Erfahrung von Unsicherheit, Gefahr und Orientierungslosigkeit wird in kirchlichen Kreisen gerne in die biblische Metapher der Bootsfahrt gekleidet. Dies trifft derzeit auch auf die Situation des konfessionellen Religionsunterrichts (RU) zu, dem – mal wieder – ein scharfer Gegenwind bei entsprechendem Wellengang entgegenschlägt.Von Paul Platzbecker
Unzeitgemäß, privilegiert, bevormundend, unaufgeklärt – diese keineswegs neuen Infragestellungen entfalten angesichts des rasanten religionsdemographischen Wandels eine neue Wirkung. Ausgerechnet das einzige Schulfach mit Verfassungsgarantie gerät immer mehr unter öffentlichen Plausibilisierungsdruck. Begründung, Relevanz und Zuschnitt des einzigen Faches mit Bekenntnischarakter werden in Frage gestellt. Auch auf Seiten der politischen Stakeholder schwindet mitunter das gemeinsame legitimierende Verständnis, das die res mixta bisher getragen hat. Der äußeren Bedrängnis entspricht intern die Unsicherheit, was angesichts zunehmender Pluralität, Heterogenität und Dekonfessionalisierung im Klassenzimmer die jeweils beste konzeptionelle und kontextuelle Passung sein soll.
Um eine weitere Metapher zu bemühen: Das ‚Karussell‘ der verschiedensten Modelle dreht sich bundesweit immer schneller. Auch dies kann – wie bei einer Schifffahrt auf rauer See – ein Gefühl des Schwindels und der Orientierungslosigkeit verursachen. Was dies bei der Crew wie bei den Passagieren auslöst, muss hier offenbleiben. Die Frage sei gestattet: Wäre Vergleichbares in schulischen Hauptfächern wie Mathematik oder Deutsch denkbar?
Entscheidung der Kirchen für konfessionell kooperativen Religionsunterricht.
Im bevölkerungsreichsten Bundesland werden derzeit ca. 772.000 katholische Schüler:innen (= ca. 31,3% aller NRW-SuS*) von insgesamt ca. 21.000 katholischen Religionslehrkräften unterrichtet. Die Abmeldequote vom katholischen RU liegt laut amtlicher NRW-Statistik für das Schuljahr 2022/23 derzeit bei 1,8%. So unbeliebt und irrelevant kann das Fach also nicht sein.
Da die Entwicklung zur Religionspluralität wie -distanz auch an NRW nicht vorbeigeht – lediglich ihre regionale Disparität ist ausgeprägter – haben sich die Verantwortlichen in den katholischen Diözesen sowie den evangelischen Landeskirchen im Einvernehmen mit den staatlichen Partnern dazu entschieden, den bisherigen konfessionellen RU ab dem Schuljahr 2018/19 auch in ‚kooperativer‘ Variante (kokoRU) einzuführen. Nach knapp fünf Jahren haben trotz pandemischen Einbruchs mehr als 750 Schulen im Primar- und Sek I-Bereich den Antrag auf Einführung gestellt; für 2024 wird das Überschreiten der 1000er Grenze erwartet!
Der kokoRU kann in NRW nur an Schulen eingeführt werden, an denen RU beider Konfessionen – erteilt von entsprechenden Religionslehrkräften mit der jeweiligen kirchlichen Bevollmächtigung – stattfindet. Die Stabilität und Kontinuität der Versorgung mit Fachlehrkräften ist also wichtig, so dass der kokoRU hier keineswegs als Sparmodell zur Entlastung personell unterversorgter Schulen missverstanden werden kann. Dies ist gegenüber den staatlichen Verwaltungsbehörden wie theologisch-religionspädagogischen Ausbildungsstätten angesichts nicht weniger Missverständnisse und entsprechender Ängste zu betonen.
KokoRU auf dem Prüfstand.
