen Konditionen für Spielgruppen oder Yoga. Sie öffnen Eingangsbereiche für Begegnungen unter Quartierbewohnenden unabhängig vom Mitgliederstatus oder für Foodsharing-Stationen, vermieten Gemeindesäle für Versammlungen des Quartiervereins und schulische Mittagsbetreuung, Kirchen oder Kapellen für Konzerte und Lesungen oder sie gestalten ihren Umschwung als öffentliche Begegnungszonen, Kräutergärten oder Spielplätze. Die Kirchenräume werden diverser genutzt, im Grunde jedoch so, wie das vor fünfzig Jahren üblich war: Die beiden grossen Konfessionen verantworteten Sinnhorizont und Vergemeinschaftung im Lebensraum wie die Religionen vor ihnen.
eine Rückkehr zur auch für Nicht-Mitglieder offenen Volkskirche
In der vertikalen Ökumene, seit 30000 Jahren nachweisbar, symbolisiert, inszeniert und verwaltet die Leitreligion an den Wohnorten und an besonderen Naturorten Sinn und Gemeinschaft. Genau das war die Volkskirche vor dem Einbruch der Mitgliederzahlen. Dieser wurde durch eine ganz neue Form der Säkularisierung ausgelöst: Die Säkularisierung erreichte damals nämlich erstmals das Individuum. Am Anfang der Siebzigerjahre waren 94% der Schweizer Bevölkerung Mitglied einer der beiden grossen Konfessionen, bald werden es weniger als die Hälfte sein, wobei auch viele Kirchenmitglieder eine grosse Distanz zu ihrer Konfession erleben. Die neue Diversität in den Kirchenräumen ist also so etwas wie eine Rückkehr zur auch für Nicht-Mitglieder offenen Volkskirche: Die Räume sind für die Bevölkerung da.
Diese Entwicklung endet gewöhnlich vor dem Kultraum. In ihm werden Sinnhorizont und Zusammengehörigkeit manifest, allerdings in Symbolisierungen, die für wachsende Bevölkerungsgruppen unlesbar geworden ist. Ob die Kulträume an sich tatsächlich überflüssig geworden, oder bloss falsch bezeichnet sind, wird sich noch zeigen müssen. Jedenfalls ist durch die neue Säkularisierung, die mit Individualisierung, Globalisierung, Digitalisierung einhergeht, im bisherigen Zuständigkeitsbereich der Leitreligion ein Vakuum entstanden: Es gibt zunehmende Bubble-Bildung, Vereinsamung, Probleme mit der Entwicklung von Sinnstrukturen und Selbstwirksamkeit. Die grossen Konfessionen stehen in einer wachsenden Spannung zwischen dem bleibend in ihrer Symbolik beschriebenen Lebensraum und dem kleiner werdenden Bereich, für den sie gemäss ihrer noch ungekündigten volkskirchlichen Aufgaben tatsächlich Verantwortung übernehmen können. Es gilt deshalb herauszufinden, wie im Lebensraum einer diverser werdenden Bevölkerung verbindende Sinnstrukturen entstehen. Das wird nicht gehen, indem die verschiedenen Weltanschauungen wie Hühner nebeneinander sitzen – es wird etwas Neues, Gemeinsames gesucht, angebunden an das reale Leben und die Geschichte, welche die grossen Konfessionen im Lebensraum repräsentieren. Diese haben gesellschaftliche Privilegien, Räume und seit 1500 Jahren das wissenschaftliche Monopol in diesem Gesellschaftsbereich. Daher tragen sie eine besondere Verantwortung dafür, auf Augenhöhe zusammen mit Anderen, über sich selber hinaus in den dafür geschaffenen Räumen an symbolischen Ordnungen mitzuwirken, welche die Menschen lesen können.
