In einer philosophischen Reflexion denken Barbara Schellhammer und Lena Schützle über den Menschen als Grenzwesen nach. Dabei ermutigen sie zu einer Philosophie der Grenze, die sich auch eigenen Grenzen stellt.
„Philosophie der Grenze“ kann viel bedeuten.[1] Insgesamt ist die Philosophie eine Wissenschaft, die immer schon mit Grenzen zu tun hat – insbesondere auch deshalb, weil sie sie überschreiten will. Am prominentesten ist hier vielleicht Immanuel Kant, dessen 300sten Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, mit seinem Ansinnen, über das bloß Kontextuelle, Kontingente hinauszudenken in den Raum des Allgemeingültigen. Dass dies wichtig ist, zeigen so etwas wie die Menschenrechte, die auf dem Begriff der Menschenwürde basieren: niemand darf je bloß als Mittel gebraucht werden, jeder Mensch ist Zweck an sich. Zugleich wächst das Unbehagen angesichts eines Universalismus, der seine eigene Orthaftigkeit vergisst und in imperialistischer Manier anderen die vermeintlich fortschrittlichen Errungenschaften der Aufklärung bringen möchte. Philosophie ist eine „Grenzwissenschaft“, die sich ihrer eigenen Orts- und Zeitgebundenheit immer wieder vergewissern muss, um nicht überheblich und selbstgerecht Grenzen zu überschreiten. Ram Adhar Mall bringt dies treffend auf den Punkt, wenn er davon spricht, dass die Philosophie „in und mit der Spannung [lebt], sowohl über das Zeitliche als auch das Zeitlose, das Partikulare als auch das Universale, das Historische als auch das Nichthistorische sprechen zu müssen. Sie ist und bleibt ortlos, aber doch orthaft – oder doch orthaft, aber doch ortlos“[2].
Der Mensch ist ein Grenzwesen par excellence.
Ein ebenso schwieriges, wie auch schwer zu bewältigendes Erbe der europäischen Tradition ist sicherlich auch, dass sie gerade in der Annahme, die eigene Natur rational übersteigen zu können, das Gefühl vermittelt, der Natur insgesamt gegenüberzustehen. Natur ist das „Andere“ des Menschen, das „Urwüchsige“, das es zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren gilt – in uns selbst und in allem, was uns als naturhaft, unterentwickelt oder chaotisch erscheint. Dabei geht der Bruch unüberwindbar mitten durch uns hindurch – wir können ihn nicht dadurch meistern, dass wir das „Feld dunkler Vorstellungen in uns“ schlicht ignorieren, wie dies Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht tut.
Der Mensch ist ein Grenzwesen par excellence. Es ist ihm aufgegeben, sich zu dem zu machen, was er schon ist – so die seltsam paradoxe Beschreibung Helmuth Plessners[3]. Unser Menschsein zeichnet sich dadurch aus, dass gerade unsere größte Schwäche die größten Möglichkeiten bietet. Umgekehrt können es gerade unsere Möglichkeiten sein, die uns unsäglich begrenzen, man denke hier an diverse kulturelle Errungenschaften – Freud spricht von einem Unbehagen, Simmel sogar von einer Tragödie der Kultur. Anders gesagt leben wir nur dadurch, dass wir ein Leben führen, es geht gar nicht anders. Als das „nicht festgestellte Tier“, haben wir notwendigerweise unsere Freiheit zu gestalten. Unsere Freiheit ist uns also immer schon begrenzt – paradoxerweise durch unsere Freiheit. Wie sehr wir uns in großer Freiheit wortwörtlich selbst das Wasser abgraben, zeigen furchtbare Dürreperioden in einigen afrikanischen Ländern, aber auch zunehmend in Europa. Vom Raubbau, den wir scheinbar grenzenlos an uns selbst betreiben, zeugen so genannte „Zivilisationskrankheiten“ wie Borderline oder Depression. Die „kultürlichen“ Grenzen, die wir ziehen, bieten Sicherheit und Schutz, sie grenzen aber immer auch ein und aus. Etwas ist nur, indem es sich von anderem abgrenzt. So kann ein Kreuz österlich an die größte Grenzüberschreitung überhaupt erinnern, an die Wirklichkeit eines Lebens nach dem Tod und bietet Zuflucht und Hoffnung in größter Not. In bayerischen Amtsstuben aufgehängt, kann es aber auch deutlich markieren, wer hier dazugehört, und wer nicht. Die Faszination über Grenzen zu gehen, zeugt ebenso von Kreativität, Neugier und Entdeckergeist wie von Gier, Überheblichkeit und Destruktivität. Immer wieder erleben wir ein großes Unbehagen angesichts dieser Ambivalenz.
Begreifen, indem wir einordnen und abgrenzen.
Immer stoßen wir auch an sprachliche Grenzen, die bekanntlich die Grenzen unserer Welt bedeuten, denn jede Sprache legt ein bestimmtes Denken nahe. Lange tradierte Sprachspiele verstricken uns auch performativ in Denkstrukturen, die ein bestimmtes Handeln hervorrufen und damit wiederum sprachliche Muster verfestigen. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass Wilhelm von Humboldt von einem „ungeheuren Gewebe“ spricht und erklärt, „Durch denselben Act, vermöge dessen [der Mensch] die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein.“[4] Deshalb ist es wichtig, überkommene, oft binär strukturierte Grenzziehungen wie z. B. Mann- und Frausein auch sprachlich zu durchbrechen.