Da sich der kokoRU von Anfang an nicht nur als Antwort auf schulorganisatorische Schwierigkeiten, sondern als Beitrag zur Qualitätssicherung in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Grauzonen im Klassenzimmer versteht, ist es folgerichtig, wenn er selbst einer gründlichen wissenschaftlichen Evaluation unterzogen wird. Dies haben Ulrich Riegel und Mirjam Zimmermann von der Universität Siegen in konfessioneller Parität übernommen, indem sie ab 2018 in gleich vier verschiedenen Perspektiven die sich allmählich etablierende neue Organisationsform des konfessionellen RU erforscht haben. Inzwischen liegen die Ergebnisse vor und werden ggf. zur (Nach-)Steuerung des Implementationsprozesses herangezogen.1
Erfreulich ist die hohe Akzeptanz des kokoRU: 80% der befragten Schulleitungen (N=228) befürworten ihn vor allem aus pädagogischen wie kollegialen Motiven. Von den Lehrkräften, die ihn erteilen (N= 406), wollen ihn 83,4% beibehalten, lediglich 16,6% wünschen eine Rückkehr zum alten Modell. 70% von ihnen bezeichnen den eigenen, faktisch erteilten kokoRU als (sehr) gut. Unterstützung erhält die neue Organisationsform auch von den SuS* (N=13405 / 1964), von denen insgesamt 81% ihn als ‚safe space‘ erleben, in dem man ‚ehrlich zueinander‘ ist und es daher leichtfällt, vom ‚eigenen Glauben zu erzählen‘. Auch die Mehrheit der Eltern goutiert ihn (7,9% sehr gut, 47,6% gut), nur 5% lehnen ihn ab. Positiv heben sie hervor, dass ihre Kinder hier vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen kennenlernen, aber auch die Möglichkeit haben, ihren eigenen Standpunkt zu entwickeln. Generell wird die Aufmerksamkeit für Konfessionalität also gestärkt. Ein neutraler, religionskundlicher RU oder das gänzliche Streichen des RU aus dem schulischen Fächerkanon wird von allen befragten Gruppen mit großer Mehrheit abgelehnt.
NRW-Spezifikum Lehrkraftwechsel.
Ankerpunkt der NRW-Variante des kokoRU ist der verpflichtende Lehrkraftwechsel. Er gewährleistet, dass die SuS* im Laufe des Unterrichts innerhalb eines Doppeljahrgangs je nach Unterrichtsthematik beide konfessionellen Perspektiven authentisch kennenlernen und sich damit kritisch auseinandersetzen können. Darauf haben sich alle Verantwortlichen – auch die inzwischen fünf katholischen Bischöfe – in ihren wechselseitigen Vereinbarungen geeinigt. Obligatorische Fortbildungen bereiten die Lehrkräfte darauf vor.
So wird die viel diskutierte transparente Positionalität stets personal gedacht, was impliziert, dass sie durch andere flankierende Unterrichtsmaßnahmen (Materialien, didaktische Arrangements etc.) nicht hinreichend ersetzt werden kann. Mit anderen Worten nur die sich konfessorisch verstehende Lehrkraft kann aus ihrer konfessionellen (Ersten-Person-) Innensicht authentisch spezifische Profile und damit auch entsprechende Unterschiede abbilden. Dies schließt eine exemplarische Positionalität, wie sie möglicherweise im niedersächsischen Christlichen RU praktiziert werden wird, aus. Das NRW-Konzept geht von zwei Bedingungen aus: Es müssen ausreichend Lehrkräfte beider Konfessionen vorhanden sein und der obligatorische Lehrkraftwechsel muss tatsächlich praktiziert werden. Noch scheint die personale Ausstattung in NRW weitgehend gewährleistet zu sein. Den Erlass gemäßen, obligatorischen Wechsel bestätigen 80% der Lehrkräfte, aber 94% der dafür verantwortlichen Schulleitungen.
Ankerpunkt transparente Positionalität.
Die konfessionelle Positionalität, die vielerorts unter Erosion leidet, erfährt in der NRW- Evaluation bei allen vier Befragungsgruppen eine überraschende Unterstützung. Wenn die Lehrkraft im RU sagt, dass sie an Gott glaubt (a) und von entsprechenden Erfahrungen spricht (b), so unterstützen dies 84% (a) bzw. 71% (b) der Schulleitungen(!), 63% (1) der SuS* und noch 67% (a) bzw. 70% der Eltern. Die höchste Zustimmung äußern schließlich die Religionslehrenden selber mit 91% (a) bzw. 78%. Trotz nachvollziehbarer Schwierigkeiten bei der jeweiligen kirchlichen Identifikation auf Seiten der Lehrkraft möchte doch nur knapp ein Drittel aller Befragten, dass diese gegenüber der Kirche kritisch ist. Am deutlichsten ist diese Erwartung bei den SuS* ausgeprägt (nur 22%).
