Das Johannesevangelium steht seit langem in Verdacht antisemitische Haltungen zu transportieren. Manuel Bonimeier und Sandra Huebenthal gehen diesem Verdacht mit einer kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Perspektive nach.
Kein anderer neutestamentlicher Text hat christologische und trinitätstheologische Lehrentscheidungen der frühen Kirche so massiv und nachhaltig geprägt wie das vierte Evangelium. Es gehört als fundierender Identitätstext zum Grundbestand des christlichen kulturellen Gedächtnisses. Allerdings sind auch die in schwarzweißer Rhetorik sehr eng gezogenen Heilsgrenzen ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der johanneischen Gedankenwelt. Das Johannesevangelium macht unmissverständlich klar, dass es um alle schlecht bestellt ist, die den Glauben an Jesus und das damit zu erlangende ewige Leben ablehnen. Auf der Ebene der johanneischen Erzählung sind das in der Tat „die Juden“ bzw. „die Judäer“ (hoi Ioudaioi). Sie treten als unverständige Widersacher Jesu auf, denen nicht ohne Spott und Häme erklärt wird, sie seien außer Stande ihre eigenen heiligen Schriften zu verstehen. Wenn der johanneische Jesus schließlich sogar den Teufel zum Vater der Juden erklärt (Joh 8,44), ist endgültig der Grundstein für die hochproblematische antisemitische Rezeptionsgeschichte des Johannesevangeliums gelegt.
Was macht das Johannesevangelium mit jüdischen Leserinnen und Lesern?
Christen, die das Johannesevangelium liturgisch als Wort Gottes verehren, geraten heute angesichts derart brenzliger Aussagen in Erklärungsnot. Dabei hat es auch nicht weitergeholfen, das Johannesevangelium als jüdische Schrift zu lesen und die darin gespiegelten Auseinandersetzungen als binnenjüdischen Konflikt zu relativieren. Ebenso wenig können sich Auslegerinnen und Ausleger kurzerhand auf eine Trennung von Text und dessen problematischer Rezeption berufen. Dass diese Strategien nicht tragen, zeigt die jüdische Exegetin Adele Reinhartz in ihrem für diesen Sammelband namensgebenden Werk „Befriending the Beloved Disciple“. In ihrem 2005 erschienen Buch personalisiert sie allen erzähltheoretischen Regeln trotzend die Figur des „Jüngers, den Jesus liebte“ als impliziten Autor des Evangeliums und tritt ihm als jüdische Gesprächspartnerin gegenüber. Dabei tritt schonungslos zutage, wie das Johannesevangelium als Erzählung funktioniert, wenn sie von jüdischen Leserinnen und Lesern gelesen wird. Als Jüdin ist für Reinhartz angesichts der antijüdischen Rezeptionshaltungen, die das Johannesevangelium nahelegt, schließlich kein freundschaftliches Verhältnis zum geliebten Jünger möglich.
Seminararbeiten für die Schublade?
20 Jahre nach der Veröffentlichung von Reinhartz Buch zeigen Studierende der Universität Passau mit „Neue Freundschaft mit dem geliebten Jünger“, dass sich das Potential studentischer wissenschaftlicher Arbeiten nicht darin erschöpft, in den Schubläden der Universität aufbewahrt zu werden. Im Rahmen einer Seminarveranstaltung der Universität Passau haben Studierende intensiv mit dem johanneischen Identitätsentwurf gerungen und dabei auch Kontakt zu Adele Reinhartz aufgenommen. Der in der Reihe „Passauer Forum Theologie“ erschienene Sammelband macht die Ergebnisse dieses Forschungsprozesses jetzt in Form von fünf Aufsätzen einem breiten Publikum zugänglich.
Was kann ein Kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischer Zugang beitragen?
Der rote Faden der Beiträge ist dabei die Erprobung einer kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Lesebrille. Die von Herausgeberin Sandra Huebenthal am Lehrstuhl für Exegese und Biblische Theologie der Universität Passau entwickelte Hermeneutik liest neutestamentliche Texte als Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse, das heißt als narrative Identitätsentwürfe. Dieser interdisziplinär angelegte Ansatz verbindet Erkenntnisse der Neurobiologie, narrativen Psychologie, Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaft zu einem innovativen Auslegungsmodell, das auch eine neue Perspektive auf die Entstehung des Johannesevangeliums ermöglicht. Wenn es darum geht, die von Adele Reinhartz eindrucksvoll herausgearbeitete binär ab- und ausgrenzende Rhetorik des Johannesevangeliums zu verstehen, bringt die Rückfrage nach historischen Geschehnissen oder literarischen Vorlagen allein wenig Licht ins Dunkel. Die Beiträge des Bandes zeigen eindrucksvoll, dass die Art und Weise, wie gemeinsame Vergangenheit im Modus der Erzählung sozial ausgehandelt wird, mehr über den Identitätsdiskurs der Erinnerungsgruppe als über das erinnerte Geschehen verrät. In „Neue Freundschaft mit dem geliebten Jünger“ machen sich junge Exegetinnen und Exegeten ausgestattet mit dieser neuen Lesebrille auf den Weg, das Johannesevangelium als narrativen Identitätstext zu erforschen.
