Im Kontext neuerer Entwicklungen im Bereich der evangelischen Sexualethik geht Megan Arndt der Frage nach, inwiefern das vernachlässigte Thema Solosexualität als möglicher Ausdruck der Selbstliebe in sexualethische Entwürfe zu integrieren ist.
Als evangelische Theologin über Sexualität zu schreiben, ist möglicherweise heikel: Zwar zeigen die Ergebnisse der ForuM-Studie den hohen Bedarf danach, dass Theologie und Evangelische Kirche sich mit Missbrauch und sexualisierter Gewalt in der eigenen Institution befassen. Doch inwiefern Theologie sich in positiver Weise zu Sexualität äußern kann oder sollte, bleibt vorerst unklar: Obliegt die eigene Sexualität – Konsens vorausgesetzt – nicht dem intimsten Privatbereich? Inwiefern könnte es im Zuständigkeitsbereich der Theologie liegen, sich hierzu zu äußern?
Evangelische Sexualethik – zu prüde oder zu zeitgeistig?
Bei einem Blick auf Veröffentlichungen aus dem Bereich der evangelischen Sexualethik über die letzten Jahrzehnte und Jahre, lässt sich eine Entwicklung konstatieren: Von einem Festhalten an traditionellen Geschlechterrollen und Vorstellungen von Sexualität, die zwischen Mann und Frau in der Ehe – vor allem zum Zweck der Fortpflanzung – vollzogen wird, über behutsame Öffnungen, bis hin zu einer Anerkennung homosexueller Partnerschaften und insgesamt einer Vielfalt an Lebensformen. Dabei ist die evangelische Theologie allerdings nicht progressiv vorangegangen.1 So wird evangelische Sexualethik bisweilen von der einen Seite als zu prüde, von der anderen als zu zeitgeistig abgestempelt.
Zuordnung von Sexualität zu Ehe oder langfristigen Beziehungen
2013 hat die EKD in dem Text „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ eine Offenheit für Familienformen neben der zweigeschlechtlichen Ehe formuliert. Die sich anschließende Kontroverse darum war so stark, dass die im Nachgang geplante kirchliche Veröffentlichung zur Sexualethik gestrichen wurde. Die Frage, inwiefern an der Ehe als Leitbild festgehalten wird, zeigt sich dabei eng mit sexualethischen Fragestellungen verknüpft.
Die bereits begonnene Arbeit am Text zur Sexualethik wurde im Anschluss von einigen Autor:innen mit Einverständnis der Kirche fortgesetzt und unter dem Titel „Unverschämt – schön“ veröffentlicht.2 Die Autor:innen entwickeln hier Kriterien für eine gelungene Sexualität, die sie in der Lebensform der Ehe in besonderer Weise verwirklich sehen: Es geht etwa um Treue, Verbindlichkeit sowie gegenseitige Verantwortung. Auch, wenn eine Vielfalt von Lebensformen neben der Ehe anerkannt wird, zeigt sich insgesamt eine Zuordnung von Sexualität zu Ehe oder von Sexualität zu (langfristigen) Beziehungen.
Im Spannungsfeld zwischen körperlichem Genuss und Gewalterfahrung
Das Bild von Sexualität in den neueren ethischen Schriften ist dabei grundlegend ein Positives: Sexualität wird als Schöpfungsgabe Gottes bezeichnet. Das Bild von einer evangelischen Theologie, die körperfeindlich ist und Sexualität beschämt tabuisiert, wird übermalt. Stattdessen wird Platz geschaffen für körperlichen Genuss und Sexualität als Teil des menschlichen Lebens. Dabei ist der Prozess des Übermalens kein abgeschlossener. Nicht nur, dass an der ein oder anderen Stelle die Farbe des alten Bildes durchschimmert; auch malen einige Künstler:innen mit, die unterschiedliche Vorstellungen haben, wie das fertige Bild aussehen sollte.
Die Auseinandersetzungen mit Fragen der Sexualität sind dabei vor besondere Herausforderungen gestellt: Einerseits gibt es die benannten Bemühungen, Sexualität theologischerseits nicht grundsätzlich mit Sünde zu assoziieren. Andererseits sind Erfahrungen sexualisierter Gewalt von den Überlegungen nicht auszuschließen und ethisch zu reflektieren.3. Bei der Zuordnung einer gelingenden Sexualität zu Ehe und langfristigen Beziehungen sind etwa auch Zahlen und Erfahrungen zu berücksichtigen, die von gewaltvollen Erfahrungen mit Sexualität gerade innerhalb von festen Partnerschaften sprechen.