Das sind an diesem neuralgischen Punkt ermutigende Ergebnisse! Ein konfessionell-positioneller RU verbindet die existentielle mit der diskursiven Dimension von Religion. Das Offenlegen des transparenten Diskurstandpunktes entspricht aber dem Interesse einer demokratischen Gesellschaft an zivilisierter Religion (D. Benner). Das sollte der öffentlichen Legitimation des RU besonders aktuell (!) dienlich sein. Anschlüsse an die Diskussion um den Beutelsbacher Konsens bzw. den Koblenzer Konsent sind an dieser Stelle angeraten.
Ahoi zu neuem Horizont.
Gleichzeitig ist eine so gedachte transparente Positionalität Ankerpunkt für die durch die religionsdemographischen Herausforderungen notwendig werdende Weiterentwicklung des RU, die in den von den NRW-(Erz-)Bistümern und den evangelischen Landeskirchen 2022 erarbeiteten Sechs Thesen für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht eine konsensual verfasste Grundorientierung fanden – ein Novum in der hiesigen Kirchengeschichte. Pate stand dabei das 2016 von der Arbeitsgemeinschaft katholische Religionspädagogik und Katechetik (AKRK) vorgelegte Positionspapier Damit der Religionsunterricht in Deutschland zukunftsfähig bleibt. Die Thesen, die sogar Eingang in den Koalitionsvertrag der aktuellen schwarz-grünen NRW-Regierung gefunden haben, regen dazu an, die weitere Entwicklung des RU mit der Möglichkeit eines integrierten interreligiösen Lernens – in Abgrenzung zum CRU sowie dem RUfa 2.0 – kontrovers zu erörtern!
Dass diese vor allem von den evaluierten Eltern und Schulleitungen gewünschten nächsten Schritte noch anspruchsvoller sein werden als die bisherige Entwicklung zum kokoRU, dürfte auf der Hand liegen. Schon jetzt konnten die höheren Anforderungen, die die konfessionelle Kooperation an alle drei Phasen der Lehrkräftebildung stellt, trotz aller Beteuerungen kaum eingelöst werden. Die Evaluation zeigt dennoch, dass der kokoRU in NRW auf einem guten Weg ist, wenn er auch weder Notnagel noch Allheilmittel sein kann. Sein aktueller Mehrwert besteht vielmehr darin, dass er zum einen eine realistische Antwort auf die faktische Vielgestaltigkeit des Christentums darstellt und zum anderen hilft, eine wesentliche Schlüsselkompetenz unserer Zeit, die kritische Differenzkompetenz, anzubahnen und zu vertiefen. Mit anderen Worten als didaktisch profiliertes Erprobungsfeld für differenzsensibles Lernen stellt er möglicherweise eine Zwischenstation dar auf dem Weg zu einem noch pluralitätsfähigeren und zugleich positionellen RU, der sich noch stärker interreligiösen Fragestellungen öffnet und sich zudem mit säkularen Perspektiven in der Fächergruppe Praktische Philosophie etc. vernetzt.
Der kokoRU in NRW könnte also richtungsweisender Ausgangspunkt einer auch politisch unterstützten weitergehenden Öffnung sein, um auf der Basis der eigenen konfessionellen Position dialogbereit und -kompetent vom christlichen Binnengewässer auf die religiösen Weltmeere zu segeln (E. Naurath). Hoffen wir, dass die bisher erworbenen nautischen Fähigkeiten dazu ausreichen und keine weiteren Schwindelgefühle ausgelöst werden. Die Positionalität und Differenzsensibilität der Lehrkräfte gilt es vor allem zu stärken. Denn auf sie kommt es an – gerade auf einem schwankenden Schiff.
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Bild: Institut für Lehrerfortbildung, Essen.
Prof. Dr. theol. habil. Paul Platzbecker, Leitung des Instituts für Lehrerfortbildung (IfL), Essen / Ruhruniversität Bochum.
- Vgl. Riegel, Ulrich; Zimmermann, Mirjam. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen. Stuttgart, 2022. ↩