Die AfD pflegt das Selbstbild von der ‚Partei der kleinen Leute‘. Michelle Becka geht diesem falschen Bild nach. Klare Positionierungen sind nötig – aber auch Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit und Veränderungen in der Politik.
Zunehmend deutlich warnen Stimmen aus der deutschen Wirtschaft vor den Folgen einer AfD-geprägten Politik – von der abschreckenden Wirkung auf kommunaler Ebene für ausländische Arbeitskräfte und Investor*innen bis hin zu den weitreichenden Folgen der im aktuellen Wahlprogramm angekündigten Europapolitik: Grundüberzeugungen dieser Politik sind die Ablehnung der EU und des Euros – und eine Stärkung des Nationalstaats, die sich auf alle Bereiche auswirkt. Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erläutert, dass die wirtschaftlichen Verluste durch einen Ausstieg Deutschlands aus der EU noch viel schwerwiegender wären als die Folgen des Brexits. Innerhalb von 10-15 Jahren wäre mit einem Minus von 10% zu rechnen, das wären 400 bis 500 Milliarden Euro Verlust.[1] Die Folgen davon wären spürbar – auch und v.a. für Arbeitnehmer*innen. Auch der Austritt aus dem Euroraum oder andere Formen nationaler Alleingänge würden dem Wirtschaftsstandort Deutschland schaden – von den Folgen für sozialen Zusammenhalt, Stabilität und Frieden in Europa, Klimapolitik oder für verschiedene Personengruppen, v.a. Asylsuchende, ganz zu schweigen.
Die Partei würde ihren eigenen Wähler*innen schaden.
Gleichzeitig generiert sich die AfD als „Partei der kleinen Leute“, und Studien zeigen, dass sie bei Arbeitnehmer*innen (mehr bei Männern als bei Frauen) besonders populär ist. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), spricht vom „AfD-Paradoxon“. Danach würde die Partei, käme sie an die Macht, ihren eigenen Wählerinnen und Wählern am meisten schaden. „Die Widersprüche zwischen den Interessen der AfD-Wähler*innen und den Positionen der AfD könnten kaum größer sein. Steuersenkungen für die Spitzenverdiener*innen, niedrigere Löhne für Geringverdiener*innen und eine Beschneidung der Sozialsysteme würden AfD-Wähler*innen viel stärker negativ treffen als die Wähler*innen der meisten anderen Parteien […]“[2]
keine Lösungen
Auch die Gewerkschaften entkräften das Narrativ von der „Partei der kleinen Leute“: „Ob Lohnsteigerungen, Tarifbindung, soziale Sicherheit oder Arbeitnehmer*innenrechte – die AfD bietet keine Lösungen an. Im Gegenteil, sie vertritt in arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Belangen eine neoliberale Politik. Die Folge: Weniger Fairness auf dem Arbeitsmarkt und weniger soziale Absicherung für Beschäftigte.“[3] Folgerichtig distanziert sich der DGB explizit von der AfD. Eine wichtige Positionierung!
Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, inwiefern einzelne Gewerkschaftsmitglieder mit den Positionen der AfD sympathisieren, sie wählen oder gar Parteimitglied sind. Vor Ort stellen sich daher große Herausforderungen – in Betrieben, in Gewerkschaften, aber auch in katholischen und evangelischen Kirchengemeinden, in der Betriebsseelsorge und in der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB).
Selbstbewusstsein der Kath. Arbeitnehmerbewegung
Klare Positionierungen stärken Verantwortliche vor Ort den Rücken und geben Argumentationshilfe. Das gilt für die Gewerkschaften ebenso wie für die KAB, die sich vor der Europawahl eindeutig zu einem Europa und zu einer Stärkung seiner sozialen Dimension bekennt und sich gegen Nationalismus positioniert.[4] Diese Position und das Selbstbewusstsein des katholischen Verbands werden dadurch gestärkt, dass er sich auf die Erklärung der Bischofskonferenz vom 22. Februar berufen kann, die unmissverständlich völkischen Nationalismus und Christentum für unvereinbar erklärt: „Rechtsextreme Parteien und solche, die am Rande dieser Ideologie wuchern, können für Christinnen und Christen daher kein Ort ihrer politischen Betätigung sein und sind auch nicht wählbar. Die Verbreitung rechtsextremer Parolen – dazu gehören insbesondere Rassismus und Antisemitismus – ist überdies mit einem haupt- oder ehrenamtlichen Dienst in der Kirche unvereinbar.“[5]
Diese klare Positionierung ist von großer Bedeutung. Und sie erleichtert, wo es nötig ist, den Ausschluss von bestimmten Ämtern. Das widerspricht nicht den Aufgaben, zugleich Menschen von der Falschheit und Gefährlichkeit von AfD-Positionen zu überzeugen, die darin wurzeln, dass sie Grundnormen des Zusammenlebens, wie die Würde und Freiheit aller Menschen, in Frage stellen, oder die Bedenken jener zu diskutieren, die Angst haben, Verlierer*innen von Globalisierung und Strukturwandel zu sein.