Das Thema Solosexualität kommt nur am Rande vor
Während Sexualpraktiken im Zusammenhang mit Pornografie und Sexarbeit in neueren sexualethischen Veröffentlichungen in der Regel ausführlich thematisiert, oft vor allem problematisiert werden, kommt das Thema Solosexualität nur am Rande vor.
Doch liegt in Solosexualität nicht gerade eine besondere Chance, Sexualität als lebensbejahend zu erfahren, ohne dass Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse von Relevanz sind? Und gibt es nicht zugleich auch im Bereich der Solosexualität eine Geschichte der Tabuisierung und der Beschämungskultur innerhalb der Theologie, die es aufzuarbeiten gäbe? Schon das Wort „Onanie“ für die männliche Solosexualität deutet auf eine negative Bewertung von Solosexualität – auch wenn es beim biblischen Onan, der für sein „Vergehen“ getötet wurde, eigentlich um einen Coitus interruptus ging. Mutmaßlich schädliche Auswirkungen der Masturbation wurden lange nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Medizin thematisiert. Demgegenüber wird Solosexualität heute gut belegt als ein möglicher Teil sexueller Gesundheit verstanden.4
In den von mir wahrgenommenen sexualethischen Texten kommt sie jedoch nicht ausführlich als Teil gelingender Sexualität vor. Stattdessen wird Solosexualität oft auf den Kontext von Pornografie reduziert und in diesem Rahmen problematisiert – etwa bei der Frage, ob sich Solosexualität im Zusammenhang mit Pornografie negativ auf Beziehungen auswirkt. Hierdurch wird Scham generiert, mit der es umzugehen gilt. Aber die Thematisierung von Solosexualität als Teil einer gelingenden Sexualität bleibt vielerorts eine Leerstelle.
Angesichts einer langen Geschichte einer (auch theologischen) Verurteilung von Solosexualität scheint es angebracht, einen anderen Blick auf Masturbation als Teil der menschlichen Sexualität auch aus theologischer Perspektive zu gewinnen.
Solosexualität als möglicher Ausdruck der Selbstliebe
Woran könnte es liegen, dass die Solosexualität als gelingender Teil menschlicher Sexualität in der evangelischen Ethik bisher kaum wahrgenommen wird? Es müssen nicht unbedingt die Relikte einer Körperfeindlichkeit sein, die hier zutage treten. Vielmehr ist zu überprüfen, inwiefern die benannte primäre Verortung von Sexualität in der Beziehung einen wichtigen Teil dazu beiträgt, dass Solosexualität keinen gebührenden Platz erhält. Dass das Du das Ich konstituiert, ist nicht nur ein schöner, sondern auch ein kluger Gedanke. Und keinesfalls soll hier die Relevanz von Beziehungen zum anderen verneint werden und auch nicht, dass Sexualität für bestimmte Beziehungen von Bedeutung sein kann. Angesichts einer Geschichte von einer Überordnung der Nächstenliebe über die Selbstliebe5 bleibt jedoch zu fragen, inwiefern Solosexualität als möglicher Ausdruck der Selbstliebe in sexualethische Entwürfe zu integrieren ist. Ebenso kann Solosexualität pragmatisch als eine mögliche Form des Genusses betrachtet werden. Solosexualität als eine Möglichkeit der Sexualität muss dabei keineswegs in Konkurrenz zu Sexualität innerhalb von Beziehungen stehen – genauso wenig, wie ein gutes Selbstverhältnis guten Beziehungen im Weg steht.
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Dr. Megan Arndt, evangelische Theologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Universität Heidelberg und forscht im Rahmen ihres Habilitationsprojekts im Bereich Umweltethik. Weitere Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich feministische Theologie und Diakoniewissenschaft. Im Wintersemester 2023/24 hat sie eine Lehrveranstaltung zum Thema „Sexualethik“ angeboten.
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- Vgl. S. Jäger: Norm und Abweichung. Sexualethische Diskurse im Protestantismus der Gegenwart, in: Rechte des Körpers. Juristische, philosophische und theologische Perspektiven, hg. von C. Berger et al., Berlin/Boston 2022, S. 107–128. https://doi.org/10.1515/9783110784985-008. ↩
- P. Dabrock et al.: Unverschämt – schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah, Gütersloh 2015. ↩
- Vgl. G. Schreiber: Im Dunkel der Sexualität. Sexualität und Gewalt aus sexualethischer Perspektive, Berlin/Boston 2022. ↩
- Vgl. M. Hatzinger et al.: Höhepunkte aus der Geschichte der Onanie. Urologe 51 (2012), S. 1741–1745. https://doi.org/10.1007/s00120-012-2994-3. ↩
- Vgl. Kinga Zeller, Nach dem Fest der Liebe: Selbst- und Weltverhältnis auf dem Prüfstand, feinschwarz.net vom 29.12.2022. ↩