Schöpfungstheologie trifft Musik. Dorothee Bauer reflektiert darüber, wie Komponist:innen die Natur hören und deuten.
Meeresrauschen, Vogelgezwitscher, Blätterrascheln im Wind – die Natur steckt voller Klänge. Musiker:innen und Komponist:innen aller Zeiten haben sich von Naturphänomenen inspirieren lassen und ihre Eindrücke von Sonnenuntergängen, Winterreisen oder Alpenspaziergängen in Töne gefasst. Entstanden ist eine schier unüberblickbare Fülle an Werken, die nicht nur Naturlaute musikalisch abbilden, sondern auch eine bestimmte Deutung von der Natur und der Stellung des Menschen in der Schöpfung zeigen.
Franz von Assisi hat mit seinem berühmten „Sonnengesang“ (eigentlich: „Lobgesang der Geschöpfe“) ein Stück Weltliteratur geschaffen: „Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz: Von dir, Höchster, ein Sinnbild.“ Nie zuvor ist die Natur so hymnisch besungen worden wie in diesem 1225 gedichteten und komponierten Gebet, das Franziskus kurz vor seinem Tod schuf. In der ältesten Abschrift ist zwischen den Textzeilen Platz für Noten vorgesehen – ein Beleg dafür, dass der Sonnengesang auch tatsächlich gesungen werden sollte.
Revolutionäre Sicht auf die Natur
Das Naturverständnis des Franziskus, den eine frühe Legende den „erstaunlichsten Verrückten der Welt“ nennt, war für damalige Verhältnisse geradezu revolutionär: Nicht die wilde Natur, die vom Menschen beherrscht werden muss, steht im Mittelpunkt, sondern das geschwisterliche Miteinander aller Geschöpfe, Elemente und Himmelskörper. Von Gottes Gegenwart ist die gesamte Schöpfung durchwirkt. Sie wird zum Gleichnis, gewissermaßen zum Sakrament, das auf Gott verweist, der die Welt gut erschaffen hat und sich in ihr offenbart. Mit derselben Ehrfurcht, die der Mensch Gott entgegenbringt, soll er sich auch um die Natur kümmern (vgl. Gen 2,15) – ein Anspruch, mit dem sich heute selbst kirchliche und christliche Einrichtungen immer noch schwertun. Am verantwortlichen, dankbaren Umgang des Menschen mit der Schöpfung zeigt sich seine Haltung dem Schöpfer gegenüber. In der Liebe des Menschen zu allen Lebewesen geschieht die Verherrlichung Gottes. Der Sonnengesang, der unzählige Male vertont wurde, hallt bis in die Öko-Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus nach: Er kritisiert das verbreitete menschliche Verhalten des „Herrschers, des Konsumenten oder des bloßen Ausbeuters der Ressourcen“ und wirbt dafür, sich der Natur in der Haltung der „Offenheit für das Staunen und das Wunder“ zu nähern, sich „allem, was existiert, innerlich verbunden“ zu fühlen und die Schöpfung zu bewahren (LS 11).
Der tönende Kosmos in der griechischen Philosophie
Schon viele Jahrhunderte vor Franziskus, in der griechischen Philosophie, wurde die Musik mit der Natur in Verbindung gebracht und als Gleichnis des Kosmos gedeutet. Pythagoras erkannte in den Bewegungen der Gestirne mathematische Gesetzmäßigkeiten, die er auch in den Proportionen der Musik, beispielsweise in den Intervallen der sog. „Naturtonreihe“ wiederfand. Er kam zu dem Schluss, dass durch die Bewegung der Himmelskörper selbst eine Art Musik entstünde, die für den Menschen freilich nicht wahrnehmbar sei. Auch wenn dank eines gewandelten Weltbilds die Theorie der kosmischen Sphärenharmonie inzwischen ad acta gelegt ist, so wirkt doch die Vorstellung, dass die Musik ein Abbild des (von Gott) wohl geordneten Kosmos‘ sei (vgl. Weish 11,20), bis in Kompositionen der Gegenwart nach.[i] Mehr noch: Komponist:innen treten gewissermaßen selbst in die Rolle des Schöpfergottes, wenn sie Tonmaterial zusammenfügen („com-ponieren“) und Klangwerke erschaffen.
