Auch wenn Sarah Scotti skeptisch ist, ob es dem religiösen Naturalismus gelingen kann, seine eigenen Ansprüche konsistent einzuholen, versteht sie ihn als Inspiration für religiös-spirituelle Haltungen in Resonanz zur Lebenswelt des modernen Individuums.
In seinem zu Ostern 2024 in der NZZ veröffentlichten Artikel wendet sich der Philosoph Wilhelm Schmid den großen Fragen von Tod und Unsterblichkeit zu. Für ihn ist die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod physikalisch gegeben. Die komplexe Zusammensetzung aus materiellen Komponenten, die den Menschen konstituiert, zerfällt bei dessen Tod. Seine Atome und Moleküle jedoch kehren in die Natur zurück, setzten sich wieder neu zusammen und kreieren neues Leben, dass irgendwann wieder vergeht und alles wieder von Neuem beginnt.Von einer transzendenten Wirklichkeit jenseits von empirisch Messbaren ist bei Schmid nicht mehr die Rede. Sein Konzept spricht religiöse Sehnsüchte an, verbleibt aber völlig in der Immanenz.
Damit kann es einer Strömung zugeordnet werden, die sich mit dem Überbegriff ‚religiöser Naturalismus‘ bezeichnen lässt und der sich in den letzten Jahren besonders im US-amerikanischen Raum durch Arbeiten von Loyal Rue, Jerome A. Stone, Donald Crosby, oder Ursula Goodenough – um nur einige Vertreter*innen zu nennen – als eine Alternative zu traditionellen religiösen Traditionen etabliert hat. Die verschiedenen Positionen, die dem religiösen Naturalismus zugeordnet werden, unterscheiden sich in ihren Schwerpunkten und Perspektiven mitunter stark voneinander. Jedoch lässt sich ein gemeinsames Grundanliegen benennen, das in dem Versuch besteht, zwei gegenläufige Positionen zu vereinen.
Klassischer Naturalismus
Der klassische Naturalismus vertritt die These, dass sich alles, was existiert, mit der Methode der Naturwissenschaften fassen und erklären lässt. Somit wird die Wirklichkeit als ein rein materielles Gefüge aus naturgesetzlich festgelegten Abläufen verstanden, in welches sich alles Existierende letztlich einordnen lässt. Phänomene, die sich einer solchen Einordnung entziehen, werden als nichtexistent bzw. als nicht relevant betrachtet, z.B. Phänomene der menschlichen Lebenswelt wie die Willensfreiheit oder das Bewusstsein. Darüber hinaus steht der Naturalismus auch einer religiösen Wirklichkeitsdeutung ablehnend gegenüber.
Religiöser Naturalismus
Der religiöse Naturalismus wählt jedoch einen anderen Weg. Er teilt die skizzierte naturalistische Basisontologie zwar vollständig, bejaht aber explizit die Möglichkeit einer spirituellen Haltung und Lebensweise und versucht Konzepte, die ursprünglich aus dem Bereich der Religionen stammen, in sein Wirklichkeitsverständnis zu integrieren.
Dabei verbleibt er aber vollständig in einem naturalistischen Rahmen und kommt dementsprechend ohne jeglichen Bezug zu einer Sphäre aus, die die naturwissenschaftlich beschreibbare Welt übersteigt – sei es die Vorstellung einer transzendenten Gottheit, eines kreativen Grundes allen Seins oder einer geistig durchwirkten Natur. An die Stelle von Qualitäten, die über das rein Materielle hinausgehen, rückt die belebte und unbelebte Natur in ihrer Vielfalt, ihrer Komplexität, ihrer Schönheit und Abgründigkeit in den Fokus und hat eine damit eine besondere Bedeutung für die naturalistische Spiritualität.
Die Natur – heilig aus sich selbst heraus
Die Natur ist ein zentraler Ort spiritueller Erkenntnis und wird mitunter als ‚heilig‘ klassifiziert, wobei dieser Begriff vollständig naturalistisch rekonstruiert wird. Heilig ist die Natur nicht, weil sich in ihr eine sonst verborgene Transzendenz zeigt, sondern aus sich selbst heraus. Auch der Mensch wird völlig naturalistisch verstanden, hat jedoch die Fähigkeit, nach dem Sinn zu fragen, zu staunen, Dankbarkeit für sein Leben zu empfinden und demütig und ehrfürchtig zu werden angesichts seiner Existenz. Diese Haltungen werden von der naturalistischen Spiritualität gefördert und kultiviert.