Pilotprojekt Asyl- und Kontextseelsorge
So hat beispielsweise vor einem Dreivierteljahr die katholische Kirchgemeinde Stadt Zug das Pilotprojekt Asyl- und Kontextseelsorge gestartet, um theologisch über sich selber hinaus zu denken und damit Erfahrungen zu machen. Zu den Kontexten der katholischen Kirche in der Stadt Zug gehören die wachsenden Bevölkerungsgruppen, die aus vielen Gründen von ihr weggebrochen sind, und die Jungen, die noch nie in einer grossen Konfession beheimatet waren. Die symbolischen Manifestationen von Sinn und Gemeinschaft in ihrem Lebensraum sprechen nicht mehr zu ihnen. Asylsuchende kommen meistens mit einer anderen Religion, oft wurde sie im Herkunftsland noch vor wenigen Jahrzehnten unaufgeregt und beispielsweise in den kurdischen Gebieten beeindruckend interreligiös offen gelebt. Mit der Fundamentalisierung und Politisierung der Religionen ist an normaltemperierte religiöse Praxen schwer anzuknüpfen. Dies gilt übrigens auch für christliche Orte des Südens, wo die Tabuisierung des Missbrauchs und weiterer innerkirchlicher Probleme sowie ein zunehmender Bekenntniszwang Menschen in ihrer Suche nach Sinn und Gemeinschaft irritiert. In der Asyl- und Kontextseelsorge ermöglichen wir Settings des Religiösen, verstehbar in den einfachen Grundkonstanten volkskirchlicher Verantwortung und stellen gleichzeitig fest: Einheimische und Geflüchtete kommen, legen ihre Geschichten und Erfahrungen dazu. Von der Tradition genährte Räume und Menschen laden ein, Respekt, Eigeninitiative und Versöhnung zu leben, so wie gestern beim Fastenbrechen:
Veranstaltungen
115 Personen finden sich zum Fastenbrechen ein. Es kochen, decken die Tische, waschen ab: Zwei aramäische ChristInnen und drei muslimische Menschen, die nicht fasten. Da viel mehr Leute kommen als erwartet, helfen Frauen und Männer spontan beim Erweitern der Tischreihe und anschliessend beim Aufräumen. Eine syrische Frauenrechtlerin spricht den Segen zum Ende des Fastentages. Ein buntes Miteinander: Personen, die fasten und solche, die nicht gefastet haben. Es ist unkompliziert und weitherzig: Den Ramadan feiert die ganze Tischgemeinschaft, wer den Ramadan hält, entscheidet jede/r für sich. Einheimische und Geflüchtete, Menschen verschiedener Religionen und von Volksgruppen, die miteinander im Streit sind, essen zusammen. Das Fastenbrechen im Pfarreizentrum brachte den Kulturwandel zum Ausdruck, der schon seit Beginn des Ramadan im freiwilligen Deutschunterricht für Geflüchtete spürbar war: Die SchülerInnen kommen erstmals auch im Ramadan zuverlässig zum Unterricht. Etwas vom Bann ist gebrochen, dass Frauen den ganzen Tag kochen und Junge so tun müssen, als ob sie fasten würden. Die religiöse Praxis des Fastens braucht einen Platz in der Öffentlichkeit, um nicht komisch zu werden. Der öffentliche Ort ist der Sinnort der Bevölkerung, das Kirchenzentrum. Das Religiöse darf sich in der Öffentlichkeit und Unterschiedlichkeit zeigen. Religiöse Traditionen können nähren und beheimaten. Es ist für den sozialen Frieden notwendig, dass es Räume gibt, wo die Traditionen offen und divers gelebt werden können.
nach dem Erdbeben in Nordsyrien und der Türkei
Vor einem Jahr fand sich nach dem Erdbeben in Nordsyrien und der Türkei auf dem Kirchplatz eine grosse Trauergemeinde zusammen. Menschen hielten Reden, fanden Worte für Mitgefühl und Schmerz. Der kleine Oleander wurde mit Stoffstreifen behängt. Der geteilte Schmerz hat getröstet, sagten einige. Ein Mann überschüttete mich mit seiner Enttäuschung über mangelnde Hilfe aus dem Westen. Ich war kurz irritiert und etwas alarmiert, aber eine Kollegin meinte, wie gut, dass dieser friedliche Mensch hier alles sagen kann, was der Schmerz hochspült.