Gleichzeitig müssen wir uns wohl eingestehen, dass wir etwas nur begreifen können, indem wir es einordnen und abgrenzen. Zur Grundwahrheit menschlicher Existenz gehöre, so Martin Buber, dass wir die Dinge in ihre Grenzen verweisen, sie koordinieren müssen. Und dennoch, die geordnete Welt sei nicht die Weltordnung. „Du grenzt nicht“[5], schreibt Buber ebenso knapp wie treffend, denn wer sich offen auf die Begegnung einlässt, hat kein Etwas zum Gegenstand – er oder sie „gegenwartet“ vielmehr. Das merken wir spätestens dann, wenn wir uns Hals über Kopf verlieben oder keine Worte mehr zu fassen vermögen, was wir erleben und wir in unbeherrschtes Lachen oder Weinen, manchmal sogar in beides gleichzeitig, fallen.
Experimentierfelder an den Grenzen der Philosophie
„>Diese Entgrenzungen stellen insbesondere die Philosophie vor große Herausforderungen, denn wie vermögen wir es, etwas über die „Weltordnung“ zu sagen, wenn wir doch alles, auch sinnlich oder gar spirituell Erkannte, begrifflich fassen müssen? Hier helfen Experimentierfelder an den Grenzen der Philosophie, wie beispielsweise ein bewusst leibliches oder auch intuitives Verstehen, theologisch-spirituelle Erkundungstouren, Tier- und Naturbegegnungen im Sinne eines „echten Dialogs“ (Buber), künstlerisch-performativer Ausdruck oder auch interkulturelle Grenzgänge. Hier wird die Philosophie der Grenze zu einem Philosophieren an, vielleicht sogar auf der Grenze oder über sie hinaus.
Kritik der Abgrenzungsmechanismen
Lann Hornscheidt fordert uns heraus, auch vermeintlich „richtige“ Grenzziehungen auf den Prüfstand zu stellen. Denn: „Die affirmative und positive Füllung des Konzepts Grenze im westlichen Denken, sowohl für ein ‚gesundes‘ individuelles Selbstverständnis, als auch für Nationen als Kollektiv, entsprechen sich und verstärken sich in ihrer unhinterfragbar scheinenden positiven und selbstverständlichen Wahrnehmung gegenseitig.“[6] Doch was ist problematisch an dem Narrativ der „gesunden Grenze“? Vielleicht ist es das innere Bild, das es erzeugt von der Undurchlässigkeit, der „Unkontaminierbarkeit“[7] durch Anderes und Fremdes. Dieses innere Bild führt zu Formen der Entfremdung und Vereinzelung und steht der Verbindung zwischen Menschen hinderlich gegenüber: Hier bist Du mit Deinen Bedürfnissen und Gefühlen und dem gegenüber – unabhängig von deiner Verfasstheit – stehe ich mit meinen Bedürfnissen und Gefühlen. Die Hürde, sich mit der eigenen Verletzlichkeit zu zeigen, um Unterstützung zu bitten oder Privilegien für andere nutzbar zu machen, wächst. Mit dieser Kritik an Abgrenzungsmechanismen ist sicherlich nicht gemeint, dass Menschen Grenzüberschreitungen dulden sollen. Stattdessen stellt sich die Frage, was es bedeutet, durchlässig zu sein, ohne zu zerfließen: Grenzen zu überschreiten, ohne sie aufzulösen, sie gerade in der offenen Begegnung wahrzunehmen, paradoxerweise die Distanz und die Nähe zusammenzudenken – all das sind vielleicht die größten Herausforderungen unserer Zeit.
Barbara Schellhammer, Prof. Dr., hat den Lehrstuhl Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philosophie München inne. Sie leitet das dortige Zentrum für Globale Fragen.
(Foto: privat)
Lena Schützle arbeitet am Zentrum für Globale Fragen an der Münchener Hochschule für Philosophie als wissenschaftliche Mitarbeiterin.
(Foto: Kristina Kleiß)
Foto: Barbara Schellhammer
[1] Dieser Text basiert auf der Einleitung unseres Buchs Philosophie der Grenze, das auch als open access E-Book erhältlich ist. Vgl. https://www.researchgate.net/publication/363841055_Philosophie_der_Grenze (09.04.2024).
[2]Mall, Ram Adhar (1996): Philosophie im Vergleich der Kulturen. Darmstadt: Primus, 5.
[3] Vgl. Plessner, Helmuth (1982): Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie. Stuttgart: Reclam, 16.
[4] von Humboldt, Wilhelm (2010): Werke in fünf Bänden, III (Hrsg. Filtner, Andreas/Giel, Klaus). Darmstadt: wbg, 434.
[5] Buber, Martin (1995): Ich und Du. Stuttgart: Reclam, 4.
[6] Hornscheidt, Lann (2019): Zu Lieben. Lieben als politisches Handeln. Kapitalismus entlieben. Berlin: wortenundmeer, 18.
[7] Vgl. Shotwell, Alexis (2016): Against Purity. Living Ethically in Compromised Times. Minneapolis: University of Minnesota Press.