Ethischer Anspruch – es bleibt nur die menschliche Kraft und Kreativität
Ein weiteres Kernelement des religiösen Naturalismus ist ein stark ethischer Anspruch. Die Natur ist unbedingt schützenwert, und es gilt, alles gegen die ökologischen menschenverursachten Krisen unserer Zeit zu tun. Die Betonung der Verantwortung wirkt durch die naturalistische Basisontologie verstärkt: Es gibt kein welttranszendentes Heil, keine eschatologische Hoffnungsperspektive, keine Rettung von außen – es bleibt nur die menschliche Kraft und Kreativität.
Das Versprechen – eine rationale Spiritualität
Im Gegensatz zu einem reinen Naturalismus, der mitunter mechanisch und kalt wirkt, nimmt der religiöse Naturalismus die menschliche Sehnsucht nach Bedeutung, Sinn, Wert und Eingebettetsein in ein das Individuum übersteigendes Ganzes auf und verspricht die Möglichkeit einer rationalen Spiritualität, die das Bedürfnis nach Sinndeutung und Orientierung in der Welt in Übereinstimmung mit und auf der Basis von naturwissenschaftlichen Welterkenntnissen erfüllt und dass zudem ohne den Ballast traditioneller Religionen. Zudem triff er in einer Zeit, in der die Auswirkungen der ökologischen Krisen überdeutlich spürbar werden, einen Nerv. Damit erscheint er nicht nur als eine attraktive Option der Wirklichkeitsdeutung, sondern auch als eine ernsthafte, metaphysisch sparsame Konkurrenz für traditionelle religiöse Konzepte.
Rückfragen und Relevanz
Jedoch stellt sich die Frage, ob der religiöse Naturalismus seinen eigenen Anspruch einlösen kann, lässt sich doch eine grundlegende Spannung zwischen seiner naturalistischen Grundausrichtung und seiner anthropologisch-spirituellen Agenda feststellen. Gemäß dem Naturalismus müssten alle Aspekte der Wirklichkeit sich rein naturwissenschaftlich als materielle, naturgesetzlich beschreibbare Konstellationen fassen und erklären lassen, was schon auf der anthropologischen Ebene zu Spannungen führt: Der Mensch kann nur dann ethisch verantwortlich für die Natur sein, wenn er prinzipiell das Vermögen besitzt, seine Handlungen frei und rational an Gründen zu orientieren und sein Verhalten nicht vollständig durch Naturgesetze festgelegt ist.
«Heiligkeit der Natur» – innerhalb eines Naturalismus denkbar?
Diese Spannung macht sich auch mit Blick auf die spirituelle Haltung des religiösen Naturalismus bemerkbar. Für sie sind Elemente konstitutiv, die in einer solchen Wirklichkeitsauffassung nicht vorkommen können. Exemplarisch kann dies an dem Konzept der „Heiligkeit der Natur“ gezeigt werden. Denn es ist unklar, was genau damit innerhalb eines Naturalismus gemeint sein könnte. Eine naturalistisch verstandene Natur ist ein Konglomerat an bloßen naturgesetzlich-materiell beschreibbaren Abläufen ohne intrinsische Werte. Man kann natürlich einwenden, dass es der Mensch ist, der der Natur ihren Wert und ihre Bedeutung gibt. Jedoch müsste dann die Frage gestellt werden, warum dann die Kategorie des Heiligen zur Beschreibung der Natur die angemessenste sein sollte, wären doch auch andere Zuschreibungen möglich, wie z.B. die Natur als eine bloße Ressource. Hierauf bleibt die naturalistische Spiritualität eine Antwort schuldig.
Spiritualität – in Resonanz zur Lebenswelt des modernen Individuums
Dieser Spannung kann auf zwei Arten begegnet werden. Entweder wird die naturalistische Basisontologie so modifiziert, dass in ihr auch Qualitäten jenseits des rein materiell-naturgesetzlich Fassbaren vorkommen können – dann muss aber gefragt werden, ob das Label Naturalismus dann noch zutreffend ist. Oder man hält an der naturalistischen Basisontologie fest und akzeptiert, dass die religiös-spirituellen Elemente letztlich nur metaphorische Bedeutung besitzen. Ob dies dann aber die Basis für eine lebenstragende Spiritualität sein kann, ist fraglich.
Die skizzierte Grundspannung lässt berechtigte Zweifel aufkommen, ob es dem religiösen Naturalismus gelingen kann, seine eigenen Ansprüche konsistent einzuholen. Jedoch kann er als eine Inspiration dienen, religiös-spirituelle Haltungen zu entwickeln, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse ernst nehmen und in Resonanz zur Lebenswelt des modernen Individuums stehen.
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Sarah Scotti studierte katholische Theologie und Philosophie in Freiburg im Breisgau, Rom und München. In ihrem Promotionsprojekt widmet sie sich der Herausforderung, die der Naturalismus für eine religiös-theistische Deutung von Wirklichkeit darstellt. Von 2021 bis 2024 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie (Katholische Theologie) an der Universität Rostock, seit Februar 2024 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Münster.