Es gibt auch Grenzen, nicht alles ist möglich: Verheerende türkische Bombardierungen in Nordsyrien. Das kurdische Gebiet war ein wunderbares Vorbild interreligiösen Zusammenlebens, der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und der Solidarität. Ihnen ist die Rettung vieler JesidInnen zu verdanken und das Ende des IS. In spielenden Kindergruppen sind blonde und rothaarige Kinder zu sehen: Die Waisen der IS-Kämpfer aus Westeuropa, die beispielsweise Grossbritannien nicht zurückhaben will. Ein Trauerritual für die Opfer der türkischen Angriffe? Nein. Dafür haben wir noch nicht genug Boden. Die Trennlinien und Ängste zwischen Geflüchteten der unterschiedlichen Identitäten sind zu massiv. Vorerst ist nur ein kleines privates Zusammensein am Feuer möglich, das einer einzelnen Betroffenen Trost gibt.
Jedes Jahr im November leuchtet an der Seepromenade eine Lichterkette gegen häusliche Gewalt und für gutes Zusammenleben. 1000 Papiertüten werden aufgestellt, ein Kilometer Licht, Betroffene kommen unerkannt im Dunkeln, ihre tiefste Verletzung findet eine öffentliche Antwort, eine behutsame, schöne. Beim Aufstellen helfen Geflüchtete, vor allem Männer nehmen das vielsprachige Informationsmaterial mit: «Wir brauchen in unseren Gemeinschaften dringend Material, die alte patriarchale Ordnung funktioniert nicht mehr, und wie sich die neue herausbildet wissen wir noch nicht.»
Weihnachtsfeier «Licht und Brot»
Weihnachtsfeier «Licht und Brot»: Der Seelsorger Bernhard Lenfers Grünenfelder zieht als Gastgeber in die gut gefüllte Kirche ein, im weissen Gewand wie die MinistrantInnen. An seiner Seite ein afghanischer Geflüchteter, der die Feier mit vorbereitet hat, weil er ein neues interreligiöses Miteinander für seine Community für wichtig hält: Religiöse Praxis muss sich so verändern, sonst finden Menschen keine Ziele und die Gesellschaft wird zwischen Sprachlosigkeit und Fundamentalismen zerbrechen. Ein junger Mann aus einer katholisch-hinduistischen Familie betet, ebenso ein Familienvater, der im tibetischen Buddhismus daheim ist. Die Krippe greift die Weihnachtsgeschichte aus dem Koran auf mit Quelle und Datteln. Eine Pfauenfeder, das Symbol der jesidischen Religion erinnert an alle Traditionen der Verbundenheit und Transzendenz, die Menschen verbinden. Viele Geflüchtete sind erleichtert und erzählen, dass sie als Moslems gelabelt werden und entsprechend eine Klischee-Rolle zu spielen versuchen, aber jesidisch oder zoroastrisch oder alevitisch sind. Ein Projektchor aus Erwachsenen und Kindern singt traditionelle Weihnachtslieder, dabei sind neben UkrainerInnen und MuslimInnen auch Frauen, die von der Kirche längst weggebrochen sind. Als eine Geflüchtete im Kopftuch erzählt, dass bei ihr daheim den Neugeborenen ein ganz klein wenig Brot gegeben wird, um es mit dem feinen Geschmack ins Leben zu locken, den Segen über das Brot spricht und es austeilt, wird eine junge Schweizerin, die neben mir singt, nervös: «Ich habe vergessen, was ich in der Kirche sagen muss, wenn ich Brot bekomme.» – «Sag danke».
Gedenkfeier zwei Jahre Ukraine-Krieg mit dem ukrainisch-griechisch-katholischen Priester Ivan Machuzhak und seiner Frau Priska Machuzhak. Über achtzig Personen aus der Ukraine, Einheimische und muslimische Geflüchtete aus anderen Kriegsgebieten versammeln sich auf dem Kirchplatz. Volkskirche: Jedes Alter, nicht die besonders Frommen, Leute weinen, nehmen sich in den Arm. Wer die traditionellen Trauergesänge mitsingen kann, singt mit. Nudelkerzen zünden alle an. Nachher sitzen fast alle zum Austausch an langen Tischen.