Politische Aufklärungsarbeit
Die Erklärungsversuche für den Aufstieg der AfD sind vielfältig. Die einen betonen sozio-ökonomische Faktoren, insbesondere Verteilungsfragen, andere sehen fehlende Repräsentation und Transformationsängste als zentrale Ursachen. Wieder andere gewichten kulturelle Faktoren stärker, von Identitätsängsten bis hin zu autoritärer Gesinnung. Verschiedene Dimensionen greifen ineinander und sind im Einzelfall schwer zu bestimmen. Ein oft seltsam diffuses Unrechtsempfinden, das Arbeitnehmer*innen (und andere) motiviert, rechtspopulistische und -extremistische Parteien zu wählen, muss angesprochen werden. „Die Gewerkschaften sind inzwischen fast die einzigen Organisationen der demokratischen Zivilgesellschaft, die diese sozialen Gruppen mit Argumenten noch erreichen können.“[6] Verbände wie die KAB wären zu ergänzen. Sie leisten wichtige politische Aufklärungsarbeit.
In Verteilungsfragen Vermögende in den Blick nehmen.
Daneben müssen in mühsamer Kleinarbeit die falschen Behauptungen, Halbwahrheiten und leeren Versprechungen des AfD-Europawahlprogramms entlarvt werden. Das können Gewerkschaften und Verbände allein nicht leisten. Es bedarf der Unterstützung aus der Wissenschaft (es gibt bereits viele gute und zugängliche Materialien) und durch jede*n Einzelne*n. Vor allem aber braucht es Veränderungen im öffentlichen Diskurs, damit vereinfachende Polarisierungen aufgebrochen und etwa das Narrativ von der Migration als Mutter aller Probleme in Frage gestellt werden. Und es braucht eine Politik, die ernsthaft soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht, indem sie konkret Fragen von Arbeitsbedingungen, Mitsprache und Anerkennung angeht. Sie sollte zudem grundsätzlich in Verteilungsfragen nicht nur Bürgergeldempfänger*innen und Geringverdiener*innen in den Blick nehmen, sondern auch Vermögende. Das alles ist schwierig, aber dringend notwendig.
Michelle Becka ist seit 2016 Professorin für Christliche Sozialethik an der Universität Würzburg und arbeitet zu verschiedenen Themen im Bereich der Politischen Ethik. Sie ist Vorsitzende der AG Christliche Sozialethik und Mitglied der Deutschen Kommission Justitia et Pax.
Foto: Ümit Yildirim / unsplash.com
[1] Vgl. Groß, Simon/Preuß, Roland, Wirtschaftspolitik der AfD. Der Preis der Abschottung, Süddeutsche Zeitung vom 28.01.2024, URL vom 27.04.2024: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/wirtschaft/afd-wirtschaftspolitik-sozialpolitik-oekonomen-einschaetzung-e224429/
[2]Fratzscher, Marcel, Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen, in: DIW aktuell, 12/2023, URL vom 27.04.2024: https://www.diw.de/de/diw_01.c.879742.de/publikationen/diw_aktuell/2023_0088/das_afd-paradox__die_hauptleidtragenden_der_afd-politik_waeren_ihre_eigenen_waehler_innen.html
[3] DGB, AfD – Der Feind der Beschäftigten, in: Politik und Gesellschaft vom 16.02.2024, URL vom 27.04.2024: https://www.dgb.de/themen/++co++2ea31976-baa8-11ee-bea4-001a4a160123.
[4] Vgl. etwa die Kampagne zur Europawahl, URL vom 24.04.2024: https://www.kab.de/bewegung/europa-gespraeche#c40099.
[5] Deutsche Bischofskonferenz, Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar, Erklärung vom 22.02.2024, URL vom 24.04.2024: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2024/2024-023a-Anlage1-Pressebericht-Erklaerung-der-deutschen-Bischoefe.pdf
[6] Dörre, Klaus, zitiert nach: Kailitz, Susanne, Pegida, AfD und Co. Vertrauenskrise, in: Hanns-Böckler-Stiftung, Magazin 09/2016, URL vom 27.04.2024: https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-pegida-afd-und-co-eine-vertrauenskrise-6087.htm