Neue Freundschaft mit dem geliebten Jünger?
Doch auch dabei stellt sich nicht immer Freundschaft mit dem geliebten Jünger ein. Immer wieder kommt eine ad intragerichtete narrative Strategie der johanneischen Erinnerungsgemeinschaft zum Vorschein, die auf scharfe Polemik und Abgrenzung setzt, um ein bedrohtes Gruppenbewusstsein zu stabilisieren. Damit diese Art und Weise des Erzählens heutige Leserinnen und Leser nicht in gefährliches Fahrwasser führt, braucht es einen kulturwissenschaftlich sensiblen Zugang zum Johannesevangelium, der die narrative Vergemeinschaftung von Vergangenheit als Identitätsstrategie ernst nimmt. Die fünf Beiträge machen anhand von ausgewählten Textbeispielen deutlich, wie das Johannesevangelium als Gedächtnistext funktioniert.
Freundschaft innerhalb von Gruppengrenzen
Der Band wird von Mitherausgeber Manuel Bonimeier eröffnet, der zunächst den hermeneutischen Zugang der Beiträge erläutert und interdisziplinär verortet. Zudem wird anhand von Joh 6 deutlich, wie die johanneische Erinnerungsgemeinschaft mithilfe von Erinnerungsfiguren und kulturellen Gedächtnisrahmen wie etwa der Exodus-Tradition einen neuen Rahmen für künftige Identitätsbildungsprozesse formt. Daraufhin nimmt Valentin Auer die johanneische Gottesmutter in den Blick. Die Art und Weise wie das Johannesevangelium Maria einerseits von Jesus abgrenzt, sie aber gleichzeitig zusammen mit dem Lieblingsjünger narrativ als vorbildhafte Identifikationsfigur inszeniert, stellt dabei die ein oder andere herkömmliche mariologische Exegese vor erhebliche Schwierigkeiten. Melanie Zeger greift das sowohl für Reinhartz´ Buch als auch für den vorliegenden Band namensgebende Freundschaftsthema auf. Vor dem Hintergrund antiker Freundschaftskonzepte zeigt Zeger, dass Freundschaft im Johannesevangelium innerhalb der johanneischen Gruppengrenzen gedacht wird. Die Freundschaft Jesu manifestiert sich als Freundschaft bzw. Liebe der Jünger untereinander. Dabei bleiben die „Juden“ ein weiteres Mal außen vor. Dieses scheinbar unversöhnliche Nebeneinander von Liebesgebot einerseits und Judenfeindlichkeit andererseits stellt anschließend Johanna Graßl in ihrer Exegese der Abschiedsreden auf den Prüfstand. Sie zeigt dabei anschaulich, dass empfundene Widersprüchlichkeiten hier auf Präkonzepten zeitgenössischer Leserinnen und Leser beruhen, während innerhalb der johanneischen Gedankenwelt der Aufruf zur Liebe untereinander problemlos mit der ablehnenden Haltung gegenüber außenstehenden Gruppen vereinbar ist. Dass die johanneische Erinnerungsgemeinschaft innerhalb ihrer eng gesteckten Gruppengrenze offen ist für unterschiedliche Glaubenswege, zeigt Vera Lutz anhand der johanneischen Ostertexte. Sie veranschaulicht, wie anhand verschiedener Erinnerungsfiguren mehrere gleichwertige Möglichkeiten, zum Auferstehungsglauben zu gelangen narrativ durchgespielt werden.
Neuer Wein in neuen Schläuchen
„Neue Freundschaft mit dem geliebten Jünger“ ist ein Beispiel dafür, wie gelungene Nachwuchsförderung und Freude am wissenschaftlichen Arbeiten Hand in Hand gehen können. Die Autoren und Autorinnen zeigen sich offen für einen neuen Zugang zur wissenschaftlichen Bibelauslegung, der nicht einfach alternative Methoden, sondern auch neue Fragen zutage fördert. Das Buch lädt Leserinnen und Leser ein, sich diesen Fragen gerade im Hinblick auf problematische Facetten des Johannesevangeliums zu stellen, was für Christinnen und Christen ein lohnendes und für die Gegenwart höchst relevantes Unterfangen darstellt.
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Sandra Huebenthal, Prof. Dr., ist Professorin Exegese und Biblische Theologie an der Universität Passau.
Foto: privat
Manuel Bonimeier, Dr., Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Exegese und Biblische Theologie an der Universität Passau und Lehrer an der Carl Orff Grundschule in Traunwalchen.
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