Netzwerke und Organisationen
Die Veranstaltungen sind immer getragen von Netzwerken: Vom Verein FRW Interkultureller Dialog, in dem etwa 150 Geflüchtete Deutsch lernen, begleitet durch freiwillige Deutsch-TrainerInnen und Lerncoaches, Geflüchteten, die schon länger in der Schweiz sind; von anderen Kirchgemeinden und Pfarreien, vom Verein Ukraine-Zug, von Stadt und Kanton, von engagierten Betreuenden in den Asylzentren. Die Arbeit an Sinn und Verbundenheit wird weitherum mit Erleichterung wahrgenommen – insbesondere, weil ein Fehlen der öffentlichen, verbindenden Religiosität, eine religiöse Ort- und Sprachlosigkeit isolationistische oder fundamentalistische Mindsets fördern. «Junge Afghanen haben es schwer, überhaupt zu erfassen, was ein Ziel sein könnte», sagt ein Lerncoach. So entstehen Gesprächsgruppen, interreligiös, transreligiös, um Sprache zu finden für ein Gemeinsames, das an der Volkskirche im Lebensraum anknüpfen kann, wo denn sonst.
Aus der FrauenKirche wurde die fra-z
Dafür gibt es ein Beispiel, schon vier Jahre alt: Die feministische FrauenKirche Zentralschweiz, wurde gegründet, als es die grossen Konfessionen als bestimmende religiöse Heimaten noch gab. Die Bewegung der achtziger Jahre erreichte im digitalen Bruch die Jungen nicht mehr und stellte sich dem Feuerofen der Säkularisierung. Aus der FrauenKirche wurde die fra-z, ein bewegliches feministisches, tiefgründig und freches Frauenzentrum mit dem Stallgeruch der Kirchen. Die jungen Frauen, die sich darin engagieren, sagen, sie tun es, weil sie sich in der fra-z mit der religiösen Tradition ihres Lebensraums verbinden. Sie haben eine bewegliche Heimat gefunden und prägen ein Netzwerk, das Sinnhorizont und Vergemeinschaftung anknüpfend an die Volkskirche offen für alle Frauen gestaltet. Daraus entsteht die groteske Situation, dass die fra-z-Frauen ihren Kommilitoninnen Red und Antwort stehen müssen, warum sie sich als Feministinnen in einer kirchlichen Organisation engagieren. Und gleichzeitig erleben sie, dass manche Kirchenverantwortliche nicht erkennen, dass die fra-z Anfänge einer Zukunft übt, die Menschen in Verbindung mit den grossen Konfessionen beheimaten wird.
Die Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht
Die grossen, den Lebensraum bleibend prägenden Konfessionen, können nicht gesundschrumpfen und so tun, als ob sie in kleineren Formen ihrer Berufung und Aufgabe für die Menschen im verletzlichen, begrenzten Lebensraum und mit dem Ursprung verbunden gerecht werden. Sie werden sich über sich selber hinaus mitteilen müssen. Im gegenwärtigen Strukturbruch sind alle Gesellschaftsbereiche gefordert, auch die Verantwortlichen für Symbolisierung und Inszenierung des Sinnhorizontes im Lebensraum. In meiner Arbeit mit nicht-mehr-Kirchlichen und Fremden, die das Gemeinsame suchen, begleitet mich als einheimische Kirchenfrau das Gedicht «Bitte» von Hilde Domin. Denn die Wandlung, die ansteht, wird uns verändern: «Der Wunsch nach einer Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht». «Und dass wir aus der Flut, dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu uns selbst entlassen werden.» (Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987, S. 117). Ich wünsche uns Mut zu dieser Hingabe.
Regula Grünenfelder, Dr. theol.
Unterwegs in Kirchenentwicklung gemeinsam mit Ehemann Bernhard Lenfers Grünenfelder und mit Jungen, Klimastreikenden, Geflüchteten, die hellhörig sind für das religiös Sprachlose und Fehlende, und Anknüpfungspunkte suchen.
Beruflich engagiert als Leiterin und Seelsorgerin im Pilotprojekt Asyl- und Kontextseelsorge in der Pfarrei St. Johannes, Zug, und der Kirchgemeinde Zug sowie als Geschäftsleiterin des Vereins FRW Interkultureller Dialog Zug.
Beitragsbild: Tharsini Mangalarupan