Musik als Nachahmung und Interpretation der Natur
Schon Aristoteles wusste: „Ars imitatur naturam“ – die Kunst imitiert die Natur. In der Barockzeit diente die Musik auch der Nachahmung von Naturereignissen und Tierlauten. In J.S. Bachs Matthäuspassion blitzt und donnert es, in G.F. Händels Wassermusik zieht ein Boot über die Wellen der Themse, in A. Vivaldis Vier Jahreszeiten werden die Hörer:innen imaginär der flirrenden, sommerlichen Mittagshitze ausgesetzt oder in klirrend-kalte Winterwelten versetzt. Rufende Kuckucke, schreiende Esel – die Fülle an Musikbeispielen dieser barocken „Nachahmungsästhetik“ ist immens. Viele davon wirken jedoch weniger realistisch als formelhaft-stilisiert. „Die Natur in der Musik war gebändigt wie die der Gärten von Versailles.“[ii] Europaweit ringen musikästhetische und philosophische Diskurse um ein Verständnis von Natur und das Wesen der Musik.
Natur als Abbild eines Seelenlebens
In der Romantik hingegen verraten Naturkompositionen oft mehr über das seelische Innenleben der Komponist:innen als über realistische Naturereignisse. Die Natur wird zum Spiegel der Seele. In die kompositorische Darstellung aufbrausender Klangfluten, geheimnisvoller Wälder, idyllischer Landschaften mischen sich die subjektiven Empfindungen und sehnsuchtsvolle Gefühle der Tondichter:innen. Fanny Hensel, die zeitlebens unverdientermaßen im Schatten ihres Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy stand und hier stellvertretend für so viele vergessene Komponistinnen genannt wird, vertont in ihren Gartenliedern op. 3 voller romantischer Sehnsucht Gedichte Joseph von Eichendorffs. Sie tönen vom Rauschen der Bäume, vom lichten Sonnenschein oder von der „Waldeseinsamkeit, wenn die Bäume träumend lauschen“, so das erste Lied. Von Franziskus als Ort der Offenbarung Gottes gedeutet, im Barock kompositorisch eingehegt, wird die Natur nun zum Hinweis auf andere Wirklichkeiten, zum Abbild des Seelenlebens der Komponist:innen, deren subjektiver Genius und künstlerisches Selbstverständnis erwacht sind. Richard Wagner oder auch Gustav Mahler ließen sich ferner anführen. Die Natur droht religiös überhöht, mit religiösem Pathos aufgeladen zu werden.
Der Gesang der Vögel bei Olivier Messiaen
Claude Debussy, der mit Klangdichtungen wie „La Mer“ meisterhaft Naturimpressionen vertont hat, schreibt: „nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang! Für den, der mit dem Herzen schaut und lauscht, ist das die beste Entwicklungslehre, geschrieben in jenes Buch, das von den Musikern nur wenig gelesen wird: das der Natur“[iii].
Ein Komponist, der dieses „Buch“ gründlich studiert hat, ist Oliver Messiaen (1908-1992). Berühmt ist der französische Komponist, Organist und bekennende Katholik auch wegen seiner besonderen Vorliebe für Vogelstimmen. Mit Aufnahmegerät, Notizblock und Bleistift ausgestattet, streifte er durch Wiesen und Felder, bereiste die ganze Welt, um auch noch die seltensten Vogelarten aufzustöbern und ihre Gesänge zu notieren. Diese übertrug er in Notenschrift und auf Instrumente. Katalog der Vögel (Catalogue d‘oiseaux) oder Erwachen der Vögel (Réveil des oiseaux) heißen seine Werke, nicht zu vergessen die Vogelpredigt in seiner monumentalen Oper über den Heiligen Franziskus. Hinter seinen ornithologischen Klangstudien steht auch ein religiöses Interesse: Als „unsere kleinen Boten der immateriellen Freude“[iv] bezeichnet er liebevoll seine gefiederten Freunde, die sich in freiem Flug in himmlische Gefilde aufschwingen. Ihr wunderbarer Gesang sei vor allem eines: „freie, anonyme Musik, improvisiert aus Freude“[v]. Und damit seien die Vögel geradezu prädestiniert, Gott in unaussprechlicher Weise zu loben.
Hochwasser und Gletscherschmelze in der Neuen Musik
Der Klimawandel macht auch vor der kompositorischen Auseinandersetzung mit der Natur nicht halt. An die Stelle einer unbedarft dahinplätschernden Händel’schen Wassermusik oder Debussys faszinierendem Werk La Mer treten heute Kompositionen, die Hochwasser und Umweltkatastrophen thematisieren. Vom Hochwasser in Venedig beispielsweise handelt „Aqua alta“ des schwedischen Komponisten Jan Sandström (* 1954) oder das beeindruckende Klavierquartett „Acquallagola“ des jungen italienischen Komponisten Giorgio Musolesi (*1998) – in Anspielung auf die Redewendung „das Wasser steht bis zum Hals“. Der Untertitel wird noch deutlicher: „Szenario für einen klimatischen Tod in Venedig“.[vi]
Der Gletscher als Patient
Das Schmelzen der Gletscher in Island bringt eindrucksvoll die moldawische, in Paris lehrende Komponistin Mariana Ungureanu (*1974) zu Gehör.[vii] Begleitet von Wissenschaftler:innen des Hornafjordur Research Center (University of Iceland) unternimmt sie Feldforschungen am Gletscher Vatnajökull und dokumentiert in Bild und Ton das langsame Sterben der Eisgiganten. Dabei entsteht ein multimediales Kunst-Wissenschafts-Ökologie-Projekt. Die videounterstützte Musik Ungureanus gehtbuchstäblich unter die Haut. Der Gletscher erscheint wie ein Patient, der am Tropf hängt. Das ununterbrochene, akustisch inszenierte Tropfen des Schmelzwassers, das sich in strömende Bäche wandelt, wirkt wie das Ausbluten eines menschlichen Körpers, das langsame, unaufhaltbare Sterben eines Lebewesens. Sowohl die Faszination und Schönheit der riesigen Eiswelten als auch deren Fragilität und irreversible Zerstörung durch den Menschen kommen drastisch zum Ausdruck.
„Mutter Erde“, die Franziskus hymnisch besingt, wirkt nun wie ein leidender Körper, wie blutendes menschliches Fleisch. In eindringlicher Weise macht die Klanginstallation Schönheit, Unberechenbarkeit und Bedrohtheit der Natur erfahrbar. Sie zeigt, dass das geschwisterliche Miteinander von Bruder Sonne, Schwester Wasser, Mutter Erde und allen Geschöpfen, die Ehrfurcht und Verantwortung des Menschen gegenüber der Schöpfung unabdingbar sind. Franz von Assisi hat dies vor ziemlich genau 800 Jahren in Worte und Klänge gefasst.
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Dorothee Bauer ist post-doc-Assistentin am Institut für Systematische Theologie und Ethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie hat in Freiburg i.Br. und Wien Musik (Violoncello) und Theologie studiert.
(Foto: Tobias Hornung; https://www.tobiashornung.com/)
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[i] Der Komponist Paul Hindemith z.B. versucht in seiner Sinfonie Die Harmonie der Welt (1951), „die Weltenharmonie zu erkennen und die Musik als ihr tönendes Gleichnis zu verstehen.“
[ii] Volker Hagedorn, Musik inspiriert von der Natur; Internetressource: https://www.elbphilharmonie.de/de/mediathek/musik-inspiriert-von-der-natur/712 (abgerufen: 12.4.2024)
[iii] Claude Debussy, Monsieur Croche et autres écrits. Sämtliche Schriften und Interviews zur Musik. Hg. von François Lesure. Übers. Von Josef Häusler, Stuttgart: Reclam 2010, 179.
[iv] Olivier Messiaen, Technik meiner musikalischen Sprache. Übers. von Sieglinde Ahrens. Bd. 1, Paris 1966, 32.
[v] Messiaen, in: Bernard Gavoty, Who are you, Olivier Messiaen?, in: Tempo 58 (1961) 33–36, hier 35.
[vi]https://static1.squarespace.com/static/64ad4d725ab9cd5e933320db/t/6505f6c627010400a7c04ce2/1694889672561/DYNAMIKfest+-+press+-+MUSOLESI+-+deu.pdf
[vii] https://www.marianaungureanu.com/the-ice-life/ und: https://theicelife.org/2023/11/18/at-semmelweisklinik-wien